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In Sicherheit. Auf dem Rettungsschiff „Minden“ erholen sich die dehydrierten und erschöpften Menschen, bevor größere Schiffe sie nach Europa bringen.

© Susanne Salm-Hain

Erlebnisse eines Seenotretters: An der Grenze der Zivilisation

Schon 4000 Flüchtende starben dieses Jahr auf dem Mittelmeer. Ein junger Arzt wollte helfen und bestieg ein Rettungsboot.

Ein Foto geht um die Welt, prangt auf Titelseiten, der Beweis einer andauernden Katastrophe: Menschen steigen über Leichen, über Gliedmaßen und entblößte Haut. Im Blick das rettende Ziel, im Rücken das offene Meer. Ein Boot von Geflüchteten im Mittelmeer. Ich habe das Boot mit eigenen Augen gesehen.

Ich bin Arzt, 27 Jahre alt, gerade erst mit dem Studium fertig. Ich will an die europäische Seegrenze und verstehen, was die Abschottung auf dem Mittelmeer bedeutet, die täglichen Nachrichten der Tragödien nicht mehr tatenlos hinnehmen. Sicher bin ich unerfahren genug, um bei meinem Handeln Fehler zu begehen, aber auch erfahren genug, um zu wissen, dass der einzige unverzeihliche Fehler wäre, gar nicht zu handeln.

Der Weg dorthin ist einfach für mich, zwei Stunden Direktflug nach Malta, einen Tag Bootsfahrt vor die Küste Afrikas. Der Weg in die andere Richtung ist für viele ungleich schwerer. Gefährlicher.

Die EU versagt im Mittelmeer

Die Seenotrettung im Mittelmeer wird vornehmlich von privaten Initiativen durchgeführt. Es gibt Schiffe von „Ärzte ohne Grenzen“, „Sea–Watch“ und weiteren Organisationen aus Deutschland, Malta, Spanien und den Niederlanden. In einem lockeren Flottenverbund agieren sie im Einsatzgebiet vor der libyschen Küste, nähern sich in internationalem Gewässer bei Morgendämmerung dem Land und koordinieren die Bergung der Boote mit Geflüchteten. Die offiziellen Strategien der EU im Mittelmeer haben versagt, da sie keine sicheren Routen nach Europa schaffen, um den Tod von Menschen zu verhindern.

Mein Einsatz erfolgt im Herbst 2016 auf dem „Search and Rescue“–Schiff „Minden“ der NGOs „Cadus“ und „LifeBoat“, einem ehemaligen Seenotrettungsschiff aus der Nordsee. Kein großes Boot, 23 Meter lang, mit Platz für vier bis fünf Crewmitglieder. Wir sind dieses Mal zu acht unterwegs. Es ist daher eng an Bord, zwei von uns müssen an Deck schlafen. Aber das ist egal. Weil wir jeden brauchen, und jeder eine entscheidende Aufgabe hat.

Was ist schon unser Platzmangel im Vergleich zu der erdrückenden Enge der Menschen in den Holz- und Schlauchbooten? Menschen, die wir jeden Tag aufs Neue mit Rettungswesten versorgen, damit niemand untergeht. Das ist unsere Mission in diesen Wochen: Geflüchtete vor dem Ertrinken retten.

MRCC, die italienische Seenotrettungsleitstelle in Rom, koordiniert chaotisch

In der Nacht zum 3. Oktober ist es auf dem Schiff unheimlich ruhig. Die Stille wird nur vom fortwährenden Plätschern der Wellen und dem Knacken des Funkgerätes unterbrochen. Am frühen Morgen erscheint ein schwaches Signal auf dem Radarschirm. Was es bedeutet, erkennen wir in den Linsen unserer Ferngläser, im gespenstischen Lichtkegel eines großen Rettungsschiffes wird es Wirklichkeit: ein hölzernes Fischerboot.

