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Literatur: Mein Joseph Conrad

Seine Bücher sind Weltliteratur, sie spielen in den exotischsten Gegenden Afrikas und Asiens. Manche halten ihn für einen Rassisten. Hier würdigt ihn ein britischer Experte.

Vor 150 Jahren wurde der berühmte englische Schriftsteller Joseph Conrad geboren. Und das ist genau eine jener trügerisch einfachen Feststellungen, denen uns Conrad mit all seinen Büchern zu misstrauen gelehrt hat. Denn er kam in der Stadt Berdytschew in der Ukraine zur Welt – nur, genau genommen war es gar nicht die Ukraine, in früheren Jahrhunderten, bevor die Grenze verschoben wurde, gehörte die Stadt zu Polen. Sein Taufname war eigentlich Jozef Teodor Konrad Korzeniowski, und er wuchs mit Polnisch, Russisch und Französisch auf. Erst in seinen Zwanzigern versuchte er ernsthaft, Englisch zu lernen, sein ganzes Leben lang sollte er es mit einem starken mitteleuropäischen Akzent sprechen.

Trotz seiner adligen Herkunft (als ihm später ein nicht vererbbarer, britischer Titel verliehen werden sollte, lehnte er den als seiner unwürdig ab) arbeitete Conrad als Hilfsmatrose, bevor er sich selbst – ziemlich modern – als Schriftsteller neu erfand. In jenen Jahren umsegelte er die Welt – Asien, die Westindischen Inseln, Afrika, all die Orte, die später in seinen Romanen vorkommen sollten, er arbeitete sich hoch vom zweiten zum ersten Steuermann und schließlich zum Kapitän, er sammelte die Erfahrung und das Wissen, aus dem er Zeit seines Lebens schöpfen sollte. Eine ganze biografische Industrie hat sich der Aufgabe gewidmet, den Themen seiner Werke in seinem eigenen ereignisreichen Leben nachzuspüren, seinen Liebschaften, seinen Schmuggeleien und Waffenschiebereien, seinem versuchten Selbstmord. Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir Conrad heutzutage als einen manisch Depressiven betrachten würden, mit einem ausgeprägten Hang zur Melancholie. Einige Kritiker sehen in seinem gesamten Werk nichts anderes als den Versuch, sich selbst zu therapieren.

Conrad war lange ein Liebling des britischen Lehrplans, und er hat mich mein Leben lang verfolgt. Er galt als ideale Lektüre für Schuljungen, weil er Abenteuer, Exotik, männliche Werte und ordentliche Sätze beinahe ohne jeden Sex rüberbrachte. Vielen fällt es immer noch schwer, sich ihm als Autor zu nähern, weil sie fest davon überzeugt sind, dass er eigentlich eher so eine Art Medizin sei, irgendwie gut für einen, wie kalte Duschen und Geländeläufe. Sein Englisch, das muss einmal gesagt werden, ist bizarr und sehr un-englisch. Es riecht nach Wörterbuch und Lampenöl, es ist pingelig, zu grammatikalisch – eben genau das Englisch, das man uns beibringen wollte.

Meinen ersten Kontakt mit Conrad hatte ich mit 13 Jahren. „Der Freibeuter“ von 1923, sein letztes Werk, spielt im revolutionären Frankreich. Ein Mann ringt vergeblich darum, der Welt zu entsagen und den Abenteuern und Verpflichtungen seines früheren Lebens den Rücken zuzukehren. Ich nahm es mit auf meine erste Reise nach Frankreich, und es brachte mich dazu, die Dinge aus französischer Sicht zu sehen. Damals, als 13-Jähriger, sah ich in dem missglückten Versuch, sich von der Welt abzuwenden, etwas Positives, war das doch der Beweis, wie unwiderstehlich all das ist, was da draußen noch auf einen wartet. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. Es war vielleicht der erste moderne Roman, den ich je gelesen habe, nicht chronologisch, aus vielfältigen, widersprüchlichen Perspektiven erzählt. Und ich kann mich noch daran erinnern, wie enttäuscht und betrogen ich mich fühlte, als ich merkte, dass die Zeitfolge unmöglich ist und nicht funktioniert. Aber immerhin wagte ich mich nach „Der Freibeuter“ an das Buch, das als sein größtes und sicher bedeutendstes Werk gilt: „Das Herz der Finsternis“. Denn ich war besessen von einer romantischen Afrikavorstellung.

