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Noch immer für die EU? Bei den Parlamentswahlen im Mai könnten Europa-Kritiker dramatisch an Einfluss gewinnen.

© Andreas Arnold/dpa

Europa aus Sicht der Jungen: „Die EU will man nicht zum Feind haben“

Fünf junge Europäer streiten über finnische Wohlfahrt, britische Überheblichkeit, miserablen ungarischen Smalltalk – und die Zukunft eines Kontinents.

Hallo alle. Da wir ähnlich alt sind, hoffen wir, es ist ok, wenn wir uns duzen. Bevor wir das Gespräch beginnen, zunächst eine kleine Aufgabe. Wir haben Knete gekauft. Jeder hat fünf Minuten Zeit, um damit das zu bauen, was ihm in den Kopf kommt, wenn er an Europa denkt.

Stille am Konferenztisch im Brüsseler Stadtteil Ixelles. Kevin, der Ire, knetet sofort los, Livia, die Italienerin, überlegt lange. Áron aus Ungarn knetet am elegantesten.

Áron, was hast du geknetet?

ÁRON: Ich habe zwei Hände gebaut, die ineinandergreifen. In Europa geht es um Kooperation, wir helfen einander. Die Hände stehen aber auch für etwas, das ich liebe: Jesus. Ich bin Christ, das ist mir sehr wichtig zu erwähnen.

Alfiaz, was hast du modelliert?

ALFIAZ: Ich habe Menschen gemacht. Einen Mann, eine Frau, eine Frau mit Kopftuch und einen Menschen ohne erkennbares Geschlecht. Europa ist für seine Bürger da, so sollte es sein. Das Motto lautet „United in diversity“. Ich bin schwul, Muslim und der Sohn von Flüchtlingen. Mir ist diese Diversität wichtig.

KEVIN: Sorry, meins sieht nicht sehr elegant aus.

Eine zusammengeflickte Kugel?

KEVIN: Sie hat eine Bedeutung. Aus der Ferne schaut sie aus wie ein einheitlicher Ball. Geht man nah ran, sieht man, dass es aus vielen kleinen Teilen zusammengesetzt ist, dann sieht man die Unterschiede. Ist das jetzt eine Einheit oder sind das viele Einzelteile, die mühsam zusammen-kleben? Kann jeder selbst beantworten.

RIINA: Meins ist nicht gut geworden. Ich war vor allem von der blauen Farbe inspiriert. Das sind die Wellen eines Ozeans. Europa ist die Heimat von Millionen Tier- und Pflanzenarten. Die sollten wir schützen.

LIVIA: Ich habe zwei Sterne gemacht, weil ich an die Flagge denken musste. Nicht sehr originell, oder? Mein Problem ist, dass ich keine unmittelbare Verbindung zur EU spüre. Sie steht für mich für nichts. Also musste ich an das Symbol denken, das die EU uns zeigt.

Die Disputanten (v.r.n.l.): Riina Haavisto, Áron Giro-Szász, Kevin Hiney, Livia Andrea Piazza, Alfiaz Vaiya, Charlotte Wirth und Marius Buhl.
Die Disputanten (v.r.n.l.): Riina Haavisto, Áron Giro-Szász, Kevin Hiney, Livia Andrea Piazza, Alfiaz Vaiya, Charlotte Wirth und Marius Buhl.

© Patrick Galbats

Du magst die EU nicht?

LIVIA: Doch, um Gottes Willen. Ich habe in drei europäischen Ländern gelebt, Deutschland, Belgien und Italien. Ich finde die Europäische Idee großartig. Aber dennoch ist sie für mich eher ein abstrakter Gedanke.

Länder haben Charakter, zumindest im Klischee. Welche zentrale Eigenschaft hat das Land, aus dem ihr kommt?

KEVIN: Wir Iren nehmen uns selbst nicht sehr ernst.

RIINA: Wir Finnen sind bodenständig.

ALFIAZ: Wir Briten sind skeptisch.

ÁRON: Das Erste, was mir zu den Ungarn einfällt, ist das Wort Mut. Wir sind eine starke Nation. Außerdem sind wir nicht so oberflächlich. Grauenhaft im Smalltalk zum Beispiel.

LIVIA: Wir Italiener können sehr schlecht mit Kritik umgehen.

Welches negative Klischee fällt euch zu einer der anwesenden Nationen ein?

RIINA: Die Italiener achten ständig auf ihr Aussehen.

