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Nur selten kommt man mit dem Bulli so dicht ans Meer wie hier.

© Pablo Castagnola

Eine Wohnmobil-Tour entlang der Ostseeküste: Auf der Suche nach dem perfekten Stellplatz

Sonnenuntergänge und Sand so fein wie in den Tropen. Die Bulli-Tour entlang der Küste führt durch Naturschutzgebiete und ein Stück deutscher Geschichte.

Die Ostsee erscheint uns zum ersten Mal in Heiligendamm, verlockend blitzt sie blau-türkis zwischen den weißen Villen hervor. Wir, vier Freunde in zwei Wohnmobilen, biegen in den Küstenwald ab, fahren auf einem holprigen Stichweg zu einem Ort, den wir vorab in der Satellitenansicht als unseren ersten Stopp auserkoren haben: eine Bar auf der Steilküste mit einer Terrasse über dem Meer.

Das Lokal liegt an einem Ort, wie man ihn eher mehrere Flugstunden entfernt erwarten würde. Eine Treppe führt durch Wildrosen hinunter zum Strand, feinkörnigster Sand, dahinter das hellblaue Meer. Ist das wirklich die deutsche Ostsee? Ja, sagen die Strandkörbe.

So nah wie möglich am Meer

Diese Reise soll so etwas wie eine Suche nach Orten werden, an denen die Freiheit spürbar ist, die das Meer verspricht. Für vier Tage sind wir aus der Stadt ausgebrochen, um uns im vergangenen Spätsommer auf vier Rädern übers Land treiben zu lassen, immer an der Küste entlang, von Heiligendamm westwärts bis zur einstigen innerdeutschen Grenze bei Travemünde.

Unser Wohnmobil ist ein betagter Volkswagen T3-Bulli mit Aufstelldach – und mit L-Bank, wie die Vermieterin in Rostock betonte, wodurch man neben der Miniatur-Einbauküche über Eck sitzen könnte, doch das werden wir sicherlich nicht machen, weil wir jede freie Minute dieses ausklingenden Sommers draußen verbringen wollen. Wir werden, so haben wir es uns zumindest ausgemalt, auf den schönsten Stellplätzen übernachten, so nah wie möglich am Meer.

Die Steilküste bei Heiligendamm: Im Hintergrund erkennt man die Häuser der Weißen Stadt.
Die Steilküste bei Heiligendamm: Im Hintergrund erkennt man die Häuser der Weißen Stadt.

© Pablo Castagnola

„Wir haben lange gesucht, bis wir diesen Ort gefunden haben, so ganz ohne Nachbarn und direkt am Meer“, sagt Patrick Haninger, ein gebräunter Kalifornier, der eine Baseball-Mütze mit Ananas-Logo trägt. Er wirkt, als würde er sich jeden Moment das Surfbrett unter den Arm klemmen und den Rest des Tages auf den Wellen verbringen. Gemeinsam mit seiner Frau Sarah hat er in den letzten zehn Jahren einen Imbiss mit Fensterverkauf an der Steilküste bei Heiligendamm in eine Strandbar verwandelt. „Die Sonnenuntergänge hier sind echte Weltklasse, und der Sand ist so fein, wie man es aus den Tropen kennt“, sagt Haninger.

Ob er einen Tipp für uns habe, wo wir den perfekten Stellplatz für die erste Nacht finden können? Kägsdorf, sagt Patrick. Dort könne man fast direkt am Strand stehen, zumindest sei das bisher immer erlaubt gewesen. „Und wenn nicht, kommt ihr zurück und stellt euch neben den Waldweg, da stehen oft welche.“

Es ist gar nicht so leicht, an der Ostsee charmante Stellplätze für Wohnmobile zu finden. Vielerorts gibt es zwar Eins-a-Parkplätze wenige Meter vom Strand entfernt, doch die meisten schließen nachts. Und im öffentlichen Parkraum gilt die Regel, dass man nur zur „Wiederherstellung der Fahrtüchtigkeit“ über Nacht parken darf, solange man keine Tische und Stühle aufstellt und damit nicht offensichtlich zum Camper wird. Freiheit klingt anders.

