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Illustration: Suse Grützmacher

© Illustration: Suse Grützmacher

Eine Vorlesegeschichte: Das letzte Weihnachtsfest

Ein Heiligabend mit Fondue und Familie. Was soll schiefgehen? Schließlich hat Jürgen ein Hygienekonzept ausgearbeitet. Eine Weihnachtsgeschichte.

Eigentlich war abgemacht, dass Cleo und Gonzo diesmal Heiligabend bei Gonzos Eltern in Spanien verbringen. Das fiel natürlich aus. Also würden sie wieder einmal zu Jürgen und Mechthild gehen, Cleos Eltern. Die beiden hatten vor ein paar Jahren ein Haus auf dem Land gekauft, einsam gelegen, bis zum Stadtrand waren es trotzdem nur zehn Kilometer. Es würde Fondue geben, wie immer. Der kleine Orlando würde lieb sein, wie immer, die pubertierende Luna Luisa eher nicht mehr. So weit alles klar.

Cleo und Gonzo kam es seltsam vor, mit 40 und eigenen Kindern immer noch bei den Eltern zu feiern. Es ist bequemer so, sagte sich Cleo. Wir müssen nicht putzen und aufräumen. Ihre Wohnung war ziemlich verlottert, seit keine Freunde mehr zum Abendessen oder Netflixgucken kamen. Nur das Arbeitszimmer räumten sie noch auf, wegen Cleos Zoom-Konferenzen.

Per Mail trifft Jürgens Hygienekonzept ein, als PDF, zwei Seiten

Jürgens Mutter wollte unbedingt mitfeiern. Irmchen war 93, Hochrisikogruppe, aber sie ließ sich das nicht ausreden. Wie in jedem Jahr seit 2016 hatte sie wieder angekündigt, dass dieses ihr letztes Weihnachten sein werde. Sie spüre das. Ob sie sich infiziere, sei ihr deshalb egal. Nach einem positiven Test würde sie sofort Gift nehmen. Ihre Todespille trug Irmchen in einem aufklappbaren Medaillon immer mit sich, ähnlich wie es einst Inge Meysel getan haben soll. Das Medaillon war ziemlich klein und baumelte an einem goldenen Armband. Niemand in der Familie nahm das ernst.

Jürgen und Mechthild sagten, dass ihnen die Regeln völlig egal seien. Auf jeden Fall würde es auch diesmal einen Heiligen Abend in gewohnter Form geben. Jürgen zitierte ständig Statistiken, die er aus trüben Internetquellen fischte. Wenn Cleo Statistiken zitierte, die das Gegenteil seiner Statistik bewiesen, sagte er: „Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.“

Cleo und Gonzo fanden, dass die Regeln eher strenger sein sollten. Orlando musste im Unterricht keine Maske tragen, in der derzeitigen Lage war das fast schon verantwortungslos – aber die Schulklasse war wenigstens eine Infektionsgemeinschaft. Sie hatten verlangt, dass am Heiligen Abend Masken getragen und Abstandsregeln eingehalten werden. Vorher würden sie alle ein paar Tage in Quarantäne gehen. „Nicht alles, was erlaubt ist, muss auch gemacht werden“, das waren Cleos Worte. Ihre Eltern sollten zur Gestaltung des Heiligen Abends ein Hygienekonzept ausarbeiten. Ansonsten würde das Fest eben ausfallen.

„Für Jürgen ist das ein schweres Opfer“, hatte Mechthild am Telefon gesagt. Trotzdem traf am nächsten Tag per Mail Jürgens Hygienekonzept ein, als PDF, zwei Seiten. Kommentarlos.

Illustration: Suse Grützmacher
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© Illustration: Suse Grützmacher

Sie nahmen ein Taxi, teuer, aber immer noch sicherer als U-Bahn und Bus. Dass Gonzo etwas trinken würde, hielt Cleo für fast unvermeidlich, und sie hatte keinen Führerschein. Als sie ankamen, beruhigte sich Cleo etwas. Die Stühle standen genau anderthalb Meter auseinander, wie angekündigt. Jürgen hatte es mit dem Zollstock ausgemessen. Für die Kinder gab es einen Extratisch. Das große Fenster und die Tür von Esszimmer zum Garten standen offen. Auf einem weiteren Extratischchen lagen FFP2-Masken, die teuren also, die Cleo und Gonzo sich leider nicht immer leisten konnten. Gonzo war ja seit Monaten nicht mehr mit seiner Band aufgetreten. Auf die Masken waren kleine Flügelengel geklebt, die Posaune spielten, das hatte Mechthild gemacht.

„Es ist nur einmal im Jahr Weihnachten, da lassen wir’s uns mal gut gehen“, sagte Jürgen, etwas bemüht klingend, und deutete auf die teuren Masken. „Ich hab mich beraten lassen, die sind Spitze.“

Dann sah Cleo den Heizstrahler, gasbetrieben. Er stand neben dem Esstisch. „Willst du uns alle umbringen?“

„Das stand so im Hygienekonzept. Ich will nicht, dass wir frieren.“ Jürgen wirkte leicht beleidigt.

„Ich brauche keine Maske. Dieses Weihnachten ist mein letztes, wozu also“

„Du kannst den nicht in der Wohnung aufstellen, das ist gefährlich.“ Wieder einmal fiel Cleo auf, dass Jürgens Generation ein schwächeres Gespür für Risiken besaß als ihre. Die Babyboomer hatten in ihrer Jugend eben immer in Sicherheit gelebt. Die Welt war, von den Atombomben abgesehen, noch nicht so bedroht.

Gonzo griff sich den Strahler und trug ihn nach draußen, dabei stolperte er über die Schwelle und fing sich im letzten Moment. Gonzo war ein Spitzname, der im Spanischen „Tollpatsch“ bedeutet.

