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Kauft seine Taktstöcke am liebsten bei Yamaha in Tokio: Dirigent Christoph Eschenbach.

© dpa/Henning Bagger

Interview mit dem Dirigenten Christoph Eschenbach: „Mir hat die Musik das Leben gerettet“

Er will seine Musiker nicht treten, sondern inspirieren. Christoph Eschenbach über den Rausch eines Konzerts und sein erstes Wort nach dem Krieg.

Herr Eschenbach, Sie übernehmen nun mit 79 Jahren das Konzerthausorchester. Als junger Pianist schauten Sie Herbert von Karajan und George Szell beim Proben zu, um das Dirigieren zu lernen. Haben Sie die Maestri am Anfang nachgemacht?

Nein, ich habe gelernt, wie man probt, ohne viele Worte zu verlieren. Als Karajan 1967 das Cleveland Orchestra dirigierte, sagte er als Erstes: „Schlagen Sie die Noten auf, Ziffer 72.“ Die Musiker hielten ihn wahrscheinlich für verrückt. Prokofjews 5. Symphonie, langsamer Satz, Reprise des Hauptthemas, Pianissimo in den Geigen und Celli. Karajan: „Spielen Sie nur den ersten Ton, wie eine Fermate. Leise, leise.“ Aufstrich, Abstrich, unisono, das ging so ein paar Minuten. Dann sagte Karajan: „Jetzt haben Sie Ihren Ton gefunden.“

Eine Art Meditationsübung?

Es war ein unglaublicher Klang. So hatte sich das Orchester noch nie gehört. Man muss wissen, dass Prokofjews Fünfte auch ein Leib- und Magenstück von George Szell war, dem Chefdirigenten.

Gab es einen Diven-Krieg zwischen den beiden?

Sie sind immer vorsichtig miteinander umgegangen. Als wir das Konzert zwei Wochen später in Luzern wiederholten, hielt Karajan eine Eloge auf die Perfektion und Hingabe der Musiker. Darauf Szell nur lapidar: „War ein Vierteljahrhundert Arbeit.“

Mit Szell haben Sie als Pianist dann die gesamte Klavierkonzert-Literatur einstudiert, alle Beethoven-Klavierkonzerte, das meiste von Mozart …

… auch Schumann, Brahms, Bartók. Er kam in Salzburg ins Künstlerzimmer und fragte, ob ich nicht mein amerikanisches Debüt mit dem Cleveland Orchestra geben wolle. Ich war sehr geschmeichelt. „Dann sehen wir uns morgen um zehn Uhr in meinem Hotel.“ Ich war überpünktlich und wartete in der Lobby. Er kam zu spät, aber schimpfte, dass ich zu spät sei. Er konnte sehr mürrisch sein.

George Szell hatte den Ruf eines Tyrannen.

Er sorgte gern für Wechselbäder. Als wir die Treppe raufgingen, meinte er, er habe meine Aufnahme mit Mozart-Sonaten gehört. Prompt fühlte ich mich geehrt und hatte mich wieder getäuscht. „Gar nicht gut! Nicht genug phrasiert, keine Klangvorstellung, zu schnelle Tempi!“ So fing das Gespräch an, aus dem dann ein zweijähriges Arbeitspensum wurde. Wenn Szell die Wiener oder Berliner Philharmoniker dirigierte oder auf Europa-Tournee war, kam ich hin, und er nahm sich Zeit. Manchmal sechs, sieben Stunden.

Sie spielten die Solostimme, er den Orchesterpart?

In Wien hatte er bei Steinway zwei Flügel reserviert. Ich war schon früh da, morgens um halb neun, um noch etwas zu üben, und meldete mich wie vereinbart bei einer alten Dame. „Ja, Maestro Szell hat sie angemeldet“, meinte sie, „er war gestern schon hier und hat ein paar Stunden gespielt.“ Er hatte sich auf mich vorbereitet! Das war dann wieder sehr schmeichelhaft. Zu den Orchestermusikern war er allerdings nicht besonders nett, er konnte wirklich ein Diktator sein.

Auch Karajan galt als Autokrat.

