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Ilona Hartmann, 30, veröffentlicht in diesen Tagen  ihren Debütroman "Land in Sicht".

© Doris Spiekermann-Klaas

Interview mit Autorin Ilona Hartmann: „Ich war eine stabile Pessimistin“

Auf Twitter ein Zirkuspony, auf Instagram ein Boss: Autorin Ilona Hartmann über schwäbischen Grant, strukturelle Benachteiligung von Frauen und eine E-Mail an ihren Vater.

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Frau Hartmann, gerade haben Sie Ihren Debütroman veröffentlicht. Bekannt geworden sind Sie zuvor mit pointierten Kurzbeobachtungen auf Twitter. Eine Plattform, die viele Menschen derzeit als besonders hitzig empfinden. Warum sind Sie noch dort?
Das hat mit Freude an Sprache angefangen. Ich habe mich 2012 angemeldet, da waren es wenige User, die Bubble war ziemlich klein. Zuerst haben ein paar Leute Pointen getwittert, dann wurde es schnell politisch. Meine sprachliche Sensibilisierung und Politisierung habe ich dort quasi nebenbei mitgenommen. Beispielsweise schreiben da Leute „CN Food“ über Tweets ...

... das steht für Content Note, ein Signal auf möglicherweise sensiblen Inhalt ...
... also eine Triggerwarnung, um Menschen mit Essstörungen vor dem Weiterlesen darauf hinzuweisen. Auf Twitter wurde auch viel früher als in klassischen Medien gegendert. Das Sternchen ist dort schon lange völlig selbstverständlich.

Ihr Twitter-Name @zirkuspony spiegelt diese Entwicklung nicht gerade wider.
Ich habe lange damit gehadert, ob ich mich mit einem seriösen Handle etablieren muss. Aber solange es @almhuette43 gibt, einen Journalisten aus Ihrem Haus ...

... so nennt sich dort der Berater unserer Chefredaktion: Gerd Appenzeller ...
... kann ich auch Zirkuspony heißen. Der Name ist mir unangenehm niedlich mittlerweile. Ich hoffe, niemand nimmt ihn semantisch auseinander, sondern akzeptiert, dass ich mir vor acht Jahren etwas Mittelgeiles ausgedacht habe.

Für Instagram haben Sie sich ein anderes Pseudonym zugelegt: Stabilo Boss.
Was für ein geiler Rappername! Wie Internet ist der denn! Und der prangt seit mindestens 20 Jahren auf jedem Textmarker in Kleinstadtbüros.

Sie haben verkündet, 2020 radikalisiere Sie. Wie?
Der Rausch der Ereignisse. Dass extrem viel Mist passiert ist. Hanau, der Tod von George Floyd, und man hat fast schon vergessen, dass 2020 auch der Regenwald brannte. Ich hatte das Gefühl: Mir langt es jetzt, ich muss aktiver werden, bin sowieso spät dran damit. Ich war bei der Black- Lives-Matter-Demo, habe die Petition für die Umbenennung der Mohrenstraße unterzeichnet, meine Timelines diverser gemacht. Dieses Gefühl hat schon 2017 nach der Bundestagswahl eingesetzt. Glücklicherweise habe ich auch politische Freund*innen, die mich aus der eigenen Unwissenheit herausschleudern.

Was meinen Sie?
Wir haben alle gut gelebt, ohne es zu merken. Nun setzt sich die Erkenntnis durch, dass das nicht selbstverständlich ist. Dass man die Verantwortung hat, Platz zu machen. Es reicht nicht, einmal kurz das Mikrofon abzugeben. Gerade in der Medienwelt bedeutet Solidarität, auf eigene Vorteile zu verzichten und dafür keinen Beifall zu erwarten.

