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Liza ist die Adaptivtochter von Ekaterina Solovyova.

© Olga Maltseva/AFP

Entgegen der Landflucht: Warum Waisenkinder in Russland aufs Dorf geschickt werden

Seit 1991 hat Russland mehr als fünf Millionen Einwohner eingebüßt. Die meisten Familien wandern ab in die Stadt - nur wenige bleiben.

Konzentriert sitzt der Erstklässler Danja an seinem Tisch in einer Dorfschule im russischen Brodi: Heute stehen Vokale und Konsonanten auf dem Stundenplan. Danja ist eins von 36 Schulkindern in dem 200-Einwohner-Dorf etwa 500 Kilometer nördlich von Moskau – und eins der 13 Pflegekinder im Dorf. „Ohne diese Kinder hätten wir geschlossen“, sagt Rektor Gennadi Schistjakow. „Die Schule und das Dorf haben mithilfe der Pflegekinder überlebt.“

Die Aufnahme von Kindern wie Danja gehört für zahllose ländliche Gemeinden in Russland zur Überlebensstrategie, denn schnell sinkende Bevölkerungszahlen führen andernorts zur Schließung von Schulen und Krankenhäusern.

„Die Leute verlassen das Dorf mit ihren Kindern, was dazu führt, dass die Schulen schließen und nur Rentner zurückbleiben“, sagt die Soziologin Vera Galindabajewa von der Russischen Akademie der Wissenschaften, die das Phänomen erforscht. „Irgendwann verschwinden solche Dörfer.“

Mit der Aufnahme von Pflegekindern seien hunderte Schulen der „Optimierung“ entgangen, wie die russische Regierung die Schließung von Gesundheits- und Bildungseinrichtungen beschönigend bezeichnet, schätzt Galindabajewa. Darüber hinaus ist auch das monatliche Pflegegeld von umgerechnet 70 Euro pro Kind willkommen in verarmten Regionen wie hier im Verwaltungsbezirk Nowgorod, der ländlichen Region zwischen Moskau und Sankt Petersburg.

Seit 1991 hat Russland mehr als fünf Millionen Einwohner eingebüßt, eine demographische Krise, die durch die wirtschaftlichen Auswirkungen des Zusammenbruchs der Sowjetunion noch verschärft wurde. Trotz finanzieller Anreize für mehr Kinder ist die Bevölkerung im ersten Halbjahr 2019 um weitere 68000 Einwohner gesunken.

Ekaterina Solovyova und ihre Adoptivkinder.
Ekaterina Solovyova und ihre Adoptivkinder.

© Olga Maltseva/AFP

Vor allem die Dörfer trifft dies hart: Von 26000 Schulen, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten geschlossen wurden, lagen 22000 auf dem Land. Brodis Bezirk Moschenskoj hatte einst 15 Schulen. Jetzt sind es noch drei.

Mit dem Lärm spielender Kinder steht das malerisch an einem See gelegene Brodi in scharfem Kontrast zu den umliegenden Geisterdörfern voller leerstehender Häuser. „Wenn die Schule geöffnet ist, lebt das Dorf weiter“, sagt Rektor Schistjakow. „Gleichzeitig unterstützt der Staat die Leute, die sich um die Waisenkinder kümmern.“ Und die Familien wandern nicht ab auf der Suche nach einem Job.

Von dem Arrangement profitieren auch die Kleinen, die sonst in staatlichen Heimen aufwachsen würden. Viele hatten alkoholkranke Eltern und kommen „in einem Zustand emotionaler Vernachlässigung“ aus den Waisenhäusern, wie Irina Kudrjawzewa vom örtlichen Schulamt sagt.

„Sie sind alle meine Kinder“

Die Geschichtslehrerin Ekaterina Solowjowa hat seit 1998 mit ihrem Mann elf Pflegekinder betreut. „An meinem Geburtstag ist das Haus voll“, sagt sie stolz und zeigt ihr Fotoalbum. Im Moment leben neben ihrem eigenen, jüngsten Sohn der siebenjährige Danja und drei weitere Kinder im Haushalt.

Als bloße Strategie zur Rettung ihrer Stelle will die 52-Jährige ihr Engagement nicht verstanden wissen: „Sie sind alle meine Kinder und es ist unser gemeinsames Leben.“ Doch nun steht Brodi vor einer neuen Herausforderung: „Es gibt keine jungen Lehrer in den Dörfern. Die Schulen werden arbeiten, bis die jetzigen Lehrer in Pension gehen“, prophezeit Soziologin Vera Galindabajewa.

„Es gibt keine Arbeit, daher verlassen die Jungen das Dorf“, erklärt auch der Rektor. Familie Solowjow ist der beste Beweis: Drei ihrer eigenen Kinder und sieben der Pflegekinder haben das Dorf verlassen und leben und arbeiten in weiter Ferne. AFP

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