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Abenteuer nach dem Lockdown: Einsame Radler fahren an der Spanischen Treppe in Rom vorbei.

© Reuters

Fahrradfahren in Italien: Römer erfinden das Rad neu

Jahrelang belächelte man hier Freizeitradler: Sie hupen nicht, rasen und stinken nicht. Doch dank Corona sind sie nun überall. Unsere Autorin ist eine dieser Irren.

Unter unserer Wohnung spielen einige Szenen von Vittorio De Sicas „Fahrraddiebe“, einem ikonischen Film des italienischen Neorealismus. Es geht um einen römischen Plakatkleber, dem das Fahrrad gestohlen wird. Der arme Mann sucht den Dieb in der ganzen Stadt, auch auf der Piazza Vittorio Emanuele, dem größten Platz in Rom, an dem wir wohnen.

„Fahrraddiebe“ wurde 1948 gedreht, im armen Nachkriegsrom war das Fahrrad ein begehrtes und kostbares Fortbewegungsmittel. Heute ist es wieder so. Noch nie in den letzten drei Jahrzehnten, die ich hier verbracht habe, waren so wenige Autos und gleichzeitig so viele Fahrräder unterwegs. Rom war ein Albtraum für Radfahrer, aber nach der Corona-Krise soll das Rad nun das neue Massenverkehrsmittel werden. Regierung und Stadtverwaltung versprechen Zuschüsse beim Fahrradkauf und jede Menge Radwege.

Während wir darauf warten, dass die Verheißungen in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft realisiert werden, radeln wir schon mal durch Roms grandiose Vergangenheit. Einstweilen auf dem einzigen schon vorhandenen Radweg, aber den muss man erstmal erreichen. Er zieht sich am Tiber entlang, das sind von der Piazza Vittorio Emanuele knapp vier Kilometer. Wo, wenn nicht in Rom ist der Weg das Ziel?

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Es gibt so viel zu sehen, dass man eigentlich unmöglich die ganze Zeit im Sattel bleiben kann. Also geht es früh um halb sieben los. Der Morgen ist frisch, der Himmel wie blank geputzt.

Ich überquere die Via Merulana und fahre durch verschwenderisch blühende Oleander-Alleen zum Colle Oppio. Hier liegt ein kleiner Park mit den Ruinen von Neros Goldenem Haus und gleich dahinter lauert: das Kolosseum.

Hügelab rolle ich direkt darauf zu, passiere eine Fußgängerampel – und lasse Roms Wahrzeichen rechts liegen, genau wie gleich danach den Konstantinsbogen. Die breite Straße führt mitten durch eine grandiose archäologische Parklandschaft. Links Celio-Hügel, rechts Palatin, geradeaus Circus Maximus.

24 Wagenrennen pro Tag, der Staub, die Hitze, die Gefahr, der Geruch nach Pferdeschweiß und Garküchen. Das Geschrei des Publikums, das sich in gegnerische Anhänger spaltete wie heute in einem Fußballstadion. 200 000 Zuschauer passten in den Circus Maximus, so still wie heute ist es zur Kaiserzeit nie gewesen.

Inzwischen ist über fast alles Gras gewachsen. Ich fahre oberhalb der riesigen Grasmulde die Längsseite entlang, parallel zur Straße. Ein paar Jogger sind unterwegs, ein Mann führt zwei Windhunde aus, die sich durch die alte Arena jagen. Am Ende der Straße geht es links und dann schnurstracks zum Tiber.

Morgens verirren sich noch wenige Menschen auf den Radweg am Tiber.
Morgens verirren sich noch wenige Menschen auf den Radweg am Tiber.

© Birgit Schönau

Ein sagenhafter Ort. Ungefähr hier soll sich jene Stelle befunden haben, an der laut Legende eine Wölfin die Zwillinge Romulus und Remus gesäugt hat. Der Tiber war für die alten Römer ein Gott namens Tiberinus. Er sicherte die Wasserversorgung der ersten Siedler und ermöglichte später über Jahrhunderte den Warentransport.

Heute sind Reste der antiken Lagerhäuser für das Importgetreide aus Sizilien und Ägypten unweit des Ponte Sublicio zu sehen. Zu dieser Brücke, die fast so alt ist wie die Stadt selbst, führt tatsächlich ein neuer Fahrradweg. Schattig, neu asphaltiert, mit frisch aufgesprühter Begrenzung: 800 Meter Perfektion. Kein anderer Radfahrer ist zu sehen.

Der Ponte Sublicio bringt mich nach Trastevere. Ein Name der hält, was er verspricht: jenseits des Tibers. Wuchtig erhebt sich über dem Fluss der Complesso di San Michele, ein imposantes Monument päpstlicher Wohlfahrt, 334 Meter lang und 80 Meter breit, eher ein Armenviertel als ein Armenhaus. Drei Päpste ließen hier zwischen 1686 und 1735 Bettler, Invaliden, gefallene Frauen und Waisen wegschließen. Es gab eine Wollfabrik, eine Seidenfabrik, eine Manufaktur für Wandteppiche und eine Druckerei, sowie natürlich eine Kirche.

