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Rollschuhe: Rock ’n’ Rolls

Vor 250 Jahren wurde der Rollschuh erfunden. Seitdem schreibt er Geschichten von Erhabenheit und aufgeschlagenen Knien.

Ich war sieben Jahre alt, als ich Ende der 70er Jahre mein erstes Paar Rollschuhe zum Geburtstag geschenkt bekam. Es gibt Bilder, die dieses Ereignis dokumentieren, Fotos, die ein sehr glückliches Kind zeigen, das auf Rollen steht und strahlt. Wobei die Betonung auf „Stehen“ liegt – eine, wie sich bald herausstellen sollte, zwingende Voraussetzung für das Strahlen auf Rollen. In der Nähe unserer Wohnung gab es ein abschüssiges Stück Bürgersteig, das zum Üben geeignet schien, jedenfalls behaupteten das andere Kinder, die bereits lässig über den Asphalt glitten. Eine Weile lief alles aufrecht und glatt. Bis zu dem Nachmittag, an dem ich mit blutüberströmter Hand nach Hause gehumpelt kam. Der Nagel meines linken Mittelfingers war bei einem Sturz in der Mitte abgebrochen, das obere Stück fehlte.

Der Unfall brachte mir zunächst nicht unerhebliche Schmerzen, wenige Tage später allerdings ebenso bemerkenswerte Popularität auf dem Schulhof ein, weil ich während ein paar glorreicher Wochen meines Lebens durch leichten Druck auf das Nagelbett meines linken Mittelfingers den verbliebenen Nagelstumpf anzuheben vermochte. Mädchen, die Ekligem nicht nur standhielten, sondern noch dazu in der Lage waren, den Zustand der Ekligkeit selbst herzustellen, standen damals hoch im Kurs. Irgendwann untersagte mir unsere Klassenlehrerin die Präsentation meines Gebrechens. Ein paar Monate später war der Nagel nachgewachsen. Die Rollerskates blieben im Keller.

Die Episode macht deutlich, wie eng Rollschuh, Rumms und Ruhm gemeinhin miteinander verknüpft sind. Denn schon die Vorführung des ersten Prototyps endete 1759, vor 250 Jahren, mit einem großen, mutmaßlich auch schmerzhaften Fall. Um mit seinem Auftritt bei einem Maskenball im Carlisle House zu Soho für Furore zu sorgen, hatte sich der belgische Musikinstrumentenbauer Jean-Joseph Merlin eine außergewöhnliche Gerätschaft gebastelt. Er schraubte jeweils zwei Rollen auf Platten und schnallte diese anschließend an ein herkömmliches Paar Schuhe. Zugrunde lag dem Einfall das Prinzip des Schlittschuhlaufens, das seinerzeit schon hinreichend bekannt war, aber dazu später.

Geige spielend wollte Merlin gleichsam in den Saal schweben und die Anwesenden verblüffen mit seiner ebenso eleganten wie dynamischen Erscheinung. Leider hatte es Merlin versäumt, sich vor seinem Auftritt auch mit der Frage auseinanderzusetzen, wie die fahrenden Schuhe bei Bedarf gestoppt werden könnten. Um es kurz zu machen: Sein Auftritt endet wenig grazil an einer Spiegelwand.

Wir fassen zusammen:

1. Rollen, die rollen, ist selten zu trauen.

2. Nicht jede Idee, die gut klingt, sieht auch gut aus.

3. Selbst Ideen, deren Umsetzung auf spektakuläre Weise scheitert, finden Nachahmer.

4. Grundschullehrerinnen mögen keine halben Fingernägel, die in ihrem Nagelbett auf und ab wippen. Eine womöglich berechtigte, Siebenjährigen aber nur schwer zu vermittelnde Haltung.

