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2017 Modeexpertin Chrissie von die-edelfabrik.blogspot.com

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Fashion-Trend "Menocore": Warum wollen 25-Jährige plötzlich aussehen wie in den Wechseljahren?

„Menocore“ oder „Modest Dressing“ heißt der Trend zum langen Rock, weiten Pulli, flachen Schuhen und Schlapphut. Das Vorbild: Diane Keaton.

Betrunken steht Mr. Big vor Carrie. Seine Ehe sei aus, vorbei, sagt er, sie sei so beige wie die Möbel in seiner Wohnung. „Ich dachte, du wolltest Beige“, entgegnet ihm Ex-Freundin Carrie, die er verlassen hatte, weil ihm die Beziehung zu bunt, zu schwierig, zu dramatisch war. Sie steht vor ihm in einer bauchfreien, weiß-durchsichtigen Bluse, durch die man ihren pinkfarbenen BH sieht, und stöckelt wenige Minuten später auf hohen Absätzen davon.

Eine Szene aus der Serie „Sex and the City“, die Sarah Jessica Parker in der Rolle der New Yorker Kolumnistin Carrie Bradshaw zur Modeikone gemacht hat. Was sie wohl dazu sagen würde, dass die Verbeigeung der Welt gerade ein Herbsttrend ist?

Menocore, wie die Bewegung heißt, ist eine Zusammensetzung aus den Begriffen Menopause und Hardcore. Geprägt wurde der Begriff durch einen Text von Harling Ross auf ihrem US-amerikanischen Modeblog „The Man Repeller“. Das Stilvorbild: „Middle-Aged Women“, also Frauen um die 50 in den Wechseljahren. Als Samantha, die Älteste des „Sex-and-the-City“-Quartetts, einmal fürchtet, dieser Lebensabschnitt könnte beginnen, ist sie verzweifelt. „Meine Zeit ist vorbei“, sagt sie schluchzend in einer Cocktailbar. „Jetzt bin ich altbacken.“

Zu dem durchaus altbackenen Menocore-Look gehören wadenlange Röcke in Nicht-Farben, unförmige Hosen, fließende Kleider aus Leinen, weite Strickjacken, gedeckte Blusen, luftige Tops, flache Schuhe, Angelhüte. Schick ist, worin man sich gut fühlt. Nicht, worin man gut aussieht.

Warum wollen 25-Jährige jetzt doppelt so alt aussehen wie sie sind?

Als Vorbild gilt insbesondere Diane Keaton. In den Woody-Allen-Klassikern „Der Stadtneurotiker“ und „Manhattan“ trug sie in den 70er Jahren ausgebeulte Hosen, maskuline Hemden, Krawatten, breite Ledergürtel – und trotzte damit den traditionellen Vorstellungen von Schönheit und Weiblichkeit. Noch vier Jahrzehnte später trug die Schauspielerin in der Komödie „Was das Herz begehrt“ einen weißen Strickpullover und eine schmale John-Lennon-Sonnenbrille. Sie blieb sich treu, Menocore, ein Leben lang. Die Berliner Modesoziologin Diane Weis glaubt: „In ihrer Rolle der Annie Hall kann sie durchaus die neue Carrie Bradshaw sein.“

1993. Diane Keaton in „Manhattan Murder Mystery“.
1993. Diane Keaton in „Manhattan Murder Mystery“.

© imago/teutopress

Ross von „Man Repeller“ schrieb: „Menocore ist das neue Normcore, aber es ist noch viel angenehmer.“ Unter dem Unisex-Trend Normcore verstand man vor wenigen Jahren, wenn sich jemand ein übergroßes weißes T-Shirt, eine graue Wolljacke, weiße Socken und eine Durchschnittsjeans anzog. Laut Weis sei Individualität nicht mehr der „höchste Wert in der Modewelt“.

Doch warum wollen 25-Jährige jetzt doppelt so alt aussehen wie sie sind? Eine Interpretation lautet: Das ist die Gegenbewegung zur Instagramisierung unserer Gesellschaft, ein Protest gegen den dort betriebenen Körperkult, dem ewigen Herumprobieren, bis eine Pose gut aussieht, und dann wird das Bild noch eine halbe Stunde bearbeitet, bis es auch wirklich perfekt aussieht.

Sich im Menocore-Stil zu kleiden sei Ausdruck von Selbstbewusstsein

Lange hat sich die Mode mit dem Enthüllen der Frau beschäftigt. Doch gerade besinnen sich Designer wieder darauf, ihren ursprünglichen Zweck zu erfüllen: Frauen anzuziehen. Auf den großen Laufstegen der Welt zeigen sich die Models züchtig. In den Läden der H&M-Gruppe kann sich die Durchschnittskundin dann die schlichten sackartigen Kleider und Pullis selber kaufen – und zwar bei Cos oder Arket, von letzterem Label eröffnete jetzt die erste Filiale in München.

