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Neuanfang. Jack Barsky wuchs in der DDR-Provinz auf. Damals entwickelte der sowjetische Geheimdienst Interesse an ihm.

© Mike Wolff

Geschichte eines KGB-Spions: „Ich habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen“

Er war überzeugter Kommunist, spionierte für den KGB in Amerika und ließ seine Familie in der DDR jahrzehntelang im Ungewissen. Dann kehrte Albrecht Dittrich als Jack Barsky zurück.

Der kleine Mann trug einen dunklen Mantel, als er eine Existenz vernichtete. Er war etwa 40, und den entscheidenden Satz presste er in gebrochenem Englisch heraus: „Du musst nach Hause kommen, oder du bist tot.“ Dann verschwand er in der Menge, die auf einem U-Bahnsteig in New York in die Abteile drängte.

„Oder du bist tot.“ Der Satz hatte für Jack Barsky den Klang eines Donnerhalls. Es war eine Botschaft: „Flieg sofort in die DDR oder in die Sowjetunion.“ Der kleine Mann war Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes KGB.

Jack Barsky auch.

Er wusste nicht, ob er den Satz wörtlich nehmen musste. „You’re dead“ kann im US-Slang auch bedeuten: „Du bist aufgeflogen.“ Vielleicht also hatte das FBI ihn, den Computerfachmann, den Sowjetspion, enttarnt. Andererseits, mit dem KGB war nicht zu spaßen, vielleicht war es ja wirklich eine Todesdrohung.

Der echte Jack Barsky lag auf einem Friedhof

An diesem kalten Dezembertag 1988, auf einem zugigen Bahnsteig in Queens, entschied Jack Barsky: Ich bleibe hier, in den USA. Ich beende ab sofort meine Existenz als Agent. Den Spion Albrecht Dittrich, geboren 1949 in einem Dorf in der DDR, in Ost-Berlin und Moskau zum Agenten ausgebildet, seit Herbst 1972 beim KGB, den wird es nicht mehr geben. Der Privatmann Dittrich wird weiterleben, aber in den USA kannte niemand diesen Namen. Da war er Jack Barsky. Niemand wusste, dass er die Identität eines Toten übernommen hatte. Der echte Jack Barsky lag auf einem Friedhof in Maryland, gestorben mit elf Jahren.

Barsky vernichtete seine Geheimschriften, schleuderte sein Funkgerät in den East River und schrieb dem KGB eine verschlüsselte Botschaft. „Ich habe Aids, ich kann mich nur in den USA behandeln lassen, ich kann nicht zurück.“ Ein riskanter Versuch, aber der KGB glaubte ihm.

30 Jahre später sitzt Barsky in einem Hotel in Berlin, ein großer Mann mit schütterem Haar und Gesichtszügen, die an einen porösen Stein erinnern. Aids war natürlich eine Lüge. „In Wahrheit“, sagt er, inzwischen 69 Jahre alt, „hat mich Chelsea zurückgehalten. Nur sie.“

Wie er Frauen behandelt hat, nennt man Sünde

Chelsea war im Dezember 1988 17 Monate alt. Barskys Tochter. Wie sollte er dieses Kind mit den schwarzen Locken und ihre Mutter, seine damalige Frau Penelope, aus der Ferne gut versorgen?

Und so war die Liebe zu Chelsea der Beginn des dritten Lebens des Albrecht Dittrich alias Jack Barsky. Nun war er reiner Familienmensch, Spion a. D.

Doch die Schattenseiten seines zweiten Lebens, die hatte er nicht abgestreift. In Ost-Berlin wohnte noch eine Ehefrau von ihm, mit dem gemeinsamen Sohn. Sie wusste von Jack Barsky, der Mission ihres Mannes, aber nichts von Penelope und Chelsea. Doch ihr Mann war ja seit 1988 tot. Aids, hatte ihr der KGB gesagt.