720 Personen, zusammengepfercht auf engstem Raum, beladen mit dem Vielfachen der eigentlichen Kapazität. In diesem Fall übernimmt die Crew der „Aquarius“ von „Ärzte ohne Grenzen“ und „SOS Méditerranée“ die Bergung des Bootes. Bei der nächsten Rettung werden wir an der Reihe sein.

Notrufe gehen bei uns ein, doch die offizielle italienische Seenotrettungsleitstelle MRCC in Rom koordiniert chaotisch. Wir erfahren nicht, wie viele Boote mit wie vielen Menschen in Not gleichzeitig auf dem Meer sind oder auch nur ihre exakte Position. Heute weiß ich: Am 3. Oktober waren es über 40 Boote mit Geflüchteten.

Auch wir, die Crew der „Minden“, haben mit der Anzahl der Menschen in Seenot und der Geschwindigkeit der Ereignisse zu kämpfen. Noch in der Dämmerung werden wir von der Rettungsleitstelle über Satellitentelefon zu einem Holzboot gerufen. Wir erfahren nur die Koordinaten. Auf dem Weg dorthin treffen wir schon auf zwei überfüllte Schlauchboote. Wir verteilen Rettungswesten, beruhigen, müssen die Lage einschätzen: keine lebensbedrohlich Verletzten, daher erstmal weiter. Bei dem gemeldeten Holzboot angekommen, treibt schon das nächste auf uns zu. Wir rufen die „Sea Watch 2“ zur Hilfe.

Tagsüber bleiben kaum ruhige Momente, das Erlebte zu verarbeiten

Alle Boote in Seenot sind gnadenlos überfüllt. Die Schlauchboote können wir Retter zunächst besser einschätzen, weil man die Personen durchs Fernglas zählen kann, oft etwa 120. Das Vier– bis Fünffache der eigentlichen Kapazität. Häufig befinden sich jedoch noch weitere eingepfercht am Boden. Holzboote haben einige Etagen, da können wir nicht zählen, wie viele Menschen es sind. Manchmal mehr als 1000. Durch Enge, Benzindämpfe und Sauerstoffmangel befinden sich in den unteren Stockwerken meist Tote.

Während wir mit der Rettung des ersten Bootes beschäftigt sind, erscheinen immer weitere am Horizont oder werden uns per Funk und Telefon gemeldet. Tagsüber bleiben kaum ruhige Momente, das Erlebte zu verarbeiten. Wir verteilen Rettungswesten, nehmen Menschen von sinkenden Booten auf, sichern Kinder und Schwangere, bergen Kranke und Verletzte und organisieren den Transfer auf größere Schiffe mit dem Ziel Europa. Einige beherbergen wir auch stundenlang an Bord der kleinen „Minden“, am Ende können wir allen einen sicheren Transfer ermöglichen – den Lebenden und den Toten.

Oft ist es so voll an Deck, dass wir entlang der Reling klettern, um nicht auf die geschwächten Menschen zu steigen. In manchen Momenten sind wir 160 auf einem Schiff für fünf. Über 20 Kinder sitzen und schlafen gleichzeitig in unseren Kojen. Am letzten Tag der Mission haben wir kein Trinkwasser mehr, keine Vorräte, keine Rettungswesten, wenig Essen. Glücklicherweise helfen andere Organisationen mit dem Grundlegendsten aus.

Ein Baby kommt auf offenem Meer zur Welt

Viele sind ausgelaugt vor Erschöpfung und schlafen an Ort und Stelle ein. 
Viele sind ausgelaugt vor Erschöpfung und schlafen an Ort und Stelle ein. 

© J. Jason Mitchell

Ein Mann hat seit Tagen nichts getrunken, sein Rachen ist so schmerzhaft ausgetrocknet, dass er kaum schlucken kann. Mit Mundspülungen, kleinsten Schlucken Wasser und Minerallösung kommt er langsam zu Kräften. Ich versorge an Bord viele bis zur Bewusstlosigkeit Erschöpfte, gebe den Dehydrierten Infusionen und den Ausgehungerten Nahrung.