Charmante Klapprigkeit mit "Eggi"

Unser gemieteter VW T3, Baujahr 1981, fühlt sich nach Abenteuer an, ein bisschen wie ein in die Tage gekommenes Schiff auf Rädern, mit einem Lenker wie ein Steuerrad und schwimmender Federung. „Eggi“, wie ihn die Vermieterin uns liebevoll vorgestellt hat, fühlt sich auf Landstraßen am wohlsten, fährt ungern schneller als 90 Kilometer pro Stunde und rasselt schon bei Tempo 50 so beunruhigend, dass man allein aus Mitleid nie Vollgas fährt.

Die Tachonadel zittert nervös, die Lüftung röchelt, und es riecht nach Aerosolen aus dem Motorraum. Die Innenausstattung atmet noch der Geist der 70er Jahre: eierschalenfarbener Lack, geblümte Sitzpolster, Holzimitat. Irgendwie macht „Eggi“ mit seiner charmanten Klapprigkeit den Weg zu einem wichtigen Teil des Ziels.

In Kühlungsborn legen wir einen Stopp am Ostsee-Grenzturm ein, einem weißen Betonturm an der Strandpromenade, auf dem eine rundum verglaste Beobachtungskanzel sitzt, 15 Meter hoch, erbaut 1972, Typ BT-11. Wir steigen in seinem Innern an einer senkrechten Metallsprossenleiter empor, schauen aus offenen Fenstern auf den Strand herab, wo Badende auf bunten Handtüchern liegen.

„Fehmarn liegt 40 Kilometer entfernt, die internationalen Schifffahrtsrouten sieben, wenn man da das richtige Schiff erwischt hat, hatte man es in den Westen geschafft“, sagt Knut Wiek. Der ehemalige Bürgermeister von Kühlungsborn hat den DDR-Grenzturm im Sommer 1990 mit einigen Mitstreitern in letzter Minute vor dem Abriss bewahrt. Heute führt er Gäste hinauf und durch das angrenzende Mini-Museum, das von Fluchtgeschichten erzählt. Etwa die von Peter Döbler, der 25 Stunden lang von Kühlungsborn nach Fehmarn schwamm.

Knut Wiek erklärt den Besuchern die Geschichte von Kühlungsborn.
Knut Wiek erklärt den Besuchern die Geschichte von Kühlungsborn.

© Pablo Castagnola

Mehr als 5000 Menschen versuchten zwischen 1961 und 1989 über die „Blaue Grenze“ aus der DDR zu fliehen – per Luftmatratze, selbstgebautem U-Boot, Faltboot, Surfbrett, Schlauchboot. Nur 913 erreichten ihr Ziel. „Als junge Leute saßen wir hier am Strand, schauten der Fähre nach Trelleborg nach und malten uns aus, wie sie da an Bord ihren Whisky trinken“, erzählt Wiek. „Abzuhauen war bei uns ein ewiges Thema, auch wenn wir gar nicht politisch waren.“

Wir erreichen Kägsdorf am frühen Abend, als die Surfer in Neoprenanzügen gerade in den letzten goldenen Sonnenstrahlen vom Strand zurückkommen. Tatsächlich finden wir einen Stellplatz mit direktem Blick auf die Brandung – unsere Ferienwohnung am Meer! Wir bauen den kleinen Campingtisch auf und genießen das Glück.

Später, vom menschenleeren Strand aus, sehen wir den dicken roten Backsteinleuchtturm von Bastorf, der im Rhythmus von Sekunden sein Leuchtsignal über die flache Landschaft aus Weiden und Dünen streut. Schwarze Algenblöcke liegen wie Felsbrocken im Spülsaum zwischen Tang und Miesmuscheln, eine Möwenkolonie steht eng gedrängt und fast regungslos im Sand.

Ein schwarzgelockter Zufallsfund

Das Schöne am Camper-Urlaub ist, dass man auf der Karte nach spannenden Orten Ausschau halten und dann einfach hinfahren kann, zum nächsten verheißungsvollen Strand, einer Fischräucherei – oder zu einer Wasserbüffelherde. Der Hof Seekoppe ist so ein Google-Karten-Fund, ein kleines Tropfensymbol am Ortsrand von Roggow.

