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Von der Lagerhalle zum Architektenpreis: Die Palette avancierte schnell zum begehrten Baustoff und ist heute ein knappes Gut.

© picture-alliance/ dpa

Einrichtungstrend: Die unglaubliche Karriere der Europalette

Sie ist der Baustoff für das provisorische Leben, Bars und Studentenbuden wurden aus ihr gezimmert. Jetzt wird die Europalette bürgerlich – und knapp.

Zunächst sprach nichts dafür, dass die Palette mal aus dem Dunkel der Lagerhallen und Discounter ins Rampenlicht drängen würde. Sie gibt sich ungehobelt, ist nicht gerade schön, sondern sperrig und rau, hat ihren Platz ganz unten eingenommen und ordentlich rangeklotzt. Alles, was die Warenwirtschaft ihr auftrug, hat sie weggeschafft: Zementsäcke am Bau, Mehlpakete im Supermarkt, Blumenerde im Gartencenter.

Bald emanzipierte sich die Palette aber mit ihren hervorragenden Eigenschaften (belastbar! flexibel! anspruchslos! verfügbar!) von ihrer Arbeiterklassen-Herkunft und stieg in andere Kreise auf. Generationen von Studenten schleppten sie direkt von der Straße nach Hause und richteten ihre WGs damit ein: Sie saßen an Palettentischen, schliefen auf Palettenbetten, debattierten auf Palettenpodesten. Die DIY-Fabrikate hatten etwas Unfertiges, die Bretter waren splitterig, die Ecken hart, aber hey, so war auch das Leben der Studenten, die ihre bürgerlichen Biografien gleich mit darauf abluden.

Mit dem Ladungsträger zog ein Hauch von Straßenkampf und brennenden Barrikaden in ihre Zimmer ein. Dass man sich bei jeder Zusammenkunft am Palettentisch die Schienbeine polierte – geschenkt. Ohne Blessuren war der Ausbruch aus der Komfortzone der Bürgerlichkeit nun mal nicht zu haben. Und wenn einer irgendwann genug Splitter im Finger hatte, brachte er die Paletten zurück auf die Straße, wo gleich das nächste Erstsemester zugriff. Paletten waren eine Art Treibgut der Stadt, man konnte sie einsammeln wie die Pilze im Wald.

Die Palette ist begehrt wie nie zuvor

Weil sie so leicht zu haben war, wurde die Palette zu dem Stoff, aus dem Zwischennutzungsprojekte sind. Zwischennutzung heißt ja, man kann für eine Weile auf einem Grundstück etwas aufziehen, eine Bar, ein Atelier vielleicht, nur ewig bleiben kann man nicht. Also improvisiert man. Ein paar Paletten hier, ein Steg, ein paar Paletten dort, ein Tresen, fertig ist der Club. So auch die Bar 25, die bis 2010 an der Spree residierte: „Soweit ich mich erinnern kann, ist der ganze Laden aus Paletten gebaut worden. Wir haben sie zerstückelt und umgenutzt, der Rest wurde verbrannt, um den Gästen die Frühlingsnächte mollig warm zu machen. Als wir den Laden abrissen, haben wir das Leergut auf die zum Vorschein kommenden Paletten gepackt und zurückgebracht“, erzählt einer, der damals dabei war.

Allerdings müssen sich die Zwischennutzer wohl bald nach einem neuen Baustoff zum Glück umsehen. Laut dem Bundesverband „Holzpackmittel, Paletten und Exportverpackungen“ wird die Europalette nämlich knapp. Im Januar meldete er, wegen der anhaltend guten Konjunktur sei die Nachfrage so hoch, dass die Produzenten nicht mehr hinterherkämen: Lieferengpässe und Hamsterkäufe, trotz steigender Preise (inzwischen kostet eine neun Euro). Auch der Gebrauchtmarkt sei schon leer gefegt. Mittlerweile ist die Palette so begehrt, dass Anfang des Jahres ein Gabelstaplerfahrer erwischt wurde, der über Monate Paletten aus seinem Betrieb abgefahren und verkauft hatte. 40 000 Euro hatte er damit verdient.