Täglich verbinde ich klaffende Verletzungen und schiene Knochenbrüche. Am rechten Fuß eines jungen Ivorers kann ich in der Tiefe einer Wunde Knochen erkennen. Andere Insassen lagen stundenlang auf ihm, eine Schraube bohrte sich tief in sein Fleisch. Die Verwundeten scheinen Schmerzen gewöhnt zu sein. Niemand fragt mich nach einem Medikament, sie krümmen sich leise, bis ich ihnen lindernde Schmerzmittel verabreiche.

Unser Rettungsboot bringt ein vier Tage altes neugeborenes Mädchen mit seiner Mutter an Bord. Der Säugling ist geschwächt, schreit kaum und trinkt wenig, die Mutter ist von Geburt und Flucht ausgelaugt. Wir ernähren das Kind auf dem offenen Meer, weil sich das Wochenbett der jungen Mutter auf einem Schlauchboot befindet und sie den möglichen Tod auf dem Wasser der Gewalt in Libyen vorziehen muss.

Für eine Schwangere kommen wir zu spät, sie muss seit Stunden tot sein

An einem anderen Tag bittet mich die Crew unseres Rettungsbootes um Hilfe. Die Bodenplatten eines Schlauchbootes sind gebrochen, und es befinden sich Menschen eingeklemmt und bewusstlos zwischen dem Holz. Mit Notfallkoffer und Werkzeug beladen, nähern wir uns. Mehr als 150 Augenpaare blicken mich gespannt an. Ich steige in das defekte Boot und kann kaum stehen, weil der ganze Boden voll Menschen ist. Viele reden auf mich ein, wollen mir erklären, was passiert ist.

Ich bekomme schwer Luft in diesem beißenden Gestank: Der gesamte Grund steht Zentimeter tief voll mit einem toxischen Gemisch aus Benzin, Salzwasser und Ausscheidungen. Mit viel Kraft und Unterstützung der anderen Insassen können wir die Eingeklemmten nacheinander befreien. Einige unter großen Schmerzen, andere sind bewusstlos und bekommen die Bergung nicht mit. Wir nehmen die schlimmsten Fälle an Bord. Für einen jungen Mann kommen wir zu spät, er liegt mit dem Gesicht in der Brühe und ist gestorben. Hinter ihm eine weitere Verstorbene. Eine junge Schwangere muss seit Stunden tot sein, ihr Gesicht ist so entstellt, dass man sie nicht mehr erkennt, da die anderen Insassen in ihrem Überlebenskampf keine Rücksicht auf die Toten nehmen können und immerfort auf deren Leichname steigen müssen.

Wieder an Bord der „Minden“ öffnet ein bewusstloser Junge noch einmal seine großen Augen, blickt mich an, ringt um Atem. Alle Notfallmaßnahmen kommen zu spät, er stirbt in unseren Armen. Seine Lunge versagt, vergiftet durch die Dämpfe. Später sammele ich abgeschälte Hautfetzen von Deck, da das toxische Gemisch seine Haut verätzt und schichtweise abgelöst hat. Ich habe viele dieser Wunden gesehen.

Eine Geste, so menschlich, dass sie mich sprachlos macht

Der emotionale Kontrast ist extrem. Nirgends habe ich die Schönheit des Menschen so sehr erkennen können wie in diesen Tagen auf dem Meer. Die Selbstlosigkeit der Leute in ihrem Überlebenskampf, die immer zuerst die Kinder und Verwundeten in unsere Rettungsboote weisen. Die würdevolle Geste eines Mannes, der uns hilft, einen bewusstlosen Jungen aus einem überfüllten Boot auf unser Schlauchboot zu heben. Der Mann befindet sich bereits auf unserem rettenden Schlauchboot und steigt selbstverständlich zurück, weil auf der „Minden“ kein Platz mehr ist.