Heute residiert in dem Gebäudekomplex das italienische Kulturministerium – was irgendwie auch passt, verwaltet es doch den größten Kulturschatz der Erde mit chronisch leeren Kassen. Vor den Toren von San Michele breitet sich sonntags der Flohmarkt von Porta Portese aus, auf dem der Mann aus De Sicas „Fahrraddiebe“ weiter nach seinem Fahrzeug suchte, vergeblich. Ich aber finde die Rampe zum Fahrradweg, die einzige weit und breit, denn an anderen Aufgängen muss man das Rad über steile Treppen tragen. Hier geht es sanft nach unten, in die Stille.

Die Stadt verschwindet hinter den hohen Mauern der Uferbefestigung. Nur noch die Kirchenkuppeln bleiben sichtbar, die oberen Stockwerke der Paläste, das Blätterdach der Platanen. Aus der Froschperspektive wirkt Rom entrückt wie eine Kulissenlandschaft. Kein Verkehrslärm, nur das Rauschen des gelben, trüben Tiber-Wassers, dessen Farbton der Volksmund unerschrocken zu „blond“ verklärt: „il biondo Tevere“.

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So dicht am Fluss liegt der Radweg, dass er vom Winterhochwasser regelmäßig überflutet wird. In den Sommermonaten ist er normalerweise ebenfalls blockiert – von den vielen Fressbuden einer Budenstadt und den Glasscherben, die sich in vier Monaten Dauerfeiern ansammeln. Die Party fällt dieses Jahr wegen Corona aus, also Bahn frei! Bleibt nur die Frage: Nordwärts oder südwärts, links oder rechts?

Ich entscheide mich erstmal für flussaufwärts, Richtung Norden. Insgesamt ist die Tiber-Piste gut 30 Kilometer lang, das Herzstück in der Innenstadt macht knapp die Hälfte aus. Zweispurig, durchgehend asphaltiert und flach. Nicht nur Radfahrer sind unterwegs, auch Jogger und Spaziergänger. Am Rande warten Angler auf Karpfen und Welse, Fische, denen es nicht brackig und schlammig genug sein kann. Die Angler konkurrieren mit den Kormoranen. Mitten in Rom gibt es auf einmal wilde Natur.

Die erste Brücke nach dem Ponte Sublicio ist nur noch eine Ruine, der Ponte Rotto. In seiner unmittelbarer Nähe mündet die Cloaca Maxima in den Tiber, der größte Abwasserkanal der antiken Metropole. Ein gemauerter Bogen in der Uferbefestigung auf der anderen Flussseite kennzeichnet den Kanalausgang, der übrigens nicht mehr funktioniert. Anders als das Krankenhaus auf der Tiberinsel, die jetzt vor mir liegt, jenseits der Stromschnellen, aus denen typisch moosig-fischiger Flussgeruch aufsteigt.

Wie ein steinernes Schiff ragt das Ospedale Fatebenefratelli (übersetzt: „Tut Gutes, Brüder“) ins Wasser hinein, die Inselklinik mit Roms beliebtester Entbindungsstation. Die Kinder kommen da zur Welt, wo die Stadt gegründet wurde – und wo vor Urzeiten ein Tempel des Heilkunde-Gottes Äskulap stand. Ewigkeit, mit Tiberwasser begossen.

Beobachtungen am Fluss: Mönche spazieren am Tiber-Radweg entlang.
Beobachtungen am Fluss: Mönche spazieren am Tiber-Radweg entlang.

© Birgit Schönau

Gegenüber der Insel wird der Uferradweg kurz breiter, um sich unter dem Ponte Sisto wieder zu verengen. Hier geht es etwas holprig über sehr alte Steine, noch vom Vorgängerbau um die Zeitenwende. Wenn man sehr genau hinschaut, kann man an den grauen Ufermauern noch ganz andere Reste entdecken: Der südafrikanische Künstler William Kentridge hatte mit Hochdruckreiniger ein 500 Meter langes Fries in die Mauerpatina gezeichnet. „Triumphs and Laments“ nannte er seine Hommage an Rom, Triumphe und Klagen, mit Motiven aus der 3000-jährigen Stadtgeschichte.

Im April 2016 wurde das Kunstwerk mit einem großen Volksfest der Öffentlichkeit präsentiert – inzwischen ist es nahezu unsichtbar hinter Staub, Schmutz und Graffiti verschwunden. Kentridges Tiberkunst ist ein Tribut an die Vergänglichkeit und zugleich an die Ewigkeit Roms. Alles vergeht, nur die Stadt bleibt bestehen.