Aber liegen die nicht an jeder Straßenecke? Oder in jedem Keller? Warum schmeißen die Werke nicht mehr auf den Markt? Die Hersteller haben 2017 schon Sonderschichten geschoben und die Produktion um rund sieben Millionen Paletten erhöht. Mehr ist zurzeit nicht drin. Es mangelt an dem nötigen Schnittholz, aber auch an Fachpersonal und Maschinen. Gabriele Köstner, Inhaberin des Neuköllner Holzverpackungsunternehmens Müller-Zeiner, das in Brandenburg Paletten produziert, bestätigt das für den Moment.

Elf Bretter, die die Welt bewegen

Sie kann auch vom Anfang der Palette erzählen, die beiden sind im selben Jahr geboren. Erstmalig kam der sogenannte „Holzladungsträger“ bei einigen europäischen Eisenbahnen zum Einsatz, die sich Anfang 1961 auf eine genormte, tauschbare Palette aus Holz einigten: 120 Zentimeter lang, 80 breit, 14,4 hoch. Mit ihrer Einführung beschleunigte sich die Ladezeit von Güterwaggons und Lastwagen um 90 Prozent. Weil die Paletten Teil eines großen Tauschsystems sind, können die Lieferanten ihre Waren gleich auf der Palette abladen und dafür eine andere mit zurücknehmen.

Neun Holzklötze, 78 Spezialnägel und elf Bretter, die die Welt bewegen. Vorbei die Zeiten, in denen jedes Produkt in einem anderen Gebinde daherkam. „Das war die Revolution, vielleicht die Revolution nach der Erfindung des Autos im Transportwesen“, sagt Martin Leibrandt, Geschäftsführer der Gütegemeinschaft Paletten. Die Abmessungen der Europalette wurden schnell zum Maß aller Dinge. Ladeflächen in Lastwagen, Güterwaggons und in Lagerhallen richten sich nach ihr.

1994 wurde der europäische Dachverband European Pallet Association (Epal) gegründet, um die Qualitätssicherung für das besondere Stück Holz und seine Reparatur zu gewährleisten. Schließlich werden „nicht nur Cornflakes damit transportiert“, sagt Epal-Sprecherin Andrea Engels. Die Paletten müssen halten, was sie versprechen. 1500 Kilogramm tragen, nicht schimmeln, aus unbehandeltem Holz (meist Fichte) gezimmert sein. Identifizieren kann man die Epal-Paletten an den Siegeln, die in die Klötze gebrannt sind. Auch auf anderen Kontinenten ist die Europalette mittlerweile gefragt, in Asien zum Beispiel. Weltweit waren im letzten Jahr mehr als 450 Millionen Stück in Umlauf. Inzwischen gilt die Palette schon als Frühindikator für die Konjunktur: Wenn die Nachfrage steigt, boomt die Wirtschaft.

Das Provisorische bleibt der Mythos von Berlin

Der Gemeinschaftsgarten „Himmelbeet“ wurde für sein Palettencafé sogar ausgezeichnet.
Der Gemeinschaftsgarten „Himmelbeet“ wurde für sein Palettencafé sogar ausgezeichnet.

© Kitty Kleist-Heinrich

Als der Gemeinschaftsgarten Himmelbeet 2013 in einer Baulücke nahe dem U-Bahnhof Leopoldplatz im Wedding gegründet wurde, war die Lage noch entspannt. Das Himmelbeet ist der reinste Freiluft-Paletten-Showroom. Die Beete, das Café, die Terrasse, eine Tribüne – fast das ganze Inventar besteht aus den Ladungsträgern. Für die Beete haben sie hier einfach einen Rahmen drum herumgebaut, fertig war die Pflanzkiste. Der Architekt Michael Kloos, der das Areal geplant hat, fand die Maße der Palette ideal für ein Beet, das eine Person gut über ein Jahr bewirtschaften kann.

