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Kein eigenes Land, nirgends. Kurden bei einer Demonstration in Stuttgart.

© Lino Mirgeler/dpa-Bildfunk

Heimaten: Du willst ein eigenes Land, hm?

Kurden gehören nie dazu. Vielleicht war meine Heimat einfach unser Haus, damals, als ich fünf Jahre alt war. Seitdem ist meine Heimat genauso wie ich unterwegs.

Von Muhamad Abdi

Als Kurde geboren zu sein heißt, dein Leben wird nicht so einfach sein. Du wirst aufwachsen und dich immer wieder fragen, warum deine Eltern kein eigenes Land haben, warum du ausgerechnet hier geboren bist. Jedes Mal, wenn dich jemand nach deiner Herkunft fragt, weißt du nicht, was du antworten sollst. Früher in Syrien hieß es: "Oh, du bist Kurde, ha? Ihr wollt ein eigenes Land"?

Die Lehrer antworten auf Arabisch

In der Schule wirst du nicht in deiner Muttersprache unterrichtet. Interessanterweise sind die meisten Lehrer auch Kurden, aber wenn du etwas auf Kurdisch fragst, weil du noch nicht so gut Arabisch sprichst, antworten die Lehrer nicht oder sagen etwas auf Arabisch. Dir kommen Fragen in den Sinn wie: Warum sollen Kurden Arabisch lernen? In diesem Alter weiß ein Kind nicht, was für eine politische Bedeutung ein Land hat.

Mit der Zeit lernt das Kind Arabisch, sogar sehr gut. Bis zum Alter von zwölf Jahren ist sein Elternhaus seine Heimat, die Kinder im Viertel, die immer zusammen spielen.

Im Haus besuchen den Vater oft Freunde, und sie reden über Politik, die Regierung und wie schlimm die Lage ist. Dazwischen überlegt das Kind, wie wohl das Leben funktioniert. Zugleich mahnt der Vater immer: "Kind, Vorsicht, was wir hier reden, bleibt unter uns. Du darfst das auf der Straße niemandem erzählen, auch nicht deinen Freunden. Und erzähle um Himmels Willen niemals etwas davon in der Schule, schon gar nicht den Lehrern.

"Wir werden sie hart bestrafen"

2004 war ein Jahr, an das sich jeder Kurde erinnern wird. Mehr als 40 Tote, hunderte Festgenommene, bloß, weil sie gegen das Regime protestierten und ihre Fahnen zeigten. Viele Araber aus Dörfern und Städten griffen die Kurden an und plünderten ihre Märkte. Die Regierung berichtete, die Kurden seien Verräter, und ihre arabischen Mitmenschen sagten: "Die wollen ihr eigenes Land? Wir werden sie so hart bestrafen, dass sie nie mehr protestieren". Spätestens jetzt erlebte jeder Kurde, was es bedeutet, Kurde zu sein und ohne Heimat zu leben.

2009 waren wir nur zwei Kurden, die an der Universität Damaskus zum Studium der Medienwissenschaften zugelassen wurden. Die anderen Studenten waren Araber, und ich musste mich mit den neuen Freunden arrangieren und versuchen, nicht über ethnische Themen zu reden, obwohl sie wussten, dass ich Kurde bin. Dass ich in Kamishly geboren wurde, ist Beweis genug.

Ich wollte diese Flagge nicht nehmen

Eines Tages gab es an der Universität Damaskus eine Kundgebung für die terroristische Miliz Hisbollah, die "Partei Gottes". Überall wehten Flaggen. Die Studenten feierten die spezielle Beziehung zwischen ihrer Regierung und der Hisbollah. Auf meinem Heimweg wollte einer meiner Freunde mir eine Flagge geben, obwohl ich das nicht wollte. Mehrfach bedrängte er mich: "Nimm, nimm die Flagge! Sei stolz auf dein Land, sei stolz auf diese Fahne!" Und er lachte. Ich habe die Flagge nicht genommen, weil ich nie das Gefühl hatte, dass ich zu dieser Flagge gehöre. Einen Tag später redeten die Freunde nicht mehr mit mir. Zugleich hatte ich Angst, dass die Geheimdienste etwas davon erfahren könnten, denn dann würde meine Familie mich verlieren.

Vielleicht war meine Heimat einfach unser Haus, damals, als ich fünf Jahre alt war. Seitdem ist meine Heimat genauso wie ich unterwegs. Sie ist kein fester Ort. Sondern sie ist dort, wo ich in meinem Leben Freunde gewinne und mit denen ich meine Zeit verbringe. Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl.

Der Autor (26) kam 2015 nach Deutschland. Er ist seit Mai 2017 Volontär beim Tagesspiegel.

Dieser Text entstand im Rahmen des Exiljournalisten-Projekts des Tagesspiegels #jetztschreibenwir. Am 16. Juni erschien eine Beilage der Exiljournalisten zum Thema „Heimaten“ (in Print und im E-Paper).

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