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Ateliers zu Hotelzimmer: Im Meisterzimmer No. 1 kann eine ganze Familie übernachten.

© Bettina Homann

Hotelkolumne: Eine Nacht im Leipziger Meisterzimmer

Kontaktlos einchecken im Vorzeigequartier Plagwitz: Wo einst Spindeln rotierten, dreht sich heute alles um Kunst und Architektur.

Die schwere Stahltür öffnet sich in einen niedrigen neonbeleuchteten Gang, die rohen Betonwände sind mit Graffiti bemalt. „Even a fart can’t exist without art“ verkündet da jemand, der sein Werk mit wordcobain signiert hat. Am Ende der steilen Treppe gelangt man zur nächsten Tür, wieder aus Eisen, diesmal landet der Gast in einem fensterlosen Raum, in dessen Mitte eine Tischtennisplatte steht.

Industriecharme mit Freizeitcharakter. Das ist das Foyer, von dem aus die vier Meisterzimmer im Leipziger Stadtteil Plagwitz abgehen – eine Unterkunft ohne persönlichen Empfang, dafür bekommt der Gast per E-Mail Nummerncodes zugesandt, die ihm die Türen aufsperren. Kontaktloses Einchecken, die richtige Idee für die Corona-Zeit.

Die Zahlen öffnen das Zimmer No. 1, das die Größe eines Schlafsaals hat. Acht Betten stehen zur Verfügung, eines hoch oben auf einer hölzernen Empore. Allein könnte man jetzt alle ausprobieren. Doch was denkt später das Personal beim Saubermachen? Es gibt eine Küchenzeile mit sechs Waschbecken, einen langen Tisch, einen Wohnbereich mit weichen Sofas aus DDR-Zeiten, beleuchtet von Hängelampen mit bunten Stoffschirmen.

Backstein mit Charme. Blick auf das ehemalige Spinnereigelände.
Backstein mit Charme. Blick auf das ehemalige Spinnereigelände.

© Bettina Homann

Durch riesige Fenster fällt der Blick auf stillgelegte Schienenstränge im groben Pflaster des Hofes und ein Stück Wiese, auf dem im Sommer Stühle für ein Open-Air-Kino aufgereiht werden. Im lauen Wind wehen Fahnen, auf die Schwarz-weiß-Fotos gedruckt sind, textile Installationen von Carina Brandes.

Anfang der 1990er Jahre hatten mehrere junge Künstler in den Räumen ihr Atelier, darunter Manfred Mühlhaupt, heute Web-Designer und Betreiber der Pension Meisterzimmer. „Hier hatten wir Gelegenheit, alles und uns auszuprobieren. Wir konnten die Räume nutzen wie wir wollten: zeichnen, malen, bauen, spinnen und frei sein.“ Es war die Zeit nach der Aufgabe der Baumwollproduktion, als die Spinnerei langsam aufgegeben wurde.

Ein Sofa verschlang die Sitzenden

Künstler zogen ein, Werkstätten eröffneten, Cafés und der Club Bimbotown, in dem Aktionskünstler Jim Whiting Partys inszenierte. Während man der Akrobatik-Show zusah, konnte es passieren, dass der Barhocker plötzlich zu hüpfen begann oder das Sofa die Sitzenden verschlang. Eine ausgefeilte Mechanik machte es möglich.

Ab 2001 war Mühlhaupt allein übrig und als er schließlich 2008 nach Jena zog, kam er auf die Idee, den Raum an Leipzig-Besucher zu vermieten. Schnell war das Quartier so beliebt, dass weitere Zimmer hinzukamen, jedes ganz unterschiedlich in Größe und Design, alle mit selbst gebauter Einrichtung und zeitgenössischer Kunst ausgestattet. Rezeption gibt es keine, Fahrräder sind inklusive.

An diesem warmen Tag ist nicht viel los auf dem Gelände. Ein paar Touristen bleiben suchend vor Hauseingängen stehen, die meisten Ateliers sind geschlossen. Aufgrund von Corona musste auch der geplante Rundgang, der sonst Scharen in die Alte Spinnerei lockt, entfallen. In der Galerie Eigen + Art werden gerade die großflächigen Gemälde von Uwe Kowski abgehängt. Die Galerie, 1983 von Judy Lybke in seiner Wohnung gegründet, war eine der ersten, die Anfang der Nullerjahre hierherzog, ebenso der bekannteste vertretene Künstler, Neo Rauch – der Star der Leipziger Schule.

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Auch ohne Atelierbesuche gibt es jede Menge Kunst zu sehen, seien es fantasievolle Wandverzierungen oder die Freiluftgalerie an der Friedhofsmauer am Hinterausgang des Geländes. Geöffnet hat das „Archiv Massiv“ direkt am Haupteingang des Geländes, das die Geschichte der Spinnerei mit Fotos und Dokumenten erzählt.

1884 wurde die Spinnerei gegründet und wuchs in den folgenden 25 Jahren zur größten in Kontinentaleuropa – mit eigenem Bahnanschluss, Wohnhäusern, Nutzgärten und einer Badeanstalt für die Arbeiter. 240 000 Spindeln waren im Einsatz, einige davon sind heute zu besichtigen. Im Jahr 2000 wurde die Produktion, die keinen Gewinn mehr erwirtschaftete, von der Treuhand abgewickelt.