LIVIA: Das stimmt, glaube ich. Soll ich was über Alfiaz sagen? Ihr Briten wirkt auf mich manchmal etwas verklemmt. Die Selbstkontrolle ist sehr tief im Nationalethos verankert.

ALFIAZ: Zu den Iren fällt mir nichts ein. In England nennen wir euch oft Bauern, aber Kevin sieht mir nicht nach einem aus …

KEVIN: Wir seien ständig besoffen, das hören wir oft.

ALFIAZ: Ich glaube, wir Engländer stehen euch da in nichts nach.

KEVIN: Mir fällt was zu Ungarn ein. Das Land steht für mich für eine gewisse Rauheit. Ihr wart ja auch lange hinter dem Eisernen Vorhang.

„Europäische Symbole sind fake“

Kevin Hiney (Irland): "Ungarn steht für eine gewisse Rauhaut."
Kevin Hiney (Irland): "Ungarn steht für eine gewisse Rauhaut."

© Patrick Galbats

Lasst uns das umdrehen. Beneidet ihr die anderen am Tisch um irgendetwas?

ÁRON: Kevin, ihr Iren habt eine gewisse Fröhlichkeit in eurer Identität, die mir gut gefällt. Wir Ungarn sind immer pessimistisch.

Kevin, neidest du den Briten etwa den Brexit?

KEVIN: Ich kenne wirklich niemanden, der das tun würde.

ALFIAZ: Im Gegenteil, ich beneide euch alle, dass ihr in der Union bleibt. Und ich hätte gern den Sinn für Design der Italiener. Autos, Mode, Style. Wir Briten sind nicht so kreativ.

LIVIA: Ich beneide Finnland um sein Wohlfahrtssystem.

RIINA: Finnen und Ungarn sind sich ein bisschen ähnlich beim Thema Pessimismus. Sprache und Mentalität gleichen sich auch. Neidisch bin ich vor allem auf eure Lage in Europa. Im wärmeren Süden.

Über Länder und ihre Eigenschaften zu sprechen, macht Spaß und fällt uns ziemlich leicht, stellen wir gerade fest. Warum ist das wohl so?

ALFIAZ: Italien ist ein gutes Beispiel. Man kann stundenlang über die Italiener reden. Überall auf der Welt kennt man sie, weiß, wofür sie stehen. Spaghetti, Pizza, die alten Römer, Venedig, Mafia. Italien hatte immer eine Pole Position.

KEVIN: Das Image Italiens ist in der Welt leicht zu verkaufen: fröhliche Menschen, die gutes Essen mögen, abends draußen unterwegs sind und laut miteinander sprechen.

Das Image Europas ist viel schwerer zu verkaufen.

ÁRON: Da sind wir beim Thema Identität. Und Europa ist keine Nation, da fällt uns das mit der Identität schwer.

ALFIAZ: Glaube ich auch. Was wir bräuchten, um eine Identität zu entwickeln, ist eine volle Integration. Wir sind erst bei der Hälfte angelangt.

ÁRON: Was meinst du mit voller Integration?

ALFIAZ: Wir brauchen eine komplette, ökonomische Union, mit demselben Steuersatz, eine Ausweitung der Eurozone auf alle Länder.

ÁRON: Und am Ende eine europäische Regierung?

ALFIAZ: Ja.

ÁRON: Da bin ich nicht einverstanden. Was du volle Integration nennst, bedeutet am Ende einen europäischen Staat, beziehungsweise: die Vereinigten Staaten von Europa. Ich glaube aber nicht, dass das je das Ziel der EU war. Für mich ist es das nicht. Die EU sollte nicht den USA nacheifern. Wir sind ganz anders.

Der U2-Sänger Bono sagte: Die EU ist ein Gedanke, der ein Gefühl werden muss. Wäre es leichter, die EU zu fühlen, wenn sie ein Staat wäre?

KEVIN: Ich glaube schon. Nationalstaaten sind oft auf einem Gründungsmythos aufgebaut. In Irland waren wir britisch besetzt, es gab eine Widerstandsbewegung, Bürgerkrieg, dann war eine neue Nation geboren. Damit können sich die Menschen identifizieren. Die EU hingegen wurde durch eine technokratische Überlegung direkt nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet. Das Eindrücklichste, um diese Gefühllosigkeit zu begreifen, sind die Symbole auf den Euroscheinen. Die Geld–Designer hatten keine Ahnung, was sie da draufdrucken sollen. Einen römischen Viadukt? Da hätten sich andere Staaten diskriminiert gefühlt. Also haben sie sich europäische Symbole ausgedacht. Aber die sind fake, wecken keine Gefühle. Wie soll eine Identität entstehen, wenn es nicht mal vereinigende Symbole gibt?