Wann sind Ihnen die Privilegien bewusst geworden?
Als ich Anfang 20 war, hat mein Opa über meinen Werdegang gesagt: „Du hattest es nicht so schwer, du musstest keinen Staub fressen.“ Er hat das nicht als Vorwurf gemeint. Ich musste nicht wie andere drei Jahre in eine beinharte Ausbildung gehen, um danach 40 Jahre in einem Beruf zu arbeiten, der mich unglücklich macht. Stimmt ja auch: Ich bin den ganzen Tag auf Twitter.

Sie schreiben etwa zehn Tweets pro Tag. Nennen Sie das Arbeit?
Ich habe mich gestern mit einem bekannten Twitterer unterhalten. Er sagte, er mache ja den ganzen Tag nix. Ich entgegnete: „Nein! Du produzierst Content, selbst wenn den keiner in Auftrag gegeben hat. Du informierst und unterhältst Leute.“ Das ist ein Graubereich, klar, ein Notizbuch für größere Gedanken. Mein Kopf hat gelernt, wenn da was rumschwirrt, kommt das auf Twitter, und ich bin es los. Es ist eine Art Arbeit, doch es würde sich komisch anfühlen, dafür Geld anzunehmen.

Womit verdienen Sie denn Ihren Lebensunterhalt?
Ich habe bis zum letzten Frühjahr in einer Werbeagentur gearbeitet. Viele Marken wollen nur einen coolen Spruch auf ihr Produkt und fragen mich statt einer Agentur. Ich habe zum Beispiel ein Bier aus dem Hause BRLO, die Brauerei im Berliner Gleisdreieckpark, beworben, das heißt „Happy Pils“, kleiner Gag für die Feierszene. Tja, falls Sie sich fragen, wer schreibt diese Drogenlines in der Werbung? It’s me.

Sie streuen immer wieder englische Sätze ein.
Meine Alltagssprache ist extrem internetbeeinflusst. Allein die inflationäre Verwendung des Wortes „nice“. Anglizismen, Abkürzungen, komische Wortmutationen – kommt alles aus dem Netz. Dass ich nicht mehr Männer sage, sondern Menners.

Oder Großbuchstaben und Satzzeichen weglassen.
Ich habe mich lange dagegen gewehrt, weil ich dachte, hey, ich bin doch orthografisch megafit. Aber irgendwann habe ich erkannt, wie cool es bitteschön ist, auf alles zu scheißen. Das ist vielleicht etwas pubertär und stört die gebildete Elite auf Twitter. Zum Glück ist dort in den letzten Jahren eine Generation nachgewachsen, die ihre Intelligenz nicht mehr über ewig lange Doppelverneinungen und komplizierte Schachtelsätze performt. Sondern über kurze und schlampig gearbeitete Takes, die trotzdem den Punkt treffen.

Inzwischen folgen Ihnen Charlotte Roche, Laura Karasek und seit Kurzem die Politikerin Dorothee Bär. Sie reagierten auf die neue Followerin mit: „Hilfe!“
Ich fühlte mich geschmeichelt, aber fand es gleichzeitig total seltsam. Vor acht Jahren wäre es das Allergrößte gewesen, 10 000 Follower zu haben. Ich hätte eine Flasche Schampus aufgemacht, wäre mir Jan Böhmermann gefolgt. Was er nicht tut. Mittlerweile habe ich eine gesunde Distanz dazu, denke: auch nicht so geil – und bin trotzdem stark in die Sektsucht abgedriftet.

Rotkäppchen von der Tanke?
Man nimmt, was man kriegt.

Für 2019 mussten Sie sich noch Optimismus verordnen. Warum?
Ich war mein Leben lang eine stabile Pessimistin. Und habe gemerkt: Man nimmt einem Unglück nicht die Spitze, nur weil man es schon geahnt hat.

Wieso waren Sie so?
Ich wurde so geboren. Das ist der schwäbische Grant, der eine Weile nachhängt. Er fällt mir auf, wenn ich nach Hause fahre, wohlsituierte Schwaben sehe, die vor ihren Eigenheimen im Garten sitzen und sich beschweren. Das ist eine Geisteshaltung. Ich habe ein paar Jahre gebraucht, um sie aus dem System zu bekommen. Passiert mir heute noch, dass ich im Sonnenschein sitze und denke: Boah, was für ein Scheißtag!