Manche Modeexpertinnen und -experten gehen einen Schritt weiter: Sich im Menocore-Stil zu kleiden sei weniger öde, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Es sei Ausdruck von Stärke, von Selbstbewusstsein, von Persönlichkeit. Die jungen Frauen wollen nicht aufreizend, nicht sexy sein. „Sie fordern andere dazu auf, hinter die Oberfläche zu gucken“, sagt Modesoziologin Weis. „Das ist schon auch feministisch.“

Bereits vor über 100 Jahren nutzten Frauen ihre Kleidung als Statement. Als Ende des 19. Jahrhunderts Korsetts und Reifröcke aus den Garderoben verschwanden, wurden Hosen zum ersten modischen Symbol der Emanzipation. Der Büstenhalter galt Anfang des 20. Jahrhunderts als Erfolg im Kampf um persönliche Freiheit, 60 Jahre später verbrannten Frauen ihn auf der Straße. Und während Ende der 1960er Jahre der Minirock Trend wurde, um sich von der schamhaft verhüllenden Mode zu befreien, störten sich Feministinnen später an dem Kleidungsstück. Nun kehren die bequemen und keuschen Outfits zurück in die Schränke. „Modest Dressing“ – „genügsame“ Kleidung muss her.

Ist der Trend ausschließlich für Junge und Schlanke gemacht?

1977. Diane Keaton und Woody Allen in dem New-York-Film „Der Stadtneurotiker“. Hemd und Schlips gehören auch privat zur Uniform der Schauspielerin.
1977. Diane Keaton und Woody Allen in dem New-York-Film „Der Stadtneurotiker“. Hemd und Schlips gehören auch privat zur Uniform der Schauspielerin.

© mauritius images

Der Soziologin Barbara Kuchler dürfte diese Entwicklung gefallen. Im Zuge der Sexismus-Diskussion verfasste sie einen sehr polarisierenden Beitrag auf zeit.de. Solange sich Frauen als das schöne Geschlecht gerierten, bleibe die #MeToo-Debatte oberflächlich. Frauen sollten aufhören, „sich zu schminken, zu schmücken und zu stylen, sich selbst permanent als Körper zu präsentieren“. Sie sollten der Welt zeigen: „Ich tue nicht mehr für mein Aussehen als der durchschnittliche Mann, und ich stelle meinen Körper nicht stärker zur Schau als der durchschnittliche Mann.“ Ihr Appell galt Modedesignern – „entwerft Businesskleidung für Frauen, die parkettfest ist, ohne körperbetont zu sein“ – und Politikern, die mit der Regulierung der Modeindustrie drohen sollten.

Gut auszusehen ist laut Kuchler per Definition etwas, was man nicht nur für sich selbst tut. „Aussehen“ sei nichts anderes als der aktive Ausdruck von „Gesehenwerden“ – und das werde man eben durch die Augen anderer. Wer sich für den Menocore-Stil entscheidet, möchte aber eben nicht auffallen, nicht gefallen. Er möchte sich wohlfühlen. Eine erwachsene Einstellung. Eine Einstellung, wie sie laut der Menocore-Erfinderin Harling Ross eben eher Ältere haben. In ihrem Artikel schrieb sie: „Stell dir eine Frau in den 50ern vor, der es egal ist, was andere von ihr denken, und die es einfach bequem haben will.“

Nun könnte man fragen, ob der Trend ausschließlich für Junge, Schlanke und Schöne gemacht ist. Denn jene Labels, die Menocore aufgreifen, bieten kaum passende Klamotten für größere Konfektionen an. Auf Instagram sucht man vergeblich ein Foto von Menocore in einer Größe ab 40 oder größer. Und je älter man ist, umso schwieriger wird es, sich reif und selbstbestimmt zu kleiden, ohne 15 Jahre älter auszusehen. Das Omahafte funktioniert oft nur als Kontrast zur makellosen Jugend.

Im Fokus stehen Frauen – nicht Mädchen

Und doch könnte die Botschaft des Menocore-Trends jungen Frauen durchaus guttun. Schon mehrere Studien kamen zu dem Ergebnis, dass Instagram mit seinem Filter- und Gefälltmirwahn ihrer Psyche schaden könne. Die britische Royal Society for Public Health warnte in diesem Jahr: Das soziale Netzwerk führe zu einem verminderten Selbstwertgefühl und einer negativen Körperwahrnehmung bis hin zu depressiven Verstimmungen.

„Außerdem wird Älterwerden durch Stilvorgaben wie beim Menocore wieder etwas Schönes“, sagt Soziologin Weis. Das gefällt Harling Ross an der Bewegung. Es sei die Würdigung einer Altersklasse, die von der Modeindustrie oft ignoriert wird. Im Fokus stehen Frauen – nicht Mädchen, die ewig Mädchen bleiben wollen.

Menocore entspricht manchen Bedürfnissen, die gerade auch außerhalb der Modewelt zu erkennen sind: Die Entwicklung hin zu Slow Food, zu mehr Qualität und Nachhaltigkeit, findet man beispielsweise im Ernährungsbereich; den Wunsch nach mehr Gemütlichkeit und Einfachheit in Einrichtungskatalogen. Und greift dabei auf Secondhandware zurück. Wenn in Berlin die jungen Frauen durch die Humana-Stores ziehen, werden sie schnell fündig. Die Vintage-Kommode gibt es gleich mit dazu. Oder noch einfacher: Bei Oma im Schrank lassen sich ebenfalls passende Teile finden. Es geht um Wertigkeit, um Kleidung von Dauer und vielleicht auch um ein bisschen Nostalgie und Mottenkugeligkeit.

Für die Männer gab es übrigens die Befreiung vom Schönsein schon vor einigen Jahren. Genannt: „Dad Bod“. Männer mit kleinem Bäuchlein galten auf einmal als attraktiv. Nun können sich auch die Frauen in ihren taillenlosen, beigen Leinenzelten entspannen. Formwäsche überflüssig. Schon praktisch, so kurz vor der Dezember-Völlerei.

Mitarbeit: Helena Wittlich

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