Links über dem Radweg ragt die riesige Kuppel der Peterskirche auf. Aber ich konzentriere mich auf den Weg und auf den Fluss, in dessen breitem Schilfgürtel Enten und Blesshühner unterwegs sind. Ein Polizeiwagen fährt die Piste ab, die Uniformierten wecken ein paar Obdachlose, die unter der Brücke schlafen. Am gegenüber liegenden Flussufer, wo sie ihre Zelte aufgeschlagen haben, lässt man sie in Ruhe. Die Armen von Rom sind auch im Stadtzentrum präsent und am Tiber sowieso.

Gleich hinter der Engelsburg beginnt das Niemandsland, also die Stadt ohne Touristen. Aber auch das Rom der circoli. Die circoli, das sind die Ruderklubs, je weiter flussaufwärts desto feiner. Canottieri Lazio, Canottieri Roma oder Canottieri Tevere Remo, da geht es weniger ums Rudern als ums Sehen und Gesehenwerden. Die Mitgliedschaft ist eine Visitenkarte, die bessere Gesellschaft teilt sich in Ruderklubs wie vormals in die vier Wagenrennen-Parteien im Circus Maximus.

So richtig nobel wird es im piekfeinen Circolo Canottieri Aniene im Norden, wo die Reichen wohnen. Hinter hohen Hecken erstrecken sich Swimmingpools, Tennisplätze, ein Fußballplatz und ein Fitnesszentrum. Nicht zu vergessen das Klubheim mit Restaurant. Wer hier aufgenommen werden will, lässt rudern und hat neben dem nötigen Kleingeld beste Kontakte auf beider Seiten des Tibers. Wobei mit oltretevere, der „anderen Tiberseite“ immer noch der Vatikan gemeint ist.

Wenigstens auf diesem Kunstwerk an einer Brücke lebt der Regisseur Pier Paolo Pasolini weiter.
Wenigstens auf diesem Kunstwerk an einer Brücke lebt der Regisseur Pier Paolo Pasolini weiter.

© Birgit Schönau

Mittlerweile ist es halb acht und auf dem Fluss sind ein paar Ruderboote unterwegs. Sie gleiten durch das im Morgenlicht tatsächlich goldblond glitzernde Wasser. Die Sonne wird schon stärker, die Hitze lauert hinter der nächsten Brücke. Und der Weg führt nach oben, weg vom Fluss. Ich entschließe mich, umzukehren und in die entgegengesetzte Richtung weiterzufahren, südlich vom Ponte Sublicio, wo der Tiber träger wird und die Stadtlandschaft wilder.

Auch die Piste wird etwas aufregender, weil sie noch vom Sand und Unrat des letzten Unwetters überzogen ist. Unter dem Ponte Testaccio muss ich kurz absteigen. Der Uferschlamm ist dort so verkrustet, dass es bei Gegenverkehr gefährlich wird. Und Gegenverkehr, den gibt es jetzt. Rom ist erwacht und die Römer sind unterwegs.

Sie fahren Fahrrad, wie sie Auto fahren: unbekümmert raumgreifend. Es gibt Gruppen von Männern auf Rennrädern, modisch leuchtende Funktionskleidung, stramme Waden, kein Helm. Vor Corona bildeten sie eindeutig die stärkste Radfahrerpopulation in Italien, egal ob in der Stadt oder auf dem Land, diese Rasergruppen, die sogar auf Schnellstraßen trainieren. Und nie haben sie eine Frau dabei. Italien war das Land des Giro und der schwer ambitionierten Amateure.

Aber jetzt gibt es zumindest am Tiber auch unsicher schwankende Familien, mit Helm. Und Flaneure wie mich, zur Arbeit fährt ja im Moment kaum jemand. Die wenigen Touristengruppen auf Rädern bleiben merkwürdigerweise immer oben. Vielleicht, weil am Fluss keine Sehenswürdigkeiten liegen.

Dabei ist doch der Tiber das größte Highlight, seine murmelnden Wasser erzählen dem Vorbeiradelnden alle Geschichten. Wie er jetzt dem Meer entgegenfließt, vorbei am Monte Testaccio, dem Berg aus antiken Scherben.

Ganz in der Nähe, im Schatten des großen Gasometers, befindet sich jenes Restaurant, wo der Regisseur Pier Paolo Pasolini am 1. November 1975 mit einem Strichjungen zu Abend aß, der ihn wenige Stunden später unweit der Tibermündung in Ostia ermorden sollte. Der Junge bestellte Huhn – und protestierte, weil der Koch die Haut mitgebraten hatte. Pasolini trank nur ein Bier. Das Restaurant heißt Al Biondo Tevere.

HINKOMMEN
Mit der Bahn geht es für etwa 200 Euro nach Rom, zwei Mal Umsteigen, mit Möglichkeit über Nacht zu fahren. Direktflug zwei Mal wöchentlich mit Easyjet ab 155 Euro.

RUMKOMMEN
Auf der Seite piste-ciclabili.com gibt es Routenvorschläge entlang des Tibers auch auf Deutsch. Auf lungoiltevereroma.it stehen die News zu den Events am Ufer.

Birgit Schönau

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