„Ich kann das Gerede über Religion nicht mehr hören“

Unser Autor Marius Buhl und Riina Haavisto (Finnland).
Unser Autor Marius Buhl und Riina Haavisto (Finnland).

© Patrick Galbats

Die Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg sind doch sehr wohl ein Gründungsmythos!

KEVIN: EU-Beamte versuchen, uns diese Geschichte zu verkaufen. Sie haben dafür immerhin den Friedensnobelpreis gewonnen. Aber für unsere Generation ist das nicht mehr greifbar. Wir kennen nur Frieden, assoziieren Europa nicht mit Krieg.

LIVIA: Darf ich was sagen? Ihr redet darüber, dass die EU eine Identität vermitteln sollte, ähnlich wie ein Nationalstaat. Ich habe ein Problem mit dem Begriff Identität. Ich fühle mich weder als Italienerin noch als Europäerin. Das Wort macht mir sogar Angst, wenn ich daran denke, dass wir eine europäische Identität wachsen sehen könnten, die nicht von Offenheit geprägt ist. Dann steuern wir direkt auf einen Krieg der Religionen zu. Wenn man nämlich sagt, die europäische Identität beruhe auf dem christlichen Glauben – kann man Leute ausschließen. Der Islam wird dann schnell zum gemeinsamen Feind.

ÁRON: Ich habe euch ja gesagt, dass ich gläubiger Christ bin. Und ich glaube, es ist Fakt, dass Europa christlich geprägt ist. Das schließt in meinen Augen den Islam aber nicht aus.

ALFIAZ: Ich als Muslim stimme Livia zu. Wir sehen doch aktuell genau diesen Versuch vieler rechter Politiker, Viktor Orban in Ungarn und Jaroslaw Kaczynski in Polen, die betonen die christlichen Werte der EU. Gleichzeitig sprechen sie davon, dass die Islamisierung der EU gestoppt werden müsse. Es tut mir leid, Áron, das ist nicht persönlich gegen dich gerichtet, aber dein Parteichef Orban hat genau das gesagt: „Ich möchte das christliche Europa vor dem Islam schützen.“

KEVIN: Nur eine kurze Frage, Áron: Warst du mal in Sevilla, in Spanien?

ÁRON: Nein.

KEVIN: Ich würde dir dringend raten, dorthin zu gehen, die Stadt ist wunderbar. Wenn man sich die Architektur anschaut, erkennt man auch schnell: Die ist nicht traditionell europäisch. Sie ist maurisch. In Südspanien lebte jahrhundertelang eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung. Ihr Erbe ist in Sevilla oder auch auf Sizilien erhalten. Und es ist genauso bewundernswert wie die traditionelle Architektur.

ÁRON: Ha, das ist das Schlüsselwort. Wie die traditionelle Architektur, sagst du. Mit traditionell beziehst du dich implizit auf christliche Architektur.

KEVIN: Ich habe eher aus architektonischer Sicht argumentiert, nicht aus religiöser.

ÁRON: Aber was definiert denn traditionelle Architektur …?

Alfiaz Vaiya (in der Mitte): "Das Christentum wird von vielen als Waffe eingesetzt."
Alfiaz Vaiya (in der Mitte): "Das Christentum wird von vielen als Waffe eingesetzt."

© Patrick Galbats

KEVIN: Ich wäre vorsichtig mit der Pauschalaussage, unsere Identität sei christlich geprägt. Es gibt Ausnahmen. In der spanischen Sprache schlummern viele Worte arabischen Ursprungs. Und ihr in Ungarn wart doch die ersten, die den Islam 1914 als offizielle Religion anerkannt haben. Wir sollten weniger darauf schauen, was uns trennt, als mehr darauf, was uns verbindet.

LIVIA: Seit der Französischen Revolution versuchen wir in Europa, die Religion aus dem demokratischen Miteinander herauszubekommen. Ich komme aus einem Land, in dessen Herz der Vatikan sitzt. Ich kann das Gerede über Religion nicht mehr hören. Wir sollten den Begriff der Identität nicht für eine verborgene Agenda benutzen.

ÁRON: Aber wir reden nicht wirklich über Religion.

LIVIA: Worüber dann?