Ich habe ihn anders erlebt, er blieb immer freundlich. Er war eine Autorität, legte sich aber nie mit den Orchestermusikern an. In Bruckners 4. Symphonie, bei der Reprise im ersten Satz, gibt es diese wunderbare Flötenumspielung von Karlheinz Zöller, dem Soloflötisten der Berliner Philharmoniker – ganz besonders schön, und Karajan ließ ihm alle Freiheiten. Ein Dirigent muss zuhören können.

Ihr Vater kam als Regimekritiker in einem NS-Strafbataillon ums Leben. Karajan stand auf der anderen Seite, er trat gleich zweimal in die NSDAP ein. Haben Sie mit Karajan je darüber gesprochen?

Der Nationalsozialismus war in den 50ern und auch noch in den 60er Jahren ein Tabuthema. Ich wusste irgendwann, dass Karajan nur Generalmusikdirektor in Aachen wurde, weil er das Parteibuch hatte, aber das war alles. Auf solche Fragen hätte er nichts gesagt.

Haben Sie denn Gustaf Gründgens danach gefragt, der in der NS-Zeit Intendant im Schauspielhaus war, dem heutigen Konzerthaus, in dem Sie jetzt Chefdirigent werden? Ihn kannten Sie ebenfalls.

Wie gesagt, man sprach nicht darüber. Auch ich hatte meine schrecklichen Kindheitserlebnisse erst mal beiseiteschieben müssen. Gründgens erzählte mir jedoch, wie er bedrohten Schauspielern half, Paul Bildt zum Beispiel, der mit einer Jüdin verheiratet war. Gründgens war nicht nur der Protegé von Hermann Göring, ich hatte ein differenzierteres Bild von ihm. Ich kannte ihn aus Hamburg, er leitete dort später das Deutsche Schauspielhaus, und ich war theaterbesessen.

Können Sie sich noch an Ihren Vater erinnern, der Musikwissenschaftler und Chordirigent war? Er starb, als Sie drei oder vier Jahre alt waren.

Meine Mutter war bei meiner Geburt gestorben, ich wuchs bei meiner Großmutter auf. Mein Vater kam nur selten zu Besuch. Er hatte sich ja mit den Nazis angelegt und war von Breslau nach Posen versetzt worden, bevor er ins Strafbataillon musste. In Posen arbeitete er an einer Ausgabe des Glogauer Liederbuchs aus dem Mittelalter, gemeinsam mit seiner ersten Frau, einer Jüdin. Die beiden liebten sich sehr, nach dem Tod meiner Mutter verbrachten sie wieder viel Zeit miteinander. Er kam dennoch, um mich zu sehen. Aber es war gefährlich, wegen der Nazis, also tat er es heimlich, verkleidet, mit angeklebtem Bart.

Sie sind trotzdem mit Musik aufgewachsen?

Anfangs nicht. Vor meiner Mutter, die ja Pianistin war, hatte meine Großmutter bereits ihren Sohn verloren, der sehr schön Geige gespielt haben soll. Er ertrank in der Oder. Meine Großmutter wollte nie mehr Musik hören.

Sie fiel im Flüchtlingslager in Mecklenburg, im eiskalten Winter 1945, dem Typhus zum Opfer. Sie überlebten nur knapp. Wie erinnert man sich an etwas so Traumatisches?

Ich habe die Bilder noch heute vor mir und in mir. Wie wir bettelten, weil es nichts zu essen gab. Wie meine Großmutter ins Massengrab geworfen wird. Kurz vor ihrem Tod hatte sie an die Cousine meiner Mutter eine Postkarte geschickt, weshalb die Cousine mich wirklich erst im letzten Moment aus dem Lager holte. Mein Leben hing an einem seidenen Faden. Ich war dann sprachlos, vollkommen zu, lag monatelang krank im Bett. Aber meine zweite Mutter ließ die Schiebetür offen und spielte jeden Abend Klavier. Bach, Mozart, Beethoven, Chopin, Rachmaninow. Als sie mich irgendwann fragte, ob ich auch Klavier spielen will, sagte ich „Ja“. Das war mein erstes Wort nach dem Krieg.

Klingt ein bisschen nach Familienlegende.

