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Türkei: Die Freiheit der Frau Atatürk

Er war 1923 der Gründer der türkischen Republik und sie seine First Lady. Kemal Atatürk stand für eine westliche Politik, Latife Hanim für die Rechte der Frauen. In der Türkei wird er wie ein Monument verehrt, sie dagegen totgeschwiegen. Ihr eine Biographie zu widmen, ist heute noch nicht ungefährlich.

Mustafa Kemals Liebe zum Alkohol, unter der seine Frau so sehr litt, war für den „Vater der Türken“ nicht bloß ein persönliches Laster. Sondern, ähnlich wie die Ehe mit Latife, Ausdruck seiner Westlichkeit und seiner Distanz zum Islam. Besonders Raki hatte es dem ersten türkischen Präsidenten angetan: Der Schnaps soll sogar auf Kabinettssitzungen gereicht worden sein. Erstmals hatte Kemal 1922 das „öffentliche Trinken“ exerziert. Sechs Jahre später erklärte er während einer Rede in Istanbul, ein Rakiglas in der Hand: „In der alten Zeit wurde die tausendfache Menge davon an den schmutzigsten Orten in aller Heimlichkeit getrunken von heuchlerischen Typen, die alle möglichen Schandtaten begingen. Ich bin kein Heuchler, ich trinke auf das Wohl meiner Nation.“ Gerne saß Atatürk bei ein paar Schnäpsen bis spät in die Nacht mit seinen Vertrauten zusammen. Latife, die sich um seine Gesundheit sorgte, tobte dann: „Was, Kemal, du trinkst schon wieder?“ Am Ende behielt sie recht: Atatürk starb 1938 mit 57 Jahren – an Leberzirrhose. Seitdem heißt die Krankheit, ebenso wie der Alkoholismus, der sie verursacht, bei den Türken „Atatürk’ün hastaligi“ („Atatürk-Krankheit“).

Politische Bedeutung hat das Trinken in der Türkei bis heute. Die derzeit regierende islamisch-konservative AKP sorgte dafür, dass Wirte die Lizenzen für den Alkohol-Ausschank nicht mehr so einfach bekommen wie früher. Auch Ministerpräsident Erdogan trinkt demonstrativ. Allerdings Fruchtsaft.

Auf den Fotos von damals sieht man sie oft ein paar Schritte hinter ihrem Mann. Eine kleine, leicht rundliche Frau, in dunkle Gewänder gekleidet, das weiße Gesicht von einem Schleier umrahmt. Er dagegen schreitet voran, ist größer, auch attraktiver, und schon allein die hohe Pelzmütze auf dem Kopf lässt ihn mächtig wirken.

Die Rollenverteilung scheint auf diesen Bildern so klar, wie sie es nie war. Mustafa Kemal, Gründer der modernen Türkei und einst zum „Vater der Türken“ („Atatürk“) ernannt, hatte in Wahrheit eine starke Frau an seiner Seite, die viel von der Welt verstand und gesehen hatte. Wie ihr Mann wollte die wortgewandte, streitlustige Latife Hanim ihre Heimat nach Westen führen – am Ende aber war sie ihrer Zeit zu weit voraus, wurde verstoßen, verleumdet und schließlich ein halbes Jahrhundert lang totgeschwiegen.

Erst die Istanbuler Journalistin Ipek Calislar hat das bewegte Leben der Latife Hanim für eine nun auch auf Deutsch erschienene Biografie neu recherchiert – ein Buch, das sie prompt vor ein türkisches Gericht brachte. „Lächerlich“ sei der Prozess gewesen, sagt die 61-Jährige und scheint sich darüber zu amüsieren. Calislar, die lange in der Frauenbewegung aktiv war, wirkt auf den ersten Blick nicht wie eine Kämpferin. Um den Hals trägt sie ein langes grau-schwarzes Tuch, ihre Brille ist randlos, das blonde Haar kurz. „Ich wurde angeklagt, weil ich ein historisches Ereignis wahrheitsgemäß geschildert habe“, Unverständnis klingt in ihrer Stimme mit: „Es ist doch alles gut belegt. Ich habe ja nichts erfunden!“