Das Buch basiert auf Conrads eigenen Erfahrungen als Kapitän eines Flussdampfers auf dem Kongo zur Zeit des Kongo- Freistaats, als Leopold II. von Belgien das unermesslich große Land zu seinem persönlichen Eigentum erklärt hatte. Die Einheimischen, die niemals zuvor von Leopold gehört hatten, waren plötzlich seinen unberechenbaren Forderungen ausgeliefert, mussten Gewalt, Verstümmelung und Tod fürchten, wenn sie sich seiner Gier oder der seiner Handlanger widersetzten. Die abscheulichsten Grausamkeiten wurden verübt, gründlich dokumentiert durch den britischen Revolutionär Roger Casement. Die Briten hängten ihn später auf.

Conrads Buch ist angelegt wie eine lange Reise den Fluss hinauf, immer näher heran an den mysteriösen Agenten Kurtz, der von den Einheimischen als Gott verehrt wird, immer weiter weg von der Zivilisation und hinein in die metaphorische Dunkelheit und Wildnis. Aber nicht nur in die Wildnis Afrikas: Die Botschaft ist, dass diese Wildnis in uns allen lauert, und vor allem tief im Herzen der Zivilisation selbst. Kurtz und Marlow, der Erzähler, sind typisch Conrad’sche Helden, voller Fehler, gejagt, und aufrichtig nur in ihrem Wissen um die Gräuel in ihrer eigenen Seele.

Das Buch ist alles andere als eine nette Lektüre, eindrucksvoll beschwört es Vereinsamung, Verderben, Verzweiflung und Leiden. Beinahe hätte es mich davon abgehalten, überhaupt Anthropologe zu werden – meine Eltern hatten es auch gelesen – und ganz sicher wehrte ich mich deshalb mit Händen und Füßen dagegen, Feldforschungen im Herzen Afrikas leisten zu müssen. Ich war wie gelähmt, als mich dieses Schicksal dann doch einholte.

Dort, in Afrika, stieß ich auf nicht gerade wenige Conrad’sche Charaktere unter den Europäern, aber, Gott sei dank, auf überhaupt keine Conrad’schen Afrikaner. Anstelle von Schwermut entdeckte ich das Lachen. Nicht nur aus meinem Dorf schallte mir ständig Gelächter entgegen, mit bestimmten Gruppen konnte man sich ausschließlich in Witzen unterhalten. So entdeckte ich die Schwachstelle von Conrads Helden: Sie nahmen sich viel zu ernst, ihnen fehlte jeder Sinn für Selbstironie. Echte Menschen, und zwar überall auf der Welt, sind nicht so.

Der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe provozierte 1975 einen Sturm im Wasserglas der Afrikanistik, als er das Buch als „rassistisch“ verurteilte. Seine Reaktion zeugte vor allem von unangemessenen Ressentiments, weil es keine afrikanische Perspektive in afrikanischen Belangen einnehme, sondern ein „europäisches“ Buch über Afrika sei – das allein war für ihn schon ein unerträglicher Akt der Unterdrückung. Man könnte sich genauso gut angegriffen fühlen, wenn ein Afrikaner ein Essay über „europäische“ Literatur schriebe, was manche tatsächlich schon taten. Es stimmt natürlich, dass die Einheimischen keine Stimme in Conrads Asien und Afrika haben. Sie formulieren selten einen schlüssigen alternativen Standpunkt. Abgesehen von der Subtilität seiner eigenen Botschaft half Conrad dabei, in unseren Köpfen ein Bild zu etablieren: Afrika ist der Ort, an dem das Desaster zu Hause ist, ein Ort, der nur von außen gerettet werden kann.