Etwas pathetisch, aber es war so. Sie war eine gute Lehrerin, denn sie hat etwas nicht kaputtgemacht in mir, diese aufkeimende Liebe zur Musik. Wir lebten dann in Wismar, und sie unterrichtete viele Kinder, auch die der russischen Besatzer. Einer der Russen besorgte mir ein Kinderbett, und ich bekam Piroggen aus der Offiziersküche. Es waren die schönen Jahre meiner Kindheit. Deshalb reagiere ich allergisch, wenn heute von Flüchtlingskrise die Rede ist und die Grenzen geschlossen werden sollen. Mir hat die Musik das Leben gerettet, diese offene Schiebetür und dass meine zweite Mutter nicht sagte, du musst jetzt schlafen.

„Wagners ,Meistersinger' dirigiere ich nicht“

"Es gibt einen Urgrund des kollektiven Wissens, ein Kulturgut, das wir alle teilen, ungeachtet von Nationalität oder Religion", sagt Eschenbach.
"Es gibt einen Urgrund des kollektiven Wissens, ein Kulturgut, das wir alle teilen, ungeachtet von Nationalität oder Religion", sagt Eschenbach.

© Jonas Holthaus

In Ihrer Pariser Wohnung steht noch heute der Bechstein-Flügel von ihr …

… auf dem ich als Kind dann meine ersten Töne spielte. Ich hatte ihn schon in Houston, als ich ab 1988 dort Chefdirigent war. Der Flügel ist weit gereist, er hat zwei Weltkriege überlebt. In seinem Bauch steht: „Bechstein. Hoflieferant des Kaisers und Königs und von Queen Victoria“. Er ist Baujahr 1893 und einen Viertelton tiefer gestimmt als heutige Klaviere. Anders geht es nicht, sonst reißt der Resonanzboden wieder. Bach klingt nicht so gut darauf, aber manchmal spiele ich Schumann oder Chopin, herrlich. Er hat mich immer begleitet, und so wird es bleiben. Ich lasse ihn nicht allein.

Was ist aus Ihrer Pflegemutter geworden?

Wir lebten später in Aachen, machten viel Kammermusik. Mein Adoptivvater war Flugzeugbauer, er spielte Geige und Bratsche. Der Friseur spielte Cello, der Zahnarzt die zweite Geige, ich selber Geige und Bratsche. Ich mochte die Mittelstimmen, dieses Mittendrin-Sein in der Musik. Mit elf hatte ich Wilhelm Furtwängler mit den Berliner Philharmonikern in der Kieler Ostseehalle erlebt, ich wollte sofort Dirigent werden. Aber meine Mutter sagte, dann müsse ich erst mal ein Orchesterinstrument lernen. Deshalb die Geige. Sie war eine großartige Frau. Sie wurde 90 Jahre alt und hat bis ins hohe Alter Kinder unterrichtet.

Sind Sie deshalb später ebenfalls Mentor für junge Musiker geworden?

Es ist doch unsere Pflicht, etwas weiterzugeben. Beim Ravinia Festival in Illinois wurde mir einmal ein Zettel zugesteckt, ein gewisser Lang Lang wolle mir vorspielen. Da kam dieser 17-Jährige mit seinem Vater, Lang Lang studierte schon in Philadelphia. Er hatte eine lange Repertoire-Liste dabei, aber ich bat ihn nicht um Rachmaninow, sondern um Haydn.

Weil das Einfache das Schwerste ist?

Er spielte es exquisit. Ich war perfide genug, ihn auch noch um ein Brahms-Intermezzo zu bitten. Dafür braucht man Lebenserfahrung. Und dann entwickelte dieser Junge aus der chinesischen Provinz eine emotionale Tiefe, eine Aussage zu Brahms, wie ich sie nicht für möglich gehalten hätte. Ich glaube, C. G. Jung hat recht, wenn er vom kollektiven Unbewussten spricht. Egal welcher Nationalität, Hautfarbe oder Religion wir auch sind, es gibt einen Urgrund des kollektiven Wissens, ein Kulturgut, das wir alle teilen.

Ihnen genügte die Pianistenkarriere irgendwann nicht mehr. Wegen des Furtwängler-Erlebnisses?