Dieses Misstrauen gegenüber der Welt hilft der Ironie, die Sie auf Twitter praktizieren. Sie schlagen beispielsweise vor, Kennenlernspiele an Bord einzuführen, um Flugreisen unbeliebter zu machen.
Es würde doch niemand mehr ins Flugzeug steigen, wenn er mit einem Wollknäuel werfen und einen lustigen Fakt über sich sagen müsste. Ich bin Einzelkind, da habe ich immer viel beobachtet. Aus der Distanz fallen einem Details auf, die man im Gewühl nicht wahrnimmt. Doris Dörrie hat mal gesagt, als Autorin ist man hauptberuflich Zeugin. Das finde ich sehr wahr.

Zum Schreiben brauchen manche Autoren Rituale. Wie sieht es bei Ihnen aus?
Twitter empfinde ich als eine hochproblematische Vermischung von Privatheit und halbberuflichem Aussenden von Inhalten. Als ich das Buch schrieb, war es einfacher, wenn ich mich in einer gewohnten Umgebung befand und keinen großen Aufriss um das Schreiben gemacht habe. Einfach hinsetzen und es als normale Tagesaufgabe begreifen.

Dahinter steckt die Angst vor dem Scheitern?
Eher dass ich mit meiner fahrigen Art dieses Buch kaputtmache.

Und Ihr Ehrgeiz größer als Ihr Talent ist?
Dass mein Größenwahn größer ist. Beim Twittern hilft mir, dass es beiläufig ist. Da bin ich schneller als ich selber. Beim Buchschreiben ist man einfach nur einsam und beobachtet sich sehr genau.

Sie mussten beim Schreiben weinen.
Also, ich habe nicht durchgeheult. Vieles aus dem Buch habe ich für mich erarbeitet. In Telefonaten, in Gesprächen mit der Familie, in denen es auch mal wehtat. In den Pausen habe ich manchmal Hildegard Knef gehört, die so stolz von ihrem Schmerz singt. Oder Falco, der hat ja irgendwann gar nichts mehr gemerkt, was ich auch ab und zu für einen plausiblen Wunsch halte.

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Im Roman geht es um eine Frau, die mit 25 Jahren zum ersten Mal Ihren Vater trifft. Das ist Ihnen auch passiert. Wie haben Sie ihn aufgespürt?
Er ist kurz vor meiner Geburt weg. Vor ein paar Jahren hatte ich eine Begegnung mit jemandem, der seinen Vater kurz zuvor kennengelernt hatte. Er sagte: Wenn du Kontakt möchtest, musst DU ihn herstellen, bei deinem Vater sind mittlerweile die Hürden zu groß. Das hat mir eingeleuchtet. Einige Wochen später habe ich ihm eine E-Mail geschrieben. Meine Mutter hatte eine Adresse aufgehoben, die zum Glück noch stimmte.

Hat er schnell reagiert?
Es hat bestimmt vier Wochen gedauert. Ich dachte, wenn er 25 Jahre nichts von sich hören lässt, wird er sich auch nicht gleich am nächsten Tag melden.

Warum brauchten Sie den Kontakt?
Ich hatte das Gefühl, mir fehlt eine Information über mich. Eine, die nur er hat. Unsere erste Begegnung fand in einem Restaurant statt, er kam in einem jeanslastigen Outfit an, stark gebleichte Acid Washed Jeans, blaues Hemd, verspiegelte Sonnenbrille. Eine Erscheinung! Mein Gehirn war nicht ganz an, ich kann mich an keinen konkreten Gedanken erinnern, nur an dieses Gefühl, in mein eigenes Gesicht zu gucken. Weil wir uns so ähnlich sehen. Das war ein heilsamer Schock. In meiner mütterlichen Familie ähnele ich niemandem so.