Mein erstes Buch, „Traumatische Tropen“, kann als ein Versuch gesehen werden, diesen Dämonen der düsteren Conrad’schen Sicht und der pompösen akademischen Vision von Afrika etwas entgegenzusetzen. Kein Wunder, dass die Vereinigung der Anthropologen, selbst eine gequälte Seele, der jegliche Selbstironie abgeht, versuchte, mich rauszuschmeißen.

Später, übertragen auf Südostasien, wurde „Das Herz der Finsternis“ die Vorlage für „Apocalypse Now“, einen der stärksten Filme gegen den Vietnamkrieg. Zu dieser Zeit hatte es mich auch in die Region verschlagen. Ich beschloss, die Bücher „Der Verdammte der Inseln“ von 1894, „Almayers Wahn“ von 1894 oder „Lord Jim“ von 1900 mit ihren ausgebrannten, moralisch zweifelhaften und kaputten Helden nicht zu lesen. Erst nach meinem Besuch in Sarawak auf Borneo hatte ich das Gefühl, dass mein eigener Eindruck von der Region stark genug war, um Conrads literarische Version lesen zu können.

Conrad war ziemlich geschickt darin, Geschichte und Nachrichten seiner Zeit in seine Bücher einzuflechten. „Lord Jim“ bezog sich auf zwei Quellen: Die erste ist eine unrühmliche Episode in der Geschichte der britischen Handelsmarine. 1880 segelte die „SS Jeddah“ mit muslimischen Pilgern an Bord von Singapur nach Dschidda. Nach einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten schien es so, als ob das Schiff nicht mehr seetauglich sei, es wurde von der britischen Besatzung verlassen, die nur an ihre eigene Rettung dachte. Nachdem die Crew ihr Märchen von gewalttätigen Passagieren und Schiffbruch erzählt hatte, kam die Blamage: Das Schiff wurde sicher in den Hafen von Aden geschleppt. Eine öffentliche Untersuchung folgte, die Offiziere fielen in Ungnade.

Hier steigt Conrad ein und erzählt die Geschichte von Jim, einem der bloßgestellten Männer, und er verknüpft sie mit dem Leben James Brookes, eines britischen Abenteurers, der sich selbst zum unabhängigen Herrscher des Königreichs Sarawak auf Borneo ernannte hatte und eine eigene Dynastie gründete, die 100 Jahre lang Piraten, Kopfjägern und rebellischen Chinesen trotzte. Conrads Buch hat immer noch ein fantastisches Gespür für Zeit und Ort, aber schon wenige Nachforschungen zeigten, dass der wirkliche James Brooke noch viel außergewöhnlicher und zweifelhafter war als Conrads fiktive Figur. Der heimliche Homosexuelle wurde zunächst als Nationalheld verehrt, sank dann zu einem ethnischen Säuberer herab und stieg erneut auf zu einem Vorbild kolonialer Rechtschaffenheit – und das alles innerhalb weniger Jahre. Auch er musste sich einer öffentlichen Untersuchung stellen und endete als Geisteskranker.

Ergebnis dieser Recherchen war mein Buch „White Rajah“, das Brookes öffentliches und privates Leben über zwei Kontinente hinweg nachzeichnet. Der fundamentale Unterschied zwischen Conrad und mir ist, dass er ein Leben außerhalb Europas immer als schreckliche Strafe sah, nur erklärbar durch irgendeinen düsteren Zwang. Für mich dagegen – genau wie für James Brooke – war Südostasien immer eine großartige Region zum Leben, gerade als Ausländer mit diesem Gefühl von Freude an der Fremdheit. Und damit ich überhaupt nach Hause kam, musste man mich jedes Mal ins Flugzeug schleifen und zum Einsteigen regelrecht zwingen. 20 Jahre später bin ich immer noch in Kontakt mit den ersten Freunden, die ich dort gefunden habe. Manchmal, mitten in der Nacht, klingelt mein Telefon und ich weiß: Da haben sich ein paar von ihnen in eine Telefonstation geschlichen, irgendwo hoch in den Bergen, tief im Wald – wo Conrad „Das Herz der Finsternis“ hätte spielen lassen –, sie nutzen die Tatsache aus, dass sie den Wächter dort kennen, um einen Anruf zu stehlen, um schnell Hallo zu sagen und einander lachen zu hören, von entgegengesetzten Seiten der Erde.