Eine Geste, so menschlich, dass sie mich sprachlos macht. Die uneingeschränkte Dankbarkeit eines Jugendlichen, dem nichts als eine Unterhose am Körper geblieben ist: Glücklich macht er Kniebeugen, um mich davon zu überzeugen, dass er die vier Meter Leiter auf das irische Marineschiff klettern kann. Wenige Stunden zuvor hatte ich ihn beinahe bewusstlos an Deck notfallmäßig versorgt.

Und doch reißt uns der Irrsinn der Wirklichkeit immer wieder aus diesen Momenten. Am frühen Morgen des 5. Oktober bittet uns die Besatzung der spanischen „Astral“ um Hilfe bei einer unheilvollen Aufgabe. Das Rettungsschiff schleppt seit dem vergangen Tag ein defektes Schlauchboot mit 29 Leichen hinter sich her. Eben jenes Boot, welches vor wenigen Stunden als Motiv des inzwischen berühmten Fotos diente. Gemeinsam verstauen unsere beiden Crews die Toten in Leichensäcken und verfrachten sie auf eine Rettungsinsel, um sie später gesammelt an ein europäisches Militärschiff zu übergeben. An Land werden sie registriert und bestattet. Noch während dieser Arbeit taucht schon ein neues Schlauchboot mit Menschen vor unseren Augen auf.

Ich weiß jetzt, was die Abschottung eines Kontinents bedeutet

Ich war an der Grenze, der europäischen Außengrenze auf dem Meer, als über 10 000 Menschen in einer Nacht die Boote an den Stränden Libyens bestiegen. Ein Tag im Oktober, an dem innerhalb weniger Stunden von verschiedenen Schiffen 38 Leichen geborgen wurden. Dieses Jahr sind mehr als 4000 Menschen im Mittelmeer umgekommen. Niemand weiß, wie viele noch ungesehen umhertreiben, wie viele unbemerkt ertrinken. Wären wir in diesen Tagen nicht mit unserem Schiff vor der libyschen Küste gekreuzt, wären noch weitere Menschen unbeachtet gestorben. Es gibt viele Boote mit Geflüchteten und nur wenige Rettungsschiffe.

Unsere so genannte Zivilisation stellt sich im Mittelmeer infrage. Eine Zivilisation, die es zulässt, dass Menschen diese vermeidbaren Tode sterben, die keine Verantwortung für diese Leute übernehmen will und die damit einverstanden scheint, dass ihre Kinder ehrenamtlich Leichen in Säcke legen.

Ich war an der Grenze Europas und habe gesehen, was die Abschottung eines Kontinents bedeutet. Ich war an meinen eigenen Grenzen und habe in dieser kurzen Zeit genügend Leid für ein ganzes Leben und darüber hinaus erfahren. Trotzdem hinterlässt mich all das nicht mutlos – denn Menschlichkeit habe ich auch gesehen.

Was bleibt, ist die Gewissheit, dass es jeden Tag so weitergehen wird. Ich weiß von vielen Booten, die an jenen Tagen von der Küste starteten und nicht gerettet wurden. Während ich diesen Text schreibe, werden erneut Menschen in Boote gepfercht, und bald schon werden wieder ehrenamtliche Retter auf dem Meer Verwundete, Verletzte und Verstorbene bergen, um weiterhin dafür einzustehen, dass kein Mensch an den Grenzen Europas sterben muss.

Die zivile Seenotrettung wird vollständig durch private Spenden finanziert. Ein Monat Mission kosten etwa 30.000 €, eine Stunde Fahrt der "Minden" 25 € und 100 Rettungsdecken ca. 100 €.

Hier können Sie die NGOs aus dem Text unterstützen.

Von Erik Gaitzsch, Mitarbeit: Neda Ghotbi

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