Auf rund 140 Hektar am Salzhaff leben hier an die 200 Wasserbüffel. Einige nähern sich neugierig, als wir uns an den Zaun stellen, lassen sich sogar das schwarzgelockte Fell streicheln. Andere bleiben auf Abstand und schnaufen aus der Tiefe ihrer Lungen.

„Ein bis zwei Mal im Jahr steht die Ostsee bis hier vorne an der Straße, deswegen haben wir uns für die Wasserbüffel entschieden“, sagt Rüdiger Winterhager, der den Hof 2007 übernommen hat, ein schlanker älterer Herr in Anpackermontur: abgewetzte Jeans und Karohemd. „Ich sag’ immer, irgendwann leben wir hier auf einer Hallig und müssen uns übers Dach abholen lassen.“

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Normale Kühe würden auf den feuchten Salzwiesen Probleme an den Klauen kriegen, die Wasserbüffel hingegen lieben es, im Nass zu stehen. Winterhager hat beschlossen, sein Land nicht abzuzäunen. Jeder darf es betreten, auf den Wegen die Büffelweiden erkunden, an alten Eichen vorbei zu einem einsamen Strand am Salzhaff gehen oder zu den Schilfwäldern, in denen Wildschweine und Nutrias leben. Im Hofladen gibt es Wasserbüffelfleisch. „Das ist cholesterinarm, hat einen leichten Wildgeschmack und fällt quasi von der Gabel“, sagt Winterhager. Gerade habe er nur noch Chorizo und Leber, wir nehmen beides mit. Heute Abend wollen wir den Grill anfeuern, natürlich mit Blick aufs Meer.

Auf der Insel Poel erwartet uns eine herbe Enttäuschung. Eine Grundregel des gelungenen Camperurlaubs ist vermutlich: Bloß nicht zu hohe Erwartungen an den nächsten Stellplatz hegen! Der Parkplatz am Faulen See an der Südspitze der Insel sah aus der Vogelperspektive perfekt aus. Er liegt am Rande eines Naturschutzgebietes und nur wenige Schritte von einem Strand entfernt, vor dem die Sonne als glühender Ball im Meer versinken würde. Der Traum endet an einer Metallstange am Parkplatzeingang, die irgendwo auf fiesen 1,90 Metern hängt, niedrig genug, um auch die unschuldigsten Wohnmobile abzuhalten.

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Wohin also jetzt? Am Parkplatz am Boiensdorfer Werder, wo wir am Nachmittag den Kitesurfern zugeschaut haben, stand: „Übernachten verboten“. Gleich daneben lag ein Wohnmobilstellplatz, der sah nett aus, aber jetzt noch 20 Kilometer zurückfahren? In Gedanken sind wir schon längst bei den Wasserbüffel-Chorizos.

Es fühlt sich nach einer Niederlage an, als wir kurz darauf an der Rezeption des Campingplatzes in Timmendorf auf Poel stehen – und wie in einer Behörde kurz vor Dienstschluss. Die Empfangsdame schiebt die notwendigen Formulare über den Tresen. Ausweis, ausfüllen, unterschreiben. Wir müssen doppelt bezahlen, die Mindestaufenthaltsdauer betrage zwei Tage, sagt sie schmallippig. Macht 76 Euro. Wir zahlen, wortlos, und lassen uns einweisen.

Männer, die auf Vögel starren

Dutzende Wohnmobil-Schlachtschiffe stehen hier in Reih und Glied, manche mit Vorzelten in der Größe von Gartenlauben. Ältere Männer in Schlappen entleeren ihre Fäkalientanks neben dem Toilettenhäuschen, ein Schild weist den Weg zum Outdoor-Schachbrett, ein anderes wirbt für „Keramik bemalen“ am Dienstag – um 9 Uhr morgens!

Der Einweiser fährt mit dem Rad vorweg und weist uns einen Stellplatz in der hintersten Ecke zu. Nur ein Maschendrahtzaun trennt uns von der dahinter liegenden Marschlandschaft, man könnte es fast für ein Plätzchen in der Natur halten. Gänse fliegen in Keilformation über uns hinweg. Als wir den Grill angefeuert und den Rotwein eingeschenkt haben, hat sich die Dunkelheit über unsere kleine Niederlage gelegt.