Bitte nicht mehr wohnen!

Die Spinnerei war Teil des einst größten deutschen Industriegebiets, gegründet von Karl Heine, der Ende des 19. Jahrhunderts in den Dörfern Plagwitz und Lindenau den Bauern Flächen abkaufte, eine Bahnverbindung baute und einen Kanal mit Verbindung zur Elbe. Zum Ende der DDR waren allerdings die meisten Gebäude so marode, dass der Leipziger Chefarchitekt Dietmar Fischer im Fernsehen auf Abriss plädierte. „Dort sind die Umweltbedingungen so schlecht, dass es verantwortungslos wäre, das Wohnen auf lange Sicht beizubehalten.“

Zum Glück hat man nicht auf ihn gehört. Der Leipziger Westen wurde Außenstelle der Expo 2000 und Vorzeigeprojekt gelungener Sanierung von Industrie- zu Kulturorten. Im Kunstkraftwerk kann man noch bis Ende Januar 2021 in die Van-Gogh-Experience eintauchen. 24 Laserbeamer projizieren die Werke des niederländischen Künstlers in hoher Auflösung an die acht Meter hohen Wände, unterlegt vom eigens komponierten Soundtrack.

Im ehemaligen Tapetenwerk können Touristen kleine Galerien und Buchdruckwerkstätten besuchen, das Restaurant Kaiserbad in der ehemaligen Eisengießerei hat asiatische Nudelbowls oder gebratenen Zander auf der Karte.

Zum Ausruhen. Ein Biergarten am Karl-Heine-Kanal.
Zum Ausruhen. Ein Biergarten am Karl-Heine-Kanal.

© Bettina Homann

Die grünen Ufer des Kanals laden zum Spazierengehen ein, das Gewässer selbst zum Paddeln. In der Karl-Heine-Straße bevölkern junge Menschen mit Kindern und Hunden Eisdielen, Cafés und kleine Läden. Und Platz für Neues gäbe es noch. Zum Beispiel auf der Brache der ehemaligen Maschinenfabrik, wo bis zur Jahrtausendwende Roggen angebaut wurde.

Neueste Attraktion des Viertels ist die Kantine des Kranherstellers Kirow, nur wenige Meter von der alten Spinnerei entfernt. Aus der Backsteinfassade der Fabrik wächst eine Kugel aus Glas, die im Frühjahr vollendet wurde. Es handelt sich dabei um einen der letzten Entwürfe des brasilianischen Star-Architekten Oscar Niemeyer, der zahlreiche ikonische Gebäude in der Hauptstadt Brasilia entwarf und 2012 verstarb. Unter der Woche zwischen 12 und 13 Uhr können hier auch Nicht-Mitarbeiter speisen.

Am Abend wird es in der Spinnerei ruhig. Man kann sich ans Fenster stellen und der Sonne beim Untergehen zuschauen, in der Hand ein Glas vom Rosé. Wenn es dunkel ist, leuchtet die Betriebsuhr in den Nachthimmel. Sie steht seit der Schließung still und zeigt für immer acht Minuten nach zehn.

Reisetipps für Leipzig:

Hinkommen: Der ICE fährt nur etwas mehr als eine Stunde bis zum Leipziger Hauptbahnhof. Im Sparpreis gibt es Tickets für Hin- und Rückfahrt ab 41 Euro. Von dort in die S1 nach Plagwitz einsteigen, von der Haltestelle sind es etwa zehn Minuten zu Fuß bis zur Baumwollspinnerei.

Unterkommen Im kleinsten Apartment kommen maximal drei Gäste auf 42 Quadratmeter unter, im größten bis zu acht auf 116 Quadratmetern. Die Übernachtung kostet ab 80 Euro pro Nacht, mehr Infos unter meisterzimmer.de.

Rumkommen: Die Karl-Heine-Straße ist der Boulevard von Plagwitz. Bei einem Bummel können Besucher ins Leipziger Leben eintauchen und Souvenirs für daheim mitnehmen. Besonders guten Kaffee gibt es im italienischen Feinkostcafé Dipasquale (Karl-Heine-Str. 6), hübsche Wohnaccessoires und Papeterie made in Leipzig bietet der Hafen an (Karl-Heine-Str.75.), bei La Cantina essen Einheimische und Gäste zusammen spanische Tapas (Karl-Heine-Str. 54).

Unter evendito.de kann man eine geführte Tour durch das Viertel buchen. Zu Fuß entdeckt man die Philippuskirche, den Henriettenpark mit dem alten Bahnhofsgelände und den Karl-Heine-Kanal. Treffpunkt ist der Haupteingang Westwerk (Werksuhr, Tor B, Karl-Heine-Straße 93). Zwei Stunden kosten 120 Euro für eine Gruppe mit maximal 25 Teilnehmern. Die Reise wurde unterstützt von Leipzig Tourismus.

Bettina Homann

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