Ehe Rollschuhe mit Kugellagern versehen wurden, war jede Gleitfahrt auf Sohlen eine Reise ins Ungewisse. Die Räder ließen sich nicht lenken, wechselten den Lauf in kaum vorhersehbare Richtungen oder verweigerten einfach ganz spontan den Dienst. Wer sich einmal an den vergleichsweise perfektionierten Sportgeräten der Gegenwart versucht hat, kann ermessen, welche Konsequenzen Unwägbarkeiten dieser Art für das körperliche Wohlergehen haben können. Das Jahr 1759 und der Spiegelrumms zu Soho hätten demnach den historischen Punkt markieren können, an dem der Mensch zur Einsicht kam, dass er von Gott weder zum Fliegen noch zum Rollen geschaffen wurde. Punkt. Ich könnte meinen Computer ausschalten, Sie könnten die Sonne ohne Zeitung vorm Gesicht genießen. Aber es kam anders.

Die Menschen ließen nämlich nicht locker. 30 Jahre nach Merlin konstruierte in Holland ein Herr van Lede ein Gerät, das er sehr bodenständig auf den Namen „Patin Terre“, Erdschlittschuh, taufte: eine Art Amphibie, mit der sich im Winter auf Eis und im Sommer auf ebenem Boden gleiten lassen sollte. Trotz Unkenntnis der Lede’schen Krankenakte können wir festhalten, dass auch dieses Unterfangen mittelfristig nicht von Erfolg gekrönt war. Anfang des 19. Jahrhunderts verfiel in Frankreich Monsieur Garcin auf die Variante, dem Schienenrollschuh ein drittes Rad hinzuzufügen und eine Fersenbremse anzubringen, vier Jahre später setzte der Engländer J. Tyer noch zwei Rollen drauf und nannte sein Modell mit fünf Rädern unterschiedlicher Größe kurz „Volito“.

Dass noch mehr Jahre ins Land gehen mussten, bis wiederum ein Franzose, Monsieur Legrand, auf die Idee kam, die wackeligen Räder einfach auf zwei Achsen zu verteilen, um so der freien Fahrt zu mehr Stabilität zu verhelfen, ist zwar erstaunlich, jedoch historisch überliefert. Angeblich soll es ihm dabei vor allem um die Sicherheit der Rollschuh fahrenden Frauen gegangen sein, aber das kann jeder sagen. Vorsichtshalber. Falls etwas schief geht. Und immerhin griff er selbst ebenfalls auf seine Erfindung zurück, als es galt, als Mime im Bühnenstück „Der Prophet“ eine Eislaufszene zu simulieren. Das Publikumsinteresse an der nämlichen Oper des deutschen Komponisten Jakob Liebmann Beer soll übrigens immens gewesen sein – nicht zuletzt aufgrund der Rollschuhszenen auf falschem Eis. 19. Jahrhundert meets Starlight Express.

Seinen Zenith erreichte das Prinzip Vier-Rollen-zwei-Schuhe in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als die Einführung von Kunststoffrädern auf Polyurethanbasis zu mehr Beweglichkeit und Kontrolle der Schuhrollen führte. Rollschuhdiskotheken schossen in der westlichen Welt selbst in ländlichen Gebieten aus dem Boden, was mich als Kind ausreichend motivierte, die Adoleszenz erreichen zu wollen, um dort eines fernen Tages meine eigenen, verwegenen Kreise ziehen zu dürfen (der Fingernagelunfall verschob die Prioritäten dann allerdings insofern, als ich mich fortan verstärkt darum bemühte, die Volljährigkeit überhaupt zu erleben).

Vorbei waren da die Zeiten, in denen die Rollschuhe nahezu ausschließlich Kinderspielzeug waren und praktisch keine Schuhe, sondern Plattformen auf vier Rollen. Auf die stieg das Kind mit seinen herkömmlichen Straßenschuhen und band sich an Schlaufen (die teuerere Version) oder mittels eines Vierkantschlüssels fest. Mit dem Vierkant wurde eine Art seitlicher Klammer, eine Art Schraubzwinge, so lange zugeschraubt, bis die Schuhspitze fest auf der Plattform verankert war. Dann musste nur noch die Fessel ans Gerät angebunden werden, und los ging die rasende Fahrt. Mit zwei Problemen: Lockerte sich die Schraubzwinge, was häufig vorkam, hatte das rollende Kind ein Problem, weil zum Beispiel der linke Fuß ordnungsgemäß weiterrollen wollte, der rechte aber abrupt rollenlos geworden war und das Gefährt nur noch sinnentleert um die Fessel baumelte. Das zweite Problem: Den Vierkantschlüssel galt es, immer bei sich zu tragen. Da aufzubewahrende Schlüssel und rollende Kinder naturgemäß nicht zusammengehören, weil sie ohnehin nicht zusammen bleiben, konnte es passieren, dass am Ende eines aufregenden Roller-Tages der Fuß quasi verwachsen war mit dem Rollschuh, weil sich die Zwinge ohne Vierkantschlüssel partout nicht lösen wollte. Daraus ergab sich dann ein drittes Problem: Der Streit mit der Mutter. Der feste Schuh der 70er Jahre mit seinen weichen Rollen war wirklich eine echte Innovation und Bereicherung.