Heute sagt Barsky: „So, wie ich Frauen behandelt habe, nennt man das Sünde.“ Aus dem glühenden Kommunisten, von Lenins Ideen beseelt, ist ein tiefgläubiger Mensch geworden: „Ich bin totaler, aber nicht wütender Antikommunist. Kommunismus ist eine romantische Idee, doch nicht zu verwirklichen.“

Er lebt in Atlanta, Georgia, mit seiner mittlerweile dritten Ehefrau. Sie brachte ihn zum Glauben, ihre gemeinsame Tochter ist sieben.

Ohne Rosi wäre er wohl nie Spion geworden

Sein zweites Leben, die Existenz als KGB-Spion, konnte Barsky nur kontrollieren, weil Lügen und extreme Verdrängung von bestimmten Nachrichten seinen Alltag prägten. Der 69-Jährige sagt: „Ohne Verdrängung kann man so nicht leben.“ Er hat ein Buch über dieses Leben geschrieben, er ist damit auf Lesereise.

1948-1978: Sein Leben in der DDR. Albrecht Dittrich studierte Chemie und war auf dem Weg zur Professur.
1948-1978: Sein Leben in der DDR. Albrecht Dittrich studierte Chemie und war auf dem Weg zur Professur.

© promo

Rosemarie Meinhart beobachtet ihn prüfend. Sie sitzt neben ihm, eine elegante Frau, ein Jahr älter als Barsky, einen Schal luftig um den Hals gebunden. Sie kommt aus seinem ersten Leben, die blonde Frau war seine große Liebe, als beide noch in Spremberg zur Schule gingen. Damals kannte sie Albrecht Dittrich, den Topsportler mit den Bestnoten, der sich nach dem Besonderen sehnte. „Rosi“, wie er sie nannte, hatte ihn wegen eines anderen verlassen.

Vor vier Jahren haben sie sich erstmals wiedergesehen, jetzt haben sie sich verabredet. Verlegen sagt die 70-Jährige: „Hätte ich mich damals für ihn entschieden, wäre er das alles nie geworden.“ Ohne sie gäbe es Jack Barsky, den amoralischen Spion, nicht. Ihre Zurückweisung ermöglichte erst jenes Verhalten, mit dem ihr Schulfreund sein Leben als Spion durchhielt. Nach ihrem „Nein“ legte er eine Schutzmauer um seine Seele, er wollte sich nie mehr von Gefühlen leiten lassen. Damit endete auch das Leben des Diplomchemikers Dittrich, der Professor werden wollte. Der KGB hatte ihn zu der Zeit schon lange geprüft. Ein Topkandidat als Agent musste zehn Charaktermerkmale besitzen. „Ich hatte neun“, sagt Barsky. „Am besten gefiel mir, dass ich eine gut gezügelte Abenteuerlust hatte, die man kontrollieren kann.“

Ein Überläufer hatte ihn verraten

1978-2004: Sein Leben als KGB-Spion. Barsky arbeitete in den USA in einer Versicherungsgesellschaft.
1978-2004: Sein Leben als KGB-Spion. Barsky arbeitete in den USA in einer Versicherungsgesellschaft.

© promo

Der KGB schickte ihn in die USA, ab Herbst 1978 lebte er in New York. Er sollte wichtige Leute kennenlernen. Das klappte zwar nicht, aber er studierte Informatik, arbeitete in einer Versicherungsgesellschaft und empfahl dem KGB 40 bis 50 Studenten, die als Spione infrage kommen könnten. Das FBI hatte keine Ahnung von dem KGB-Mitarbeiter Barsky. Der flog erst 1991 auf. Ein Überläufer hatte ihn verraten. Nach jahrelanger Überwachung wurde Barsky 1997 verhaftet. Weil er mit dem FBI kooperiert hatte, blieb er straffrei.