Einig sind Conrad und ich uns darin, dass James Brooke im Herzen immer Seefahrer geblieben ist, mit der einfachen Rechtschaffenheit eines Seemanns. Diese neue Sicht auf Conrads Helden inspirierte mich zu dem Protagonisten meines jüngsten Buches: „Rogue Raider: The Tale of Captain Lauterbach and the Singapore Mutiny“. Julius Lauterbach ist ein vergessener deutscher Seeheld aus dem Ersten Weltkrieg, als die deutsche Pazifikflotte den Auftrag bekam, vor der amerikanischen Küste zu operieren – mit Ausnahme eines einzigen Schiffs: der Emden, eines leichten Kreuzers, der wie ein Piratenschiff die Alliierten plündern und versenken sollte. Die kleine Emden legte ungefähr 70 Schiffe der alliierten Marine lahm und unterbrach die Truppentransporte von Australien und Neuseeland zur Westfront – bis sie einem schwerbewaffneten Kriegsschiff zu nahe kam und in Stücke geschossen wurde.

In der offiziellen deutschen Version dieser Geschichte, verfasst für Propagandazwecke während des Ersten Weltkriegs, ist Lauterbach ein Fanatiker in Schaftstiefeln, der den ehrenhaften Tod im Dienste des Kaisers sucht und die Alliierten abgrundtief hasst. Doch das ist ziemlich unglaubwürdig, Lauterbach hatte vor und nach dem Krieg ausländische Freunde, später wurde er amerikanischer Staatsbürger. Anders als Conrad konnten die Propagandaleute nicht erkennen, dass jemand wie Lauterbach Fragen der Nationalität und des Passes gar nicht interessierten. Für ihn verlief der Graben zwischen der internationalen Gemeinschaft der Seefahrer, die einander respektierten, und den verachtenswerten Landratten. In ihrem Mangel an Humor glichen sie Conrad jedoch, sie nahmen ihm jeden Witz, dabei ist der doch unverzichtbar für seine Geschichte.

Lauterbach erlaubte sich einen Scherz, der beinahe den Lauf der Weltgeschichte verändert hätte. Er machte seinen muslimischen indischen Wächtern in Singapur weis, dass der deutsche Kaiser zum Islam übergetreten sei, die Kaiserin nun Fatima heiße, einen Schleier trage und der Kronprinz sich unter dem Beifall des Volkes in der neuen Moschee Berlins, früher bekannt als Opernhaus, öffentlich habe beschneiden lassen. Die Inder glaubten ihm, und da es ihnen schon lange schwerfiel, gegen die türkischen Glaubensbrüder zu kämpfen, eroberten sie Singapur für ein paar Wochen. Sie erschossen ihre britischen Offiziere, schnitten den loyalen Malaien die Hälse durch und teilten das Britische Empire in zwei Hälften. Die Briten fürchteten, dass eine Revolte in Indien folgen würde, und nur mithilfe japanischer Truppen konnte die Kolonie wieder stabilisiert werden. Lauterbach, ein Seemann eben, entkam übers Meer auf die holländischen Ostindischen Inseln und wurde dann von britischen Agenten durch die ganze Welt verfolgt. Nach vielen weiteren Heldentaten wollte er zurück nach Deutschland – aber ihm wurde die Einreise verweigert, weil seine Papiere nicht in Ordnung waren. Er wird sicher auch das lustig gefunden haben. Eine Haltung, die Conrad fremd gewesen wäre.

Conrads Welt ist eine düstere Welt. Sie spiegelt die Haltung eines Europäers wider, der eine fremde Sicht nicht verstehen und akzeptieren, sondern ändern will. Was ihn in meinen Augen rehabilitiert, ist seine Botschaft, dass Nationalität immer Zufall ist und eine sehr schwache Lebensgrundlage. Denn in der Gruppe sind Menschen zu grauenvollen Taten fähig, für seinen Seelenfrieden ist jeder für sich allein verantwortlich. Doch das gilt auch für die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen, etwas, was Conrad nie gelernt hat.

Aus dem Englischen von Anna Kemper

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