ÁRON: Wir reden über Kultur. Kennst du Samuel Huntington? Der war ein amerikanischer Politikwissenschaftler und Berater von Jimmy Carter. Er schrieb, dass zukünftige Kriege nicht zwischen Ländern, sondern zwischen Kulturen geführt würden. Und er sagte, dass es in Europa eine christliche Kultur gibt.

RIINA: Was meinst du mit christlicher Kultur?

ÁRON: Unser intellektuelles Erbe. Christliche Gelehrte haben es entscheidend mitgeprägt. Natürlich sind das römische Recht und die griechische Philosophie auch Quellen. Aber christliche Mönche haben es weitergeführt, geformt und gepflegt. Selbst an der liberalsten Universität wirst du davon hören, dass unsere heutige Freiheit im Christentum wurzelt. Dessen Idee ist es ja, dass ein Individuum vor Gott steht, ein einzelner Mensch mit Rechten und Pflichten, der für sein Tun Verantwortung trägt. Auf dieser Grundlage konnten sich die Menschenrechte erst entwickeln.

LIVIA: Du tust fast so, als hätten die Christen die Menschenrechte erfunden. Dabei ist das christliche Erbe auch extrem dunkel, wie du wissen müsstest, da spielten Menschenrechte nicht immer eine Rolle. Ich will gar nicht abstreiten, dass die Christen keine Rolle spielten. Aber Geschichte ist nie singulär. Es ist ein Prozess.

ÁRON: Nimm das nicht persönlich, aber was ich sage, ist ein historischer Fakt.

LIVIA: Ich lade dich nur ein, auch zu sehen, was rund um deinen historischen Fakt passiert ist. Und dich ebenfalls zu fragen: Warum geschehen Dinge zu einer bestimmten Zeit? Warum glaubst du, dass Christen zu jener Zeit so handelten? Weil es ihnen nutzte, um Macht zu erlangen.

RIINA: Es ist wirklich nicht schön, euch zuzuhören. Ihr sprecht viel zu viel über Religion. Für mich geht es beim Thema europäische Identität überhaupt nicht um Religion.

„Ungarn ist das Land mit den meisten EU-Befürwortern“

Áron Giro-Szász (Ungarn): "Migranten haben nicht das Recht, frei nach ihrer Lust in Europa herumzureisen."
Áron Giro-Szász (Ungarn): "Migranten haben nicht das Recht, frei nach ihrer Lust in Europa herumzureisen."

© Patrick Galbats

Du als Finnin sitzt heute tatsächlich an der Nordseite des Tischs und beobachtest, wie das restliche Europa sich da unten streitet. Ist das in echt ebenfalls so?

RIINA: In Finnland diskutieren wir auch über das Christentum und den Islam. Aber ich glaube, dass heutzutage Religion bei der Frage nach einem europäischen Einheitsgefühl keine Rolle mehr spielen sollte.

ALFIAZ: Ich will nicht unterbrechen, aber …

RIINA: Nein, erzähl nur.

ALFIAZ: Ich glaube, das Problem, dass ich mit Árons Sicht habe, ist nicht, dass ich nicht zugeben kann, dass das Christentum Europa geprägt hat. Wenn du sagen willst, Áron, dass Europa ein christlicher Kontinent ist – sag das! Mein Problem beginnt nur dort, wo jemand das Christentum mit einer politischen Ideologie verwechselt.

ÁRON: Aber …

ALFIAZ: Nein, warte. Ich sage das als schwuler Muslim, Sohn von Flüchtlingen. Das Christentum wird von vielen als Waffe eingesetzt. Um das nicht zu vergessen – der Islam auch. Ich bin der Erste, der sich gegen Christenverfolgung im Mittleren Osten einsetzt. Das Prinzip ist dasselbe. Jemand nutzt Religion, um andere zurückzudrängen. Das sehen wir in ganz Europa derzeit. Rechte Politiker versuchen, das Christentum als vorherrschende Ideologie zu etablieren – und das, um damit eine Gegnerschaft zum Islam zu konstruieren. Wer nicht ins Weltbild passt, muss draußen bleiben. Da geht es nicht nur um Muslime. Auch Flüchtlinge anderer Glaubensrichtungen und Schwule merken das.

Áron, gehören Leute wie Alfiaz für dich zur Europäischen Union?

ÁRON: Nochmal: Ich rede nicht über Religion. Religion ist eine persönliche Sache. Ich rede über Kultur. Sogar Robert Schuman, einer der Gründerväter der EU, hat gesagt. „Es wird ein christliches Europa geben oder gar keins.“ Er war kein Rassist und nicht gegen Schwule. Er bezog sich auf das kulturelle Erbe, nicht auf Religion. Darum ist auch für Alfiaz Platz in der EU.