Ein Mann, der ihren nationalen Bestseller „Latife Hanim“ las, zeigte Calislar bei der Staatsanwaltschaft an. Seiner Meinung nach hatte sich die Autorin eines Verbrechens schuldig gemacht, das in Paragraf 5816 des türkischen Rechts formuliert ist: „Beleidigung Mustafa Kemals“. Der Personenkult um Atatürk ist bis heute ungebrochen; Statuen, die ihn zeigen, stehen überall in der Türkei. „In meinem Buch erscheint er als Mensch, mit Stärken und Schwächen. Wahrscheinlich haben sie davor Angst.“

Zum Auftakt des Prozesses am 5. Oktober 2006 schickte die Istanbuler Polizei 300 Uniformierte, um Calislar vor nationalistischen Demonstranten zu schützen. Einige Monate zuvor hatte der Mob auf den Schriftsteller Orhan Pamuk eingeprügelt, als dieser sich vor einem Tribunal wegen des ähnlich umstrittenen Vorwurfs der „Beleidigung des Türkentums“ verantworten musste. Ipek Calislar erschien erst gar nicht im Gericht, schickte nur ihren Anwalt: „Ich wollte nicht mit Tomaten beworfen werden.“

Für Aufregung hatte vor allem eine Szene in ihrem Buch gesorgt: Darin schildert die Autorin, wie Latife Hanim während der Gründerjahre der Republik ihren Mann rettete – und sich dabei selbst in höchste Gefahr brachte. Als beide 1923 in einem Haus gefangen waren, das Putschisten umstellt hatten, gelang Atatürk unter einem langen, schwarzen Tschador die Flucht, einem Frauengewand also. Latife blieb zurück und lenkte die Belagerer ab, indem sie sich, mit Fellhut und auf einer Kiste stehend, als ihr Mann ausgab. Als die Gegner das Haus stürmten, konnten sie von Kemal und seiner von hinten anrückenden Leibgarde überwältigt werden.

Schwer zu sagen, was hartgesottene Kemalisten an dieser Episode mehr störte: Dass Atatürk verschleiert wie eine Frau fliehen musste oder dass er sein Leben ausgerechnet der ungeliebten Latife zu verdanken hatte. „Wenn eine Frau in Männerkleidern geflohen wäre, hätte es sicher keine Diskussion gegeben.“ So aber sollte Ipek Calislar vier Jahre ins Gefängnis. Zu ihrem Glück hatte die Justiz ein Einsehen. Man sprach sie frei. Und der Wirbel hatte auch sein gutes: Latife Hanim kehrt nun langsam in das Bewusstsein der Türken zurück. Viele Dankesbriefe erhielt Calislar für ihre Biografie. „Lange galt Latife als eingebildet und schwierig, ich wollte sie wieder ins rechte Licht rücken, ihre Verdienste zeigen. Sie kann Vorbild für Frauen überall auf der Welt sein.“

Die gemeinsame Geschichte von Latife Hanim und Mustafa Kemal beginnt 1922, während des Türkischen Befreiungskriegs. Das osmanische Reich, das sich einst von Europa bis weit nach Arabien erstreckte, hat den Ersten Weltkrieg verloren. Die Sultansherrschaft muss der Republik Platz machen. Gleichzeitig kämpfen die Türken gegen die Besatzungsmächte Großbritannien, Frankreich und Italien, gegen Armenier und Griechen. Mustafa Kemal, der sich als Offizier schon während des Weltkriegs Ruhm erwarb, tut sich dabei nicht nur als Militär hervor. Er wird auch zum ersten Präsidenten des neuen Parlaments gewählt.

Kein Wunder, dass die 23-jährige Latife den siegreichen General anhimmelt; angeblich trägt sie sein Bild schon lange als Glücksbringer in einem Medaillon um den Hals. Kemal ist bereits über 40 und gilt als notorischer Junggeselle. Nach dem Sieg über die Griechen und der Rückeroberung von Izmir schlägt er sein Hauptquartier in der Stadt auf – im Haus von Latifes Familie. Wahrscheinlich hatte die junge Frau ihn eingeladen. Am 11. September 1922 – zwei Tage bevor ein verheerender Brand die Vertreibung hunderttausender Armenier und Griechen aus Izmir (griechisch: Smyrna) einleitet – treffen sich die beiden dort das erste Mal. Kemal nimmt die Fellmütze vom blonden Haar und küsst ihre Hand. Später soll Latife gesagt haben, sie sei „zwei schönen blauen Augen“ begegnet. Ihre Biografin Ipek Calislar glaubt: „Sie hatte ihm zwar den Kopf verdreht, war aber wohl stärker verliebt als er.“