Doch das Leben bis zum Abschied vom KGB war vor allem eines, in dem er Vertrauen missbrauchte. „Er hinterließ emotionale Verwüstung“, sagt Rosemarie Meinhart. Das erfuhr sie natürlich alles viel später. Ein Opfer dieser Verwüstung war Christiane, seine Freundin, die er 1980 in der DDR bei einem Heimaturlaub geheiratet hatte. Wenn er sie besuchte, brachte er teure Geschenke mit. Eine Perlenkette, edle Kleider. Sie ging davon aus, dass er fest in die DDR zurückkommen würde. Seiner Mutter und Freunden erzählte er, dass er in Kasachstan bei einem Weltraumprojekt arbeiten würde. Judith Dittrich wird bis zu ihrem Tod ihren Sohn weder sehen noch hören.

Dieser Sohn lebte in den USA innerlich lange gespalten, er merkte es nur über Jahre hinweg nicht. In seiner Gedankenwelt war er vor allem der überzeugte Kommunist. Der Mann, der die USA wegen des Vietnamkriegs hasste und wegen ihrer Rolle beim Militärputsch in Chile. Die Verdrängung funktionierte noch ausgezeichnet, ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken. Die Toten an der Mauer? Nahm er nicht zur Kenntnis, er wollte es nicht. „Ich wusste nicht, dass Ungeziefer hervorkommt, wenn man den Stein umdreht“, sagt er heute. „Wir waren doch immer noch die antifaschistischen Kämpfer.“ Rosemarie Meinhart schaut ihn an, leicht schüttelt sie den Kopf.

„Ich habe den Teufel nicht erkannt“

„Du warst ganz schön verblendet.“

„Ja, ich habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Aber ich habe den Teufel nicht erkannt. Er hat sich verstellt.“

„Ich wurde nach dem Studium in die staatliche Plankommission vermittelt. Da sind mir alle Klappen aufgegangen, da merkte ich, was das für eine Lügerei ist. Wenn wir zu dem Zeitpunkt mehr Kontakt gehabt hätten, hättest du, glaube ich, diese KGB-Laufbahn nicht eingeschlagen.“

„Das ist möglich. Man braucht aber Zeit, um diese Verblendung loswerden zu können. Damals war doch die DDR im Aufschwung. Ich weiß nicht, ob es mir sehr geholfen hätte, wenn man mir gesagt hätte, alles in der DDR ist gelogen. Es ist ein Luxus, dass ich mich langsam entgiften konnte.“

Denn diese USA führten nicht bloß Krieg und unterstützten Diktatoren, dort gab es auch einen Alltag. „Uns hat man in der DDR erzählt, Versicherungen seien die schlimmsten Unternehmen“, sagte Barsky in Berlin. Aber in New York arbeitete er selber bei einer. „Und ich fühlte mich wohl.“ Netter Chef, nette Kollegen, gutes Gehalt, kostenloses Essen in der Kantine. „Mein Feindbild“, sagt Barsky, „hat sich so langsam aufgeweicht.“

Er heiratete Penelope nur aus Mitleid

Er spürte es zum Beispiel nach dem Einbruch in seine Wohnung. Der KGB dachte an das FBI und riet Barsky zur schnellen Rückkehr. „In der DDR“, sagt Barsky heute, „hätte ich einen Lada gehabt, eine wunderschöne Wohnung, sogar Telefon. TELEFON. Das muss man sich mal vorstellen. Ich wäre als Held in die DDR zurückgekommen.“ Und natürlich warteten dort Frau und Kind.

Aber Barsky blieb aus zwei Gründen, typisch für seine Zerrissenheit. „Ich wollte wieder zu meinen Kollegen.“ Dann aber auch: „Ich habe mich tatsächlich schuldig gefühlt. Ich war erstmals nicht Klassenbester. Ich hatte ja bis dahin keine großen Geheimnisse abgeliefert.“

Also blieb er, und im Dezember 1986 heiratete er Penelope. Eigentlich nur aus Mitleid. Sie stammt aus Guyana, sie wollte durch die Heirat an einen US-Pass gelangen. Vereinbart war danach eine Trennung. Doch dann, ungeplant, wurde Chelsea geboren. Danach kam auch Jessie auf die Welt, Chelseas Bruder. Diese Familie bildete nach seinem Ausstieg das Zentrum im Leben des Jack Barsky. Alles, was mit DDR und Gesamtdeutschland zusammenhing, hatte er abgehakt. Der Mauerfall? „Ich staunte, mehr nicht.“ 2006 ließen Penelope und er sich scheiden.