KEVIN: Nehmen wir meine Heimat Irland als Beispiel, das könnte hilfreich sein. Die Präambel unserer Verfassung zitiert die Dreifaltigkeit und wurde von der Kirche stark beeinflusst. Haben wir eine christliche Kultur? Natürlich! Nutzen wir das politisch? Nein! Irland hat in den vergangenen Jahren die Abtreibungspolitik gelockert. Wir waren das erste Land, das es Homosexuellen erlaubt hat, zu heiraten – durch ein Bürgerbegehren übrigens. Ja, wir sind stolz auf unser christliches Erbe, aber wir nutzen es nicht, um Andersdenkende auszuschließen.

RIINA: Wir reden immer noch über Religion!

Lasst uns stattdessen über die EU sprechen, die wir in den Medien derzeit sehen. Da geht es um Orban, Kaczynski, um Bankenkrisen und Eurokrisen, um Griechenland, Salvini, Swexit, Italexit, Frexit. Viele sagen, Europa durchlebe die größte Krise seit seiner Gründung. Was für ein Problem haben eure Heimatländer mit der EU?

RIINA: Die Mehrheit der Finnen hat kein Problem mit der EU. Aber sie wirkt auf uns irgendwie weit weg. Auf mich auch, obwohl ich mittlerweile in Brüssel lebe. In der Stadt kommt mir die EU aber auch wie eine parallel existierende Struktur vor.

LIVIA: Wo soll ich da anfangen? Italien hat so viele Probleme. Übergeordnet würde ich sagen: Das nationale Ethos, der Stolz der Italiener, macht es uns schwer, uns als Europäer zu fühlen.

ALFIAZ: Da geht es den Briten ja ähnlich! Eine stolze Nation mit einer irren Geschichte: Wir waren der Anführer eines Empires. In der EU waren wir dann plötzlich nur noch eines unter vielen Mitgliedern, gleichberechtigt mit Malta, Slowenien, Schweden. Ich bin nicht der Einzige, der darin einen großen Angriff aufs Ego der Briten sieht. Jetzt, nach dem Brexit, merken wir erst, wie hilflos wir, die einst so große Nation, heute ohne die EU sind. Jedes Mal, wenn ich die Nachrichten schaue, beschweren sich darin Leute, dass die EU so hart mit den Briten verhandele. Plötzlich ist die EU die Großmacht, die man nicht zum Feind haben will. Darin sehe ich auch eine Chance, dieses Image muss sich die EU bewahren. Der starke Beschützer, der es mit den Allergrößten aufnehmen kann.

KEVIN: Für die Iren war die EU immer extrem wichtig. Wir hatten einige Referenden zu EU-Themen, dadurch war sie immer sehr präsent. Natürlich haben wir auch unsere Probleme: Besteuerung ist eins, das Thema bleibt aktuell. Was aber nur wieder die überragende Bedeutung der EU für Irland bestätigt.

ÁRON: Ihr denkt jetzt, das habe ich mir ausgedacht, aber Ungarn ist das Land mit den meisten EU-Befürwortern, es gab neulich eine Studie. Wir haben unsere Probleme mit den Etablierten, doch wenn ich es zusammenfassen müsste, würde ich sagen: Wir wollen die EU bewahren, die wir 2004, beim Beitritt, kennengelernt haben. Wir haben damals einen Vertrag unterzeichnet, und an den wollen wir uns halten.

ALFIAZ: Áron, es tut mir leid, das Folgende ist nicht böse gemeint, ich beziehe das nicht auf dich persönlich: Aber ich verstehe dich einfach nicht.

ÁRON: Was verstehst du nicht?

„Sorry, das ist mir zu laut, so lasse ich nicht mit mir reden“

Livia Andrea Piazza (Italien): "Ich habe ein Problem mit dem Begriff Identität."
Livia Andrea Piazza (Italien): "Ich habe ein Problem mit dem Begriff Identität."

© Patrick Galbats

ALFIAZ: Ungarn trat der EU 2004 bei, richtig? Und du sagst, Ungarn will die EU von damals bewahren. Aber was hat sich denn so grundlegend geändert seit damals? Wenn Ungarn seit den 80er Jahren dabei wäre, dann könnte ich diesen Gedanken des Bewahrens verstehen, damals war die EU eine ganz andere. Doch die Veränderungen kamen ja erst 2004, mit der großen Beitrittswelle. Also, was ändert sich, vor dem du Ungarn bewahren willst? Es geht um Migration, oder?