Unbedingt wollen wir am nächsten Tag zur Nordspitze der Insel. In Gollwitz parken wir vor dem Dorf, laufen an Kopfweiden vorbei zum Wasser und mieten uns einen Strandkorb für den Tag. Es ist der richtige Ort, um mal nicht auf der Karte nach dem nächsten Ziel zu suchen, sondern einfach nur im Windschatten aufs Meer zu starren und auf die von Schilf gesäumte Vogelschutzinsel Langenwerder.

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Wir verlassen Poel, umschiffen Wismar und Boltenhagen und rollen in eine urige Landschaft mit reetgedeckten Backsteinhäusern, Schafweiden und Obstbäumen, die von hysterisch zwitschernden Staren bevölkert sind. Wir passieren Kastanienalleen und endlose Äcker, die ins Meer zu fallen scheinen. Unser Ziel: Steinbeck. Hier haben wir einen Parkplatz an einem Naturstrand unterhalb der Steilküste ausgemacht. Auf dem schmalen Weg hält uns eine geschäftstüchtige Frau an. Wir müssen 40 Euro zahlen, um hier über Nacht stehen zu dürfen, Grillen und Stühle rausstellen nicht erlaubt – als Camper sollten wir das doch eigentlich wissen. Sie gibt uns ein kleines rotes Ticket und verschwindet.

Ihren Parkplatz haben wir für uns allein, können uns den besten Spot aussuchen, von dem wir das Meer im Blick haben. Ein Pfad führt hinunter zum Strand, der tatsächlich ein wilder ist. Felsbrocken liegen im Wasser, Bäume sind umgestürzt, Tang und Treibholz ist vom letzten Sturm liegen geblieben. Der Zufall will es, dass die Sonne an diesem Septemberabend exakt an der letzten Spitze der Steilküste versinkt, wie es sich für kitschige Roadmovies gehört.

Ein Zaun am Strand

Unsere letzte Etappe führt über die Dörfer nach Rosenhagen, kurz vor der ehemaligen innerdeutschen Grenze an der Trave. Ab 1962 war Rosenhagen Sperrgebiet, von außen durfte keiner rein wegen der Fluchtgefahr, und auch heute geht es hier noch recht ruhig zu. Im Vorgarten des Cafés Strandgut, einer Holzhütte auf halbem Weg zum Strand, serviert Kirsten Guni Riesenstücke Biscuit-Sahnetorte mit Himbeeren und Blaubeeren. Der Radweg sei früher der Kolonnenweg der Grenzer gewesen, erzählt sie, und ein Grenzzaun habe die Rosenhagener von ihrem Strand getrennt. Aber für die alten Kamellen sollten wir besser Oma Ruth fragen. „Die weiß mehr als alle zusammen.“

Ruth Wollmann jätet in Kittelschürze das Lilienbeet, die Quecke muss raus. Ihr Haar ist silberweiß, in ihrer Stimme schwingt die norddeutsche Tonlage mit, sie stützt sich auf ihren Gehstock. Mit acht Jahren sei sie als Flüchtlingskind von Hinterpommern nach Rosenhagen gekommen, das war 1945. In der DDR zog sie Kälber in der LPG auf und lebte über Jahrzehnte in Sichtweite zum Meer, ohne auch nur einen Fuß auf den Strand setzen zu dürfen.

„Als Kinder haben wir die Rinder am Steilufer bis zu den Wiesen bei Barendorf getrieben, gingen baden und sind in den Dünen rumgetobt, aber als sie den Zaun gezogen haben, durften wir das alles nicht mehr“, erinnert sie sich.

Das Magazin "Ostsee" ist online bestellbar unter shop.tagesspiegel.de.
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© Promo

Die Sonne versank an den schönen Sommerabenden ohne die Rosenhagener im Meer. Mehr als ein halbes Leben später verschwanden Zaun und Staat, Ruth Wollmann ging zum Strand, von dem sich die See in all den Jahren viel geholt hatte. „Ich stand bloß da und konnte es nicht fassen“, sagt Oma Ruth. „Wie soll ich sagen, ich habe mich irgendwie frei gefühlt.“

Dieser Text ist ein gekürzter Abdruck aus dem Tagesspiegel-Unterwegs-Magazin "Ostsee", 9,80 Euro am Kiosk und im Tagesspiegel-Shop.

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