Leider entstehen nur wenige Dinge aus reinem Spaß an der Freude, und so findet auch das Rollschuhfahren seinen Ursprung in einer nachgerade überlebenswichtigen Notwendigkeit, nämlich der Überquerung vereister Flüsse und Seen. Als Menschen im Jahr 1000 vor Christus aus Pferdeknochen Kufen schnitzten, ging es vor allem darum, sich überhaupt einigermaßen stabil auf Eis bewegen zu können, Grazie hin oder her. Die Kufen wurden mit Riemen an den Füßen befestigt. Läufer stießen sich mit Stöcken am Boden ab, um Fahrt aufzunehmen.

Als Erster soll ein gewisser W.F. Stephen im 12. Jahrhundert in lateinischer Sprache schriftlich Zeugnis darüber abgelegt haben, wie das Transportmittel zum Spaßknochen geriet. Die Läufer seien, schrieb Stephen, „so schnell wie ein Vogel in der Luft oder der Bolzen aus einer Armbrust“. In barrierefreier Umgebung fraglos eine schöne Vorstellung. Die ersten Metallkufen wurden vermutlich in Holland gebaut, Belege für ihre Existenz gibt es seit dem Jahr 1483. Ihre 2500 Jahre Entwicklungsvorsprung hatten die Schlittschuhentwickler genutzt, um auch ein paar Gedanken auf dazugehörige Bremskonzepte zu verwenden. Die Kufen reichten deshalb bis ins 19. Jahrhundert nicht über die Fersen hinaus, um mit den beiden Enden stoppen zu können.

Zur Zeit, als der belgische Musikinstrumentenbauer Merlin seine Schmach im Carlisle House zu Soho tausendfach in Scherben gespiegelt sah, galt das Schlittschuhlaufen in Europa bereits als beliebter Breitensport. Lessing und Goethe sollen dabei viel Enthusiasmus an den Tag gelegt haben. Wenngleich Goethe nicht, wie viele Jahre später einmal irrigerweise kolportiert wurde, auf einer Eisfläche hinter dem Frankfurter Bahnhof. Selbst Frauen durften auf Kufen über gefrorene Flüsse und Seen gleiten, ohne um ihr weibliches Ansehen fürchten zu müssen. Obwohl vor der Anmut die Geschwindigkeit stand: Wurde das Eisschnelllaufen schon 1763 in England als Wettbewerbssport praktiziert, fand die erste Kunstlaufmeisterschaft erst 1890 in Nordamerika statt. Der Drang aber, den Sport vom Eis auf die Erde zu holen, dauerte an.

Vielleicht ist es ein Zeichen historischer Gerechtigkeit, dass uns der Name des Mannes, der dem Prinzip Rollschuh durch eine eher entfernte Innovation zum Durchbruch verhalf, bis heute ein Begriff ist, während all die Rollenschrauber mit ihren wackeligen Konzepten in Vergessenheit geraten sind. Es war Charles Goodyears Erfindung des Vulkanisierens, die es dem New Yorker J.L. Plimpton erst möglich machte, die Rollen seiner Skates mit gummigelagerten Achsen auszustatten, was die Drehbarkeit gewährleistete. Nur drei Jahre später eröffnete in Newport, USA, die erste öffentliche Rollschuhbahn. Im „Coliseum“ in Chicago sollen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu 7000 Besucher pro Abend auf Rollen im Kreis gefahren sein – ein Trend, der durch das Hinzufügen von schwungvoller Musik in den Rollerdiscos der 70er und 80er Jahre noch an Fahrt aufnahm. Allein in den Vereinigten Staaten gab es damals mehr als 4000 dieser Etablissements. 2005 lebte diese Zeit noch einmal zumindest im Film auf, in Roll Bounce, einem allerdings eher etwas mediokren Werk.