Latife, die mehrere Fremdsprachen beherrscht, wird Kemals Übersetzerin und Sekretärin. „Adjutant“ nennt er sie. Binnen 15 Tagen macht er ihr angeblich drei Heiratsanträge. Als sie endlich ja sagt, dauert es aber noch Monate bis zur Hochzeit. Das Hauptproblem: Es gibt eine zweite Frau, Fikriye; sie wartet in Ankara auf Kemal. Dieser entscheidet sich schließlich am 29. Januar 1923 spontan für die Heirat mit Latife – und verwandelt dafür ein Teebankett im Haus des Schwiegervaters in eine kleine Feier. Latife trägt ein violettes Tuch, das ihren Kopf bedeckt, und in den Händen hält sie eine weiße Rose. Zwar ist, wie es die Tradition verlangt, ein muslimischer Geistlicher zugegen. Der Brautpreis aber, der die materielle Sicherheit der Frau garantieren soll, wird auf eine sehr niedrige Summe festgesetzt – als Zeichen für die Gleichberechtigung zwischen den Ehepartnern.

Manche Experten sind überzeugt, Mustafa Kemal habe Latife aus persönlichen wie aus „soziologischen Gründen“ geheiratet, schreibt der Turkologe Klaus Kreiser in einer neuen Atatürk-Biografie. Kemal träumt damals davon, sein Land radikal nach europäischem Vorbild zu modernisieren. Dafür nimmt er auch in Kauf, oppositionelle Kräfte und nationale Minderheiten zu unterdrücken. Tatsächlich wird er den Einfluss des Islam zurückdrängen, Staat und Religion voneinander trennen, das Tragen der traditionellen Fes-Hüte verbieten, das metrische System und den gregorianischen Kalender einführen. Vor allem an der Lage der Frauen misst Kemal den Fortschritt; Gesichtsschleier hält er für barbarisch und lächerlich. Wahrscheinlich will er deshalb mit gutem Beispiel vorangehen und selbst eine moderne Türkin heiraten – eine Frau wie Latife.

Diese stammt aus einer so wohlhabenden wie westlich orientierten Familie. Ihr Vater macht als Händler auch an der New Yorker Baumwollbörse Geschäfte. Umgeben von Gouvernanten aus England, von Gärtnern und Bediensteten wird Latife gemeinsam mit ihren Brüdern unterrichtet. Sie spielt Klavier, hat Englisch, Französisch, Deutsch, Latein, Persisch und Arabisch gelernt, interessiert sich früh für das Weltgeschehen, für Kunst und Literatur. Im Jahr 1919 wird sie von der Familie ins britische Kent geschickt: Spätestens hier, an der „Chislehurst Tudor Hall“ Mädchenschule, kommt die nur 1,56 Meter große Frau in Kontakt mit den Gedanken der Suffragetten, der frühen Frauenrechtlerinnen. Anschließend beginnt Latife ein Jura-Studium an der Sorbonne, sie will wohl Anwältin oder Botschafterin werden. Erst die Krankheit der Großmutter führt sie wieder in die Heimat.

Dort, in den Straßen der Türkei, verschleiern damals die meisten Frauen ihre Gesichter völlig. „In der Familie besaßen die Frauen durchaus Macht“, sagt Claus Schönig, Turkologe an der FU Berlin. „In der Öffentlichkeit waren sie aber benachteiligt.“ Zwar gab es Gebildete unter ihnen, verdienten einige als Lehrerinnen ihr Geld. Von Ämtern, von Politik und Wirtschaft blieben sie jedoch weitgehend ausgeschlossen. Vielerorts galt das islamische Erb- und Zeugenrecht, bei dem Frauen nur die Hälfte zählten.