Auch beim Entwurf des Cafés hat Kloos auf die Palette gesetzt: „Ich wollte ein Material verwenden, das nicht viel kostet, leicht zu bewegen ist und mit dem Laien gut arbeiten können“, sagt er. Die Gartengemeinschaft hat das Café selbst gebaut. Die Wände bestehen aus Europaletten, mit Stampflehm gefüllt, weil das mehr Stabilität, Geräuschdämmung zur Straße und im Sommer einen Kühleffekt ergibt. Das Ergebnis hat sogar den Bund Deutscher Architekten (BDA) überzeugt. Im Jahr 2015 hat das Café eine der Auszeichnungen der Fachjury beim Berliner Architekturpreis und den Publikumspreis abgeräumt. Die Palette, angekommen im Baustoff-Olymp.

Doch auch das Himmelbeet hat nur einen Zwischennutzungsvertrag, Ende des Jahres müssen die Gärtner weichen. Wohin, steht noch nicht fest, dass sie ihr Café mitnehmen, ist klar. Entweder sie versetzen es per Kran oder zerlegen es und bauen es auf der neuen Fläche wieder auf. Derzeit verhandeln sie mit dem Bezirk über ein Ersatzgrundstück.

Ein bisschen Street Credibility, ganz ohne Plumpsklo

Auch wenn die Brachen immer weniger werden in Berlin: Das Provisorische, Unfertige, Zwischennutzungshafte bleibt der Mythos der Stadt. Es ist zu so etwas wie ihrem Markenkern geworden. Stadtmarketing, Tourismusbranche und Werbeagenturen wissen das. Und so zitieren auch solche Locations dieses Lebensgefühl, die damit eigentlich nicht viel zu tun haben. Inzwischen gibt es kaum eine Eisdiele oder Rooftop-Bar, die nicht irgendwo eine Palettenbank unterbringt.

2013, im selben Jahr wie das Himmelbeet, eröffnete im Bikini Berlin am Zoo das 25hours Hotel. Die Inneneinrichtung stammt vom Berliner Stardesigner Werner Aisslinger, der das Interieur als „Urban Jungle“ gestaltet hat. Die Website des Hotels verspricht, der Ort versprühe „den rauen, unfertigen Charme der Berliner Kreativszene“. Dabei hilft nicht nur der Blick auf die Affen im Zoo, sondern auch die Palette. Im Empfangsbereich zieht sich eine bepflanzte Palettenwand hoch, hier und da ist ein Tisch oder ein Tresen aus Paletten hingetupft. So wird das szenige Berlin chiffrenhaft aufgerufen, und der Gast hat das Gefühl, irgendwie dabei zu sein, ohne dass er dafür extra das Haus verlassen müsste. Ein bisschen Street Credibility, ganz ohne Generatorausfall und Plumpsklo. Be Berlin, auch du! Ineke Hans, Professorin für Design und Social Context an der Universität der Künste in Berlin, sagt: „Da soll ein lockeres Lebensgefühl mitschwingen, auch wenn man selbst vielleicht gar nicht so locker ist.“

Die Palette kündet aber nicht nur vom wilden Leben, sie ist auch ökologisch wertvoll und ordentlich herumgekommen. Um die 15 Einsätze hat so ein Ladungsträger hinter sich, bevor er als irreparabel gilt und aus dem System fliegt. Auf dem Müll muss er trotzdem nicht landen, weil er als Upcycling-Material begehrt ist. Anders als beim Recycling werden die Abfallprodukte dabei nicht wieder aufbereitet, sondern so veredelt, dass sie am Ende höherwertig sind. Dabei entstehen Taschen aus alten Lastwagenplanen, Geldbeutel aus Feuerwehrschläuchen oder eben Designermöbel aus unbrauchbaren Paletten.

Meine Möbel sind individuell, also bin ich es auch

Karls Erbeerhof hat ein Hotel in Rövershagen bei Rostock mit Europaletten eingerichtet.
Karls Erbeerhof hat ein Hotel in Rövershagen bei Rostock mit Europaletten eingerichtet.