War es zeitgenössischer Übermut, der die Ingenieure der Chicago Skate Company dazu bewog, sich das Merlin-Konzept des Schienengleitens noch einmal vorzunehmen? Ein trotziges Aufbegehren gegen die scheinbaren Grenzen der Entwicklung? Immer wieder kehrte man in Chicago zur Idee der Rollen auf einer Linie zurück. Und immer wieder scheiterte man. Bis ein Eishockeyspieler namens S. Olson ein Paar der Testreihe in die Hände bekam und anfing, so lange an Materialkombinationen zu tüfteln, bis er mit Unterstützung seines Bruders und einem präsentablen Modell 1983 die Firma Rollerblade Inc. gründete. Die Olsons selbst hielten sich nicht lange am Markt, verkauften ihr Unternehmen nur ein Jahr nach Gründung. Ihr Konzept aber funktionierte. Bereits zehn Jahre später gab es allein in den Vereinigten Staaten mehr als 19,5 Millionen Inline-Skates. Die Rollschuh-Diskos haben diese Entwicklung – vielleicht auch gut so – nicht überlebt, der menschliche Drang zur rollenden Fortbewegung gleichwohl einen enormen Anschub bekommen, wenn auch zweiachsige Rollschuhe nur noch etwas für Liebhaber sind.

Monsieur Merlin, der vor unserem geistigen Auge eben noch als tumber Tor durch die Spiegelsäle der Geschichte eierte, erweist sich demnach bei genauerer Betrachtung als raffinierter Visionär. Sein Geist war willig und höchst innovativ, allein das Material war schwach! Womöglich war der einzige Haken an seiner Idee sogar nur der Riemen, mit dem er seine Füße an die Räder band. Als Surfer in den USA zu Beginn der 60er Jahre versuchten, auch ihren Sport auf festen Boden zu übertragen, experimentierten sie mit einfachen Brettern auf Rollen. Auf der Unterseite der Planken befestigen sie zerlegte Rollschuhe – und schufen damit die ersten Skateboards.

Hätte Merlin die vier Rollen nicht auf zwei Bretter verteilt und an seine Schuhe geschnallt, wäre er stattdessen auf einem einzigen Stück Holz ins Carlisle House zu Soho geglitten, Buffettische als Halfpipe nutzend, würden womöglich noch heute junge Männer in tief sitzenden Hosen den Namen Jean-Joseph Merlin auf ihrer Brust tragen, auf Baseballkappen und Schweißbändern. Die Geschichte ist ungerecht. Aber die Gegenwart ist auch nicht ohne Tücken.

Ich jedenfalls halte es für eine Harke des Schicksals, dass immer ich und immer dann, wenn ich mich auf Rädern bewege, im Auto nämlich, sommers ganz gewiss an einer Straßenkreuzung lande, die Minuten zuvor für eine Prozession von Inline-Skatern gesperrt worden ist. Hunderte sind es, die aufreizend mühelos und frei von Anstrengung über den Asphalt gleiten, mit gepolsterten Händen und geschützten Knien. Ich rollte ungeschützt, und so bilden diese Inliner vor mir an der Kreuzung eine heranrollende, an mir vorbeidonnernde Erinnerung an mein eigenes Versagen. Und solche Prozessionen sind inzwischen nahezu überall nahezu täglich zu beobachten. Aus ganz verschiedenen Gründen möchte ich diesen Menschen dann meinen einst lädierten linken Mittelfinger entgegenstrecken und sagen: Stop! Haltet ein! Aber sie hören mich nicht. Und manchmal, während ich im Rückspiegel zusehe, wie sich der Verkehr staut, kommt es mir vor, als hätte ich gerade auf meiner Rückbank einen Musikinstrumentenbauer aus Belgien kichern gehört.

Karin Ceballos Betancur

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