Als Pianist reist man um die Welt, es ist ein attraktives, aber einsames Leben. Man kommt mit dem Zug, dem Flugzeug oder dem Bus in irgendeine Stadt, steigt in einem Hotel ab, kennt keinen, geht in den Konzertsaal, und auf der Bühne steht da dieses Riesending, 2,60 Meter lang. Mit dem ist man wieder allein, aber man soll für alle ein Hochgefühl herstellen. Das fiel mir immer schwerer. Ich bin dann viel gemeinsam mit Justus Frantz aufgetreten. Als ich immer mehr dirigierte, fehlte mir irgendwann die Zeit, beides zu tun.

Wie kam eigentlich die legendäre Plattenaufnahme mit Justus Frantz, Gerhard Oppitz, Helmut Schmidt und Ihnen zustande? Haben Sie sich gesagt: Machen wir mal ’ne Platte mit dem Kanzler?

Das ist jetzt O-Ton Justus Frantz, er kannte Schmidt. Wir trafen uns im Kanzleramt. Schmidt zögerte, aber wir überredeten ihn, und er übte seinen Part im Bach- und im Mozart-Konzert. Eines schönen Tages flogen wir in der Kanzlermaschine nach London und wurden mit Blaulicht zu den Abbey Road Studios gefahren. Im Regieraum wartete Kaviar auf uns, aber Schmidt wollte Fish and Chips. Er mochte das, seit er in Liverpool studiert hatte.

Nahmen Sie Rücksicht auf den Laienmusiker?

Dafür fehlte die Zeit. Der Kanzler musste ja regieren und am Abend nach Bonn zurück.

Sie haben einmal gesagt: „Jeder Politiker und jeder Terrorist sollte eine Stunde Bach hören, dann sähe die Welt etwas anders aus.“ Was macht Sie so optimistisch, an die Macht der Musik zu glauben?

Sie hören ja gerade nicht jeden Tag Bach. Ich weiß nicht, ob ich da optimistisch bin. Kürzlich las ich, dass Stalin die Pianistin Maria Yudina gebeten hatte, Mozarts A-Dur-Klavierkonzert KV 488 für ihn aufzunehmen. Dieses wunderbare, zarte Adagio, das hat er immer gehört. Stalin!

Wenn man es weiß, ändert das etwas an der Musik?

Man muss es trennen, aber es ist oft schwer. Wagners „Meistersinger“ dirigiere ich nicht – wegen des Nationalismus und Antisemitismus, und, ganz banal: Für eine Komödie ist die Oper einfach zu lang. Den „Ring“ kann ich trennen von Wagners Person.

Im Frühjahr gab es nach Beschwerden über Daniel Barenboim eine Debatte über den Führungsstil von Dirigenten. Wie gehen Sie mit dem unvermeidlich autoritären Anteil Ihrer Arbeit um?

Musiker merken sehr genau, in welche Richtung es gehen soll. Wenn sie den Dirigenten mögen, wenn sie Respekt vor seiner Lesart der Partitur haben, folgen sie gerne. Orchestermusiker haben einen extrem komplizierten, anstrengenden Beruf. Es geht nicht anders, als kollegial mit ihnen zu arbeiten. Ein Orchester ist ein Instrument, aber mit lebendigen Menschen. Nicht eins, auf dem, sondern mit dem ich Musik mache. Das verlangt Sensibilität. Ich darf die Musiker nicht treten oder manipulieren, ich möchte sie stimulieren.

Sie machen das mit dem Taktstock. Ein Fetisch?

Es ist ein Werkzeug. Wenn Sie Mahlers Achte mit über 400 Mitwirkenden dirigieren, brauchen Sie einen verlängerten Zeigefinger. Ein paar Sachen müssen halt stimmen, das Gewicht, die Länge, die Handlichkeit des Korks. Ich kaufe meine Stöcke gerne bei Yamaha in Tokio, im Dutzend. Weil ich keine besondere Schatulle habe, gehen sie im Gepäck schon mal kaputt.

Und was geht Ihnen beim Konzert durch den Kopf? Sind Sie in Trance, wie auf einem Trip?

Das klingt mir zu sehr nach Droge. Aber es ist ein Hochgefühl über zwei Stunden, für alle Musiker auf dem Podium. Dieses Gefühl soll auf das Publikum überspringen. Ein japanisches Sprichwort sagt: Jeder Tag ist der Tag. So ist es auch beim Musizieren: Jedes Konzert ist das Konzert.

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