ÁRON: Eine der Hauptaufgaben ist die Bewältigung der Migration, ja. Und mit Migration meine ich nicht nur, dass Menschen zu uns kommen wollen und wie das unsere Wirtschaft beeinflusst. Es ist eine kulturelle Frage. Wie sehr beeinflussen die Migranten unsere ungarisch-europäische Kultur? Migration ist in der Lage, das Wohlergehen eines Nationalstaats und seiner kulturellen Identität in hohem Maße zu beeinflussen.

ALFIAZ: Deine Antwort frustriert mich sehr. Ich erklär dir auch, warum. Vor dem Brexit-Referendum gab es dieselben Diskussionen in Großbritannien. Die Ausstiegs-Befürworter sagten, sie wollen die alte EU wiederhaben, seit der Erweiterung der EU 2004 seien zu viele Osteuropäer ins Land gekommen. Sie sagten, dass zum Beispiel ihr Ungarn den Charakter Großbritanniens entscheidend verändert und das alte Großbritannien zerstört hättet. Ich habe mich während der Debatte vehement für die Osteuropäer starkgemacht, habe gesagt: Die haben nix zerstört, die haben was beigetragen! Es hat, wie du weißt, nichts gebracht. Das macht mich bis heute traurig. Aber jetzt höre ich von dir dasselbe Argument wieder. Nur willst du das alte Ungarn vor den anderen bewahren, denen, die von außerhalb Europas kommen, den Syrern und Irakern. Absurd ist: Als die Argumente damals in Großbritannien aufkamen, begann der polnische Premierminister davon zu reden, dass Rassismus und Ausländerhass keinen Platz in der EU hätten. Das galt für ihn aber nur so lange, wie es um Osteuropäer ging, bei Syrern gilt es offenbar nicht.

ÁRON: Aber da gibt es doch einen riesigen Unterschied. Wir Ungarn und Polen leben faktisch innerhalb der europäischen Grenze. Wir haben lediglich von unserem Recht auf Bewegungsfreiheit innerhalb der europäischen Grenzen Gebrauch gemacht. Das, worüber du redest, ist Zuzug von außerhalb der Grenzen. Und Migranten haben schlicht nicht das Recht, ohne Regelung frei nach ihrer Lust in Europa herumzureisen. Das ist ein Fakt.

KEVIN: Bullshit …

ÁRON: Es ist lustig. Vorhin haben wir über europäische Identität geredet. Wenn es die aber im Ansatz gibt, was keiner bestritten hat, dann kann man Syrer von außerhalb Europas doch nicht ernsthaft mit Osteuropäern innerhalb Europas vergleichen. Das stellt doch das ganze Konzept Europas in Frage.

KEVIN: Sorry, ich muss dir darauf direkt antworten, auch wenn ich dabei laut werde. Weißt du, wer mein Premierminister ist, in Irland? Er ist der Sohn eines indischen Migranten, und er ist so irisch, wie es nur geht. Was du sagst, wühlt mich richtig auf. Du ziehst eine Linie an der europäischen Grenze und sagst: Wenn du innerhalb bist, komm zu uns, du wirst etwas zum Gemeinwohl beitragen. Bist du außerhalb, dann kannst du nichts zum Gemeinwohl beitragen. Dein Argument würde bedeuten, dass der Premierminister von Irland nichts zum Gemeinwohl der Iren beitragen könnte, weil er indischer Abstammung ist. Lächerlich.

ÁRON: Sorry, das ist mir zu laut, so lasse ich nicht mit mir reden.

KEVIN: Nein, hör zu! Orban sagt das, was du sagst, in jeder Rede. Wenn du drin bist, super, wenn du draußen bist, Pech gehabt. Aber so funktioniert die Welt nicht! Wenn jemand eine Reise um den halben Erdball macht, um in einem neuen Land anzukommen, sich niederzulassen, etwas beizutragen: Dann hab ich den tausend Mal lieber bei uns, als beispielsweise einen faulen innereuropäischen Taugenichts, dem es darum geht, von einem besseren Sozialstaat zu profitieren.

ÁRON: Sorry, sorry, sorry, das lass ich mir nicht bieten, du schreist, du hast sämtlichen Respekt verloren. Das sind keine europäischen Werte, die du hier an den Tag legst.

KEVIN: Europäische Werte? Warst du jemals in einem italienischen Café? Dagegen war das nichts.

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