Schon dass Latife ihr Gesicht zeigte, als sie nach der Hochzeit mit Mustafa Kemal durch die Türkei reiste, war eine kleine Sensation. Als erste weibliche Zuhörerin betrat sie das Parlament. Auf Abendgesellschaften in der neuen Hauptstadt Ankara reichte sie den Männern Tee, rezitierte englische Dichter, plauderte wortgewandt über Philosophie und Frauenrechte – und begeisterte damit, zur Freude ihres Mannes, die westliche Presse. „Mrs. Kemal“ breche mit 500 Jahren Tradition, befand die „New York Times“. Der Nachrichtenagentur „AP“ fielen ihre modischen Reitstiefel auf. Und die französische Journalistin Berthe Georges-Gaulis schwärmte 1923 sowohl von Latifes „unglaublich feinem Verstand“ als auch von ihrem „fröhlichen Lachen“. Nachdem Mustafa Kemal am 29. Oktober des gleichen Jahres die Republik ausgerufen hatte und erster Präsident wurde, erlitt er zwei Herzinfarkte; danach kursierte das Gerücht, Latife könne seine Nachfolgerin werden. Er überlebte – und sie blieb seine Assistentin.

Wie viel Einfluss Latife auf politische Entscheidungen hatte, ist schwer einzuschätzen. „Viele Quellen sind unter Verschluss“, sagt der Turkologe Schönig. „Man sollte unbedingt bedenken, dass Atatürk und seine Frau Propagandafiguren sind, die Mustafa Kemal selbst geschaffen hat.“ Ipek Calislar jedenfalls glaubt, Latife habe besonders beim Thema Frauenrechte großen Druck auf ihren Mann ausgeübt. Anders, als man es von ihr erwartete, nannte sie ihn auch nicht „mein Herr“ oder „mein Pascha“, sondern schlicht Kemal.

Als 1935 die ersten weiblichen Abgeordneten in die Nationalversammlung einziehen durften, war das Präsidentenpaar allerdings längst geschieden.

„Atatürk hat die Türkei radikal verändert. Oft hat er die Konsequenzen seiner Handlungen aber erst im Nachhinein begriffen“, sagt Claus Schönig. „Zum Beispiel bei der Sprachreform. Er ließ nicht nur die arabischen Zeichen durch lateinische ersetzen, sondern wollte das Türkische auch von allen persischen und arabischen Lehnwörtern reinigen.“ Als Letzteres in die Wege geleitet wurde, musste Atatürk feststellen, dass seine oft langen Reden unter dem neuen Türkisch litten – da bremste man die Reform einfach aus.

Ähnlich ist zu erklären, warum seine Ehe nach nur zweieinhalb Jahren scheiterte. „Latife war ihm am Ende doch zu emanzipiert“, sagt Ipek Calislar. Im Juli 1925 soll ein Streit das Paar entzweit haben. Worüber die beiden aneinander gerieten, ist unklar. Fest steht, dass Latife nicht bereit war, sich unterzuordnen: Immer wieder wies sie ihren Mann, der Kritik nur schwer ertrug, etwa wegen seines starken Alkohol- und Tabakkonsums zurecht. Sie soll auch sehr eifersüchtig gewesen sein.

Ausgerechnet Atatürk verstieß seine Frau nach alter Sitte. Nur Monate später wäre dies nicht mehr möglich gewesen, denn 1926 übernahm die Türkei das Schweizer Zivilgesetzbuch: Scheidungen wurden erschwert, die Gleichstellung von Männern und Frauen, von Muslimen und Nichtmuslimen festgeschrieben.

Die Trennung war für Atatürk also eine Art persönliche und politische Niederlage. Wohl deswegen versuchte man Latife aus der offiziellen Geschichtsschreibung zu löschen. Dort tauchte sie höchstens noch als rachsüchtiges, cholerisches Frauenzimmer auf. Da sie verstoßen worden war, galt sie für viele als „befleckt“. So habe man Latife Hanim mundtot machen wollen, glaubt Ipek Calislar. Dabei habe Latife, die sich vollkommen aus der Öffentlichkeit zurückzog, bis an ihr Lebensende 1975 an Atatürk gedacht.

Weder Atatürk noch Latife heirateten wieder. In ihren Bankschließfächern fand man nach ihrem Tod jeweils, was beide bis zuletzt aufbewahrt hatten: ihren Ehering.

Ipek Calislar: „Mrs. Atatürk – Latife Hanim“. Orlanda Frauenverlag, Berlin 2008. 272 Seiten. 17,90 Euro.

Klaus Kreiser: „Atatürk. Eine Biographie“ C. H. Beck, München 2008. 321 Seiten. 24,90 Euro.

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