Seine Mutter zu belügen, fiel ihm nicht schwer

Seit 2007: Rückkehr in ein normales Leben.
Seit 2007: Rückkehr in ein normales Leben.

© promo

Doch Judith Dittrich hatte ihren Sohn nicht abgehakt.

Das Thema steht in Berlin im Raum, Rosemarie Meinhart blickt Jack Barsky eindringlich an.

„Deine Mutter hat mal durch Zufall eine Frau aus meinem Heimatdorf kennengelernt. Zu der sagte sie: ,Sie kennen doch bestimmt die Rosi. Können Sie die nicht mal fragen, ob sie weiß, wo mein Sohn ist?‘“

„Meine Mutter fragte jeden, den sie finden konnte. Sie hat auch an Gorbatschow und Siegmund Jähn, den DDR-Kosmonauten, geschrieben. Keine Antworten.“

„Ihr hattet kein gutes Verhältnis.“

„Nein, sie hat mir nie gezeigt, wie man liebt. Jetzt verstehe ich das. Ihre Eltern waren genauso. Sie konnte es nicht lernen. Ich hatte damals keine Gedanken an meine Mutter, das habe ich total unterdrückt. Emotional fiel es mir nicht schwer, sie zu belügen. Sie hätte ja sofort geplappert.“

Er wollte nie Massenmörder unterstützen

Als es um seine Mutter ging, hielt Barskys emotionaler Schutzschild. Doch diese Mauer brach, als er zwei Bücher las. Die US-Fernsehsendung „60 Minutes“ war 2016 auf ihn aufmerksam geworden, zur Vorbereitung studierte Barsky Literatur über Lenin und die Geschichte des KGB. Da erfuhr er, „was man uns über Lenin nicht gesagt hatte“. Zum Beispiel „dass er empfahl, 2000 Kulaken zur Abschreckung aufzuhängen“. Intellektuell hatte Barsky mit der Ideologie zwar schon Jahre zuvor abgeschlossen. Emotional aber erst, als er von dieser Brutalität seines Idols erfuhr. „Da ist alles kaputtgegangen, was noch von meinem Bild über Lenin übrig geblieben war.“

Wiedersehen. Beim Besuch in Deutschland traf Barsky seine erste Liebe.
Wiedersehen. Beim Besuch in Deutschland traf Barsky seine erste Liebe.

© Mike Wolff

Dann der nächste Schock, das Buch „Stalin und seine Henker“. Eine Abhandlung über die grauenhaften Verbrechen des KGB. Irgendwann wurde Barsky von seinen Gefühlen überwältigt. Der Mann, der sich sein Leben lang so gut kontrolliert hatte, der musste weinen, als er zum x-ten Mal auf das Wort „erschossen“ stieß. „Ich hatte immer gesagt, dass ich für eine gute Sache gedient habe. Aber als die weg war, stand ich nackt da.“ Massenmörder wollte er nie unterstützen.

Seine erste Frau hat ihm nicht noch vergeben

Und jetzt? „Man kann den lieben Gott nur um Vergebung bitten.“

Hat er vergeben? „Ja.“

Haben Ihre Frauen Ihnen auch vergeben? „Christiane noch nicht.“

Vor einem Monat hat er mit ihr telefoniert, 90 Minuten lang. „80 Minuten habe ich nur zugehört. Sie zeigte keine Wut, nur Ärger.“ Vielleicht, habe sie gesagt, könne man sich mal treffen. Irgendwann. „Wenn sie alles verarbeitet hat.“

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