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Moses Wolff, 50,

© picture alliance / Matthias Balk

Griabigkeit und Hacker-Pschorr: Ein Münchner erklärt das Oktoberfest für Anfänger

In München heißt es jetzt wieder: „Ozapft is!“ Dann beginnt für Kabarettist Moses Wolff die schönste Zeit des Jahres. Ein Gastbeitrag.

Moses Wolffs Oktoberfest-Handbuch „Ozapft is!“ erschien gerade als Piper-Taschenbuch. Der Autor des Romans „Highway to Hellas“ lebt meistens in seiner Geburtsstadt München – wenn er nicht auf den griechischen Inseln ist.

Aufs Oktoberfest freue ich mich wie ein kleines Kind auf Weihnachten. Nur zehnmal mehr. Ich zähle die Tage runter bis zum Fassanstich des Münchner Oberbürgermeisters und seinen Spruch „Ozapft is!“ im Schottenhamel-Zelt. Dann marschiere ich direkt ins Hacker-Zelt, zu meinem Stammplatz, mit meinen besten Oktoberfest-Freunden. Weil wir die Bedienung kennen, warten wir keine 45 Minuten auf unsere erste Maß, meist schafft Sabrina das in ein paar Minuten. Krüge auf den Tisch, Nase über die Schaumkrone, riechen, Schluck nehmen, Maßkrug schwenken, noch einen Schluck nehmen, schlucken – so mache ich es seit bald 40 Jahren. Nach diesem Ritual weiß ich: Jetzt beginnt die schönste Zeit des Jahres.

Seit ich 13 bin, habe ich kein Oktoberfest verpasst. Meist bleibe ich alle 16 Tage lang. Vor zwei Jahren habe ich mir sogar einen Briefkasten ins Hacker-Zelt hängen lassen und einen Nachsendeantrag gestellt, da kam die Post direkt zu mir.

Zu vergleichen ist das Oktoberfest mit nichts auf der Welt. Der Cannstatter Wasen? Ein Volksfest, ja, aber das ist das Rosenheimer Herbstfest auch. Höchstens der Kölner Karneval kann von seiner Bedeutung für die Welt mithalten, da fahre ich selber auch jedes Jahr hin, aber gefühlsmäßig ist das was ganz anderes. Kein zweites deutsches Wort kennen im Ausland so viele Menschen wie „Oktoberfest“.

Als Kind lief ich an den Händen meiner Großeltern und Eltern über die Wiesn. Das zählt aber nicht so richtig, finde ich. Mein „erstes Mal“ war eher mit 13. Ich trank eine Maß, knutschte mit einer 15-Jährigen – dann wurde mir ganz flau. Nicht wegen ihr oder der Maß, sondern weil ich, um den Alkohol auszugleichen, nachträglich so viel Spezi in mich reinschüttete, dass ich fast platzte.

Heute sind meine Techniken, um die Wirkung des Alkohols einzudämmen, verfeinert. In einem Täschchen führe ich hochdosiertes Vitamin C mit mir. Wenn ich zu viele Maße erwischt habe, aus einem gesunden, fröhlichen Rausch ein Vollrausch zu werden droht, nehme ich flink das Pulver, trinke einen Krug Wasser – und schon geht’s weiter. „Strategisches Trinken“ heißt das. Darüber hinaus habe ich einen großen Vorteil: Wenn ich richtig besoffen bin, schlafe ich einfach ein. So muss ich mich nie übergeben.

Vielleicht noch zum Bier. Es gibt weltweit kein feineres als das Oktoberfestbier. Das beste der eigens für die Wiesn gebrauten kommt von Hacker-Pschorr. Bernsteinfarben, kräftige Malzaromen, Honig und Karamell, Stammwürze 13,7 Prozent, Alkohol sechs Prozent. Das Augustinerbier ist auch gut, aber ich bin eben Hacker-Ultra.

Ganz wichtig auch: der Dresscode

Ganz wichtig auch: der Dresscode. Heute tragen alle Tracht, häufig Billigware. Die besten Dirndl und Lederhosen gibt’s beim Angermaier am Viktualienmarkt in München. Der sehr lustige Chef ist ein Schwabe, kein Bayer, aber ein wahnsinnig netter Kerl. Die größten Münchner sind eben oft Zugezogene, sogar Karl Valentin hatte einen hessischen Vater und eine sächsische Mutter. Meine kommt aus dem Odenwald, aber sie hat früh die bayerischen Traditionen übernommen, sie befürwortete seit jeher das Tragen von Tracht.