© promo

Die Friedrichshainer Möbelbauer von „Upcycling Berlin“ fertigen zum Beispiel Tische, Bänke, Kommoden oder Sideboards daraus. Michael Dobler, 28, gelernter Zimmermann und einer der Gründer des Unternehmens, erklärt, dass die Verarbeitung dieser Paletten ziemlich aufwendig ist. Sie haben Risse, ihre Klötze sind kaputt. „Das braucht viel Handarbeit, da kann man mit Maschinen kaum was machen“, sagt er.

Dass die Möbel aus Abfallholz entstanden sind, bedeutet aber nicht, dass sie im Showroom an der Revaler Straße günstig zu haben sind. Für Robert, einen Palettentisch, muss man beispielsweise 1800 Euro hinblättern. Michael Dobler sagt, viele seiner Kunden zählten zum LOHAS-Milieu (Lifestyle of Health and Sustainability), hingen also einem Lebensstil an, für den Nachhaltigkeit und Gesundheit entscheidend sind. Die Kunden honorieren die Geschichte, die hinter den Möbeln steckt. Gefertigt aus einem natürlichen Material, nachhaltig produziert, jedes Modell ein Unikat mit individuellen Gebrauchsspuren. Wer ein solches Objekt besitzt, hebt sich von der Masse ab.

Nur: Wenn etwas in den Großstädten angesagt ist, bleibt das nicht lange unbemerkt. Was die Trendbewussten einst von der Masse abgehoben hat, wird schnell vom Mainstream gekapert. So auch die Palette. Seit Kurzem haben sogar Obi, Bauhaus und Hornbach spezielle „Möbelpaletten“ im Sortiment. Die sind schon geschliffen und lackiert und werden samt Sitzauflage und Bauanleitung angeboten. Obi weiß: „Europaletten erfreuen sich im Do-it-yourself-Bereich immer größerer Beliebtheit. Ob eine Lounge-Ecke mit Tisch und Barhocker, Blumenkasten oder Bücherregal – 08/15 können andere.“ 08/15, das will nun wirklich keiner, auch der Obi-Kunde nicht.

Individuell? Die Baumärkte liefern die Anleitung gleich mit

Der Soziologe Andreas Reckwitz erklärt in seinem neuen Buch, dass wir in einer „Gesellschaft der Singularitäten“ leben, in der allein dem Außergewöhnlichen ein Wert zugeschrieben wird. Nur wer individuell ist, kann auf den „Attraktivitätsmärkten“ unserer Zeit noch bestehen. Und so suggeriert sogar die Möbelpalette aus dem Baumarkt dem Käufer Einzigartigkeit, dient sie als Vehikel seiner Selbstinszenierung: Seht her, meine Möbel sind individuell, also bin ich es auch.

Die ursprüngliche Idee ist bei dieser Übernahme verloren gegangen. Sperrig sein? Bei Obi setzt man auf adrette Lackierung und komfortable Rückenkissen. Upcycling? Steht zwar als vermutlich verkaufsfördernder Begriff im Baumarkt-Prospekt, hat seine Bedeutung aber eingebüßt. Die verwendeten Paletten sind frisch produziert. Individuell? Die Baumärkte liefern die Anleitung für die DIY-Möbelparade gleich mit.

Ist ein Produkt erst zur Massenware verkommen, sind die einstigen Trendsetter längst weitergezogen. Michael Kloos, der Architekt vom Himmelbeet, erzählt von dem Moment, als ihn aus einem Lidl-Prospekt ein Hipster mit Bart und Rennrad anstrahlte, der vor Paletten drapiert für einen Joghurt warb. Kloos: „Da war klar, dass das im Design-Bereich durch ist.“

So empfindlich ist man nicht überall. In Rövershagen bei Rostock wollen sie noch richtig durchstarten mit der Palette. Ende des Monats eröffnet das Erdbeer-Imperium Karls dort das Hotel „Alles paletti“. Darin haben sie das Material beherzt verbaut, in Betten, Wandverkleidungen und Fassaden. Und Erdbeerbaron Robert Dahl ist begeistert: „Das ist so ziemlich das Coolste, was wir bei Karls bisher gemacht haben.“

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