Kann man so spät ein echtes Vater-Tochter-Verhältnis entwickeln?
Jedes Vater-Tochter-Verhältnis ist echt. Uns war klar, dass wir nicht 25 verpasste Jahre aufholen können. Aber wir sind beide sofort in Rollen verfallen. Er hat mich belehrt, ich solle beim Radfahren einen Helm tragen, ich habe gehorcht. So kannte ich mich gar nicht. Aber diese Dynamiken, auch wenn man sie nur aus der Theorie kennt, sind mächtig.

Sie schreiben über Ihre Kindheitsbilder eines Vaters: das Tragen von Gürteln mit Silberschnalle, Interesse an Zeitungsartikeln mit viel Text, schweigend Auto fahren. Haben Sie das bei Freundinnen bewundert?
Ich habe das mit einer distanzierten Neugier beobachtet, aber es war mir nicht geheuer. Ich fand Väter komisch. Was machen die den ganzen Tag?

Weil Ihre Mutter alles erledigte?
Als Alleinerziehende hatte sie keine Wahl. Sie hat den Reifen selbst gewechselt. Diese Unabhängigkeit hat sie mir mitgegeben. Ich bin durch die Welt gerauscht mit dem Gefühl, dass ich alles machen kann: alle Berufe, Regale anbohren, Risotto kochen. Mir war nicht bewusst, dass die Gesellschaft, in die ich hineingeboren wurde, das anders sieht. Das war ein schmerzhafter Prozess, von meinem weit entwickelten Selbstverständnis als Frau unfreiwillig was hergeben zu müssen.

Wann war das?
Als ich angefangen habe zu arbeiten. Ich saß als einzige Frau im Raum, mein Redeanteil war geringer, meine Ideen wurden nicht ernst genommen. Ah, das ist strukturelle Benachteiligung!

Die Twitter-Ikone Sophie Passmann wurde auf der Dating-App Tinder mal gefragt, was sie tun würde, wenn sie einen Tag lang ein Mann wäre. Sie antwortete: Den vollen Lohn für meine Arbeit bekommen.
Genau! Als Mann könnte ich unbehelligt und oberkörperfrei im Park Liegestütze machen. Ich würde mit einer Bluetooth-Box um den Bauch gebunden breitbeinig Rad fahren, und meine Scheißmusik würde aus den Lautsprechern dröhnen.

Sie sind für Studium und Karriere erst nach Leipzig, dann nach Berlin gezogen. War die Großstadt ein Sehnsuchtsort?
Im Dorf gingen drei Dinge: auf Bäume klettern, mich daheim verkleiden, die Zunge an den Weidezaun halten. War nicht so geil. Ich kam nach Berlin, um ungesund zu leben. Zu hinterfragen: Muss ich jeden Abend um zwölf ins Bett, oder kann ich auch mal drei Tage am Stück länger?

Freuen Sie sich insgeheim aufs Älterwerden? Im Buch klingt eine gewisse Ermüdung am Jungsein an.
Im Internet muss man extrem lange extrem cool bleiben. Ohne diese Coolness würde ich auf jeden Fall Geld sparen. Der Lifestyle, diese Ästhetik kostet ja. Ein nischiges Parfüm zu tragen, das keiner kennt. Man geht schon nicht mehr zu Le Labo, es muss spezieller sein. Wäre auf dem Dorf nicht passiert. Finden Sie, ich wirke unfreiwillig alt?

Sie kokettieren jedenfalls damit, wenn Sie sagen: „Ich bin erwachsen auf die Welt gekommen.“
Hey, ich war schon mal erwachsener! In Leipzig habe ich neben meinem Studium in einem Klamottenladen gearbeitet und die leistungsgesellschaftliche Erwartung als Arbeitnehmerin voll erfüllt: pünktlich, ohne Flecken auf der Bluse, zuvorkommend, kantenlos. Da habe ich mich mindestens wie Mitte 40 gefühlt. Also ultra-alt.

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