Als ich meine erste Lederhose zur Wiesn anziehen wollte, schimpfte mein in Kochel am See wohnender Opa: „Ja bist du noch ganz dicht, du musst eine alte Jeans anziehen, wo was draufkommen kann.“ Dabei ist gerade die Lederhose sehr robust. Aber damals waren wir fast die Einzigen, die Tracht trugen auf der Wiesn. Das kam erst gegen Ende der 90er auf, und der Schwabe vom Angermaier hat stark dazu beigetragen.

Er befreite die Tracht vom Klischee. Wer Tracht trägt, so dachte man früher, muss ein Hinterwäldler sein, ein CSU-Wähler. Es gibt bis heute den Mythos, man müsse in eine Lederhose reinpinkeln, damit sie besser sitzt. Das sind bloß Vorurteile, um uns Bayern zu ärgern.

Trotzdem ist das Oktoberfest natürlich nur in Bayern, ach was, in München denkbar. München ist ein friedliches Entenhausen. Hier ist alles brav, wenig Kriminalität. In Berlin kriegst du zu jeder Tages- und Nachtzeit alles, Sex, Party, Drogen. Wenn ich als Kabarettist dort auftrete, erzähle ich gern, dass in Münchner Straßenbahnen Bier verkauft wird, das Fürstin Gloria persönlich für die Fahrgäste zapft. Das mögen die Berliner, wenn man ihnen mit ihren eigenen Vorurteilen kommt.

Kabarettist, Romancier, Filmschaffender,
Kabarettist, Romancier, Filmschaffender,

© picture alliance/dpa

Wer auf so vielen Oktoberfesten war wie ich, hat natürlich ein paar Anekdoten gesammelt. Einmal war ich im Hackerzelt mit zwei Freundinnen, wunderschöne Frauen. Da kam ein Geschäftsmann daher, der die anflirtete. Obandln, so sagt man es in München. Er gab auf jeden Fall total an, sagte, dass er später noch ins Käferzelt gehen würde, das Promizelt, sein Name stehe auf der Gästeliste. Als es soweit war, verabschiedete er sich und gab uns seine Visitenkarte. Wir rannten, ohne uns abzusprechen, wie die Bekloppten los, und weil ich das Oktoberfestgelände besser kenne als mein Zuhause, hängten wir ihn auf Schleichwegen ab. Am Käferzelt sagte ich den Namen auf der Visitenkarte, nahm meine zwei Freundinnen mit rein – und hatte einen großartigen Abend dort.

Genauso gern erinnere ich mich an eine Zeit, als es im Augustinerzelt unter dem Boden, auf dem die Kapelle spielte, einen unterirdischen Hohlraum gab, circa zwei Meter tief. Dort unten betreute eine kurdische Dame die Garderobe der Bedienungen und verkaufte nebenbei Piccolo-Sekt und Süßigkeiten. Dort ging dann die Post ab, es wurde getanzt und geschmust, was das Zeug hielt. Man gelangte nur dorthin, wenn einen eine Bedienung mitnahm. Leider bekam der Augustiner-Wirt Wind davon, da musste die Frau wieder dichtmachen. Das war eine Zeit lang die beste Party auf der Wiesn.

Oft denke ich mir irgendeinen übermütigen Schmarrn aus fürs Oktoberfest. Einmal habe ich mich 16 Tage lang nur dort ernährt. Vegane Käsespätzle zum Beispiel. Da war ich skeptisch, aber sogar die haben auf der Wiesn geschmeckt. Mein Lieblingsessen vor Ort gibt es aber bei Fisch Hellberg. Die haben Matjes in Sherry eingelegt und die knusprigsten Semmeln, die man in ganz München findet. Normalerweise esse ich kein Weizen, weil ich davon müde werde, aber für die Semmeln vom Hellberg mache ich eine Ausnahme.

Allerdings bin ich nicht den ganzen Tag dort. Meist schlafe ich lang, schreibe an meinem nächsten Roman und erledige die wichtigsten Dinge, bis ich mich so um drei Uhr nachmittags auf den Weg mache. Oft bleibe ich bis acht. Außer, wenn es mich so richtig packt. Dann bin ich noch beim Schankschluss um halb elf da.

Ein Ort der politischen Korrektheit ist die Wiesn natürlich nicht, aber das ist in Bayern sowieso schwierig. Man muss sehen: Tausende Menschen kommen aufs Oktoberfest, alle ausgestattet mit einer gewissen Grundeuphorie, die leicht mal in Übermut umschlägt, da kommt es eben auch zu latent überhitzten Handlungen wie zu viel Bier trinken oder fremdgehen.

Heute ist es Mode, auf den Bänken zu tanzen

Wobei man sicher sagen kann, dass die Wiesn mehr Spaßpotenzial mit sich bringt, wenn man Single ist. Bei mir haben sich Beziehungen früher oft dem Ende entgegen geneigt, je näher die Wiesn im Jahr rückte. Als wär’s ein Naturgesetz. Weil außer mir kaum einer Tracht trug, war ich für viele auswärtige Damen der Inbegriff des Abenteuers, ein bayerischer Stenz. Da hatte ich leichtes Spiel.

Heute ist es Mode, auf den Bänken zu tanzen. Das mache ich eigentlich nie. Lieber sitze ich draußen im Biergarten vor den Zelten. Wer auf den Bänken tanzt, hat immer nur sein Gegenüber im Blick, weil es so eng ist. Ich habe lieber den Überblick, das macht auch das Obandln leichter.

Übergriffigkeiten gibt es natürlich auch. Manche Leute haben sich gerade unter Alkoholeinfluss nicht unter Kontrolle. Ich habe einige Jungs gesehen, die eine freundliche Ausstrahlung als Einladung betrachteten, gleich loszuknutschen. Das ist schade, denn am Ende sollen sich alle wohlfühlen, die Stimmung soll nicht kippen. Auf der anderen Seite habe ich auch Situationen erlebt, in denen Frauen eindeutige Signale gesendet haben und erst im Nachhinein erzählten, dass sie gar kein Interesse gehabt hätten. Auch schwierig. Zum Obandln gehört eben ein gewisses Fingerspitzengefühl.

Eine einzige Auszeit von der Realität

Das Schöne an der Wiesn ist: Sie ist eine einzige Auszeit von der Realität. Manche nehmen das aber vielleicht etwas zu ernst.

Kritik an der Wiesn weise ich meist zurück. Die Bierpreise seien zu hoch, sagen manche. Das finde ich nicht, die Wiesn kostet ja keinen Eintritt, da sind 11,80 Euro für einen Liter Bier doch okay. Andere sagen, das Ganze sei ein plumpes Massenbesäufnis. Auch da muss ich widersprechen. Bier trinken gehört als kultureller Akt zur bayerischen Tradition. Was die genau ausmacht?

Ganz einfach: Zur bayerischen Tradition gehört das Biertrinken wie die Brotzeit und die Trachtenvereine und die Kirchweih und das Granteln und das Charivari und der Schmarrn und die Wadlstrümpf und die feschn Dirndl und die schneidigen Burschen und der Kini und die Sturheit und der Alpencharme und die Landluft und die Metzgerinnung und der Brauerbund und das Reinheitsgebot und die Aufwiegler und die Revoluzzer und die Volkssänger und die Mundartdichter und die Boazn und die Zuagroastn und die Sommerfrischler und die Einheimischen und die Fast-Einheimischen und die angeborene Skepsis und der angeborene Durscht und die Griabigkeit und die Gamsigkeit und die Frömmigkeit und der blaue Himmel und der Föhn und die Marienverehrung und die Maibäume und selbstverständlich auch das Oktoberfest.

Griabigkeit und Gamsigkeit – das muss man Berliner Lesern vielleicht erklären – sind Gemütlichkeit und Geilheit.

So schön die Wiesn also ist, irgendwann endet sie. Dann stehen wir im Zelt, die Kapelle spielt „Sierra Madre del Sur“, wir schwenken Wunderkerzen und mir kommen vor Rührung und Sentimentalität die Tränen. Das fühlt sich an, als käme man nach Hause von einer langen Bergtour. Erschöpft, aber glücklich. Oder nein, es fühlt sich eher an, wie wenn man die letzte Seite eines wirklich guten Buchs gelesen hat. Man will einfach nicht, dass es endet.

Und wenn’s dann doch vorbei ist, schlafe ich mich ein paar Tage aus, streichle meine Leber mit viel Wasser, Mariendisteltee, mediterraner Kost und finde entspannt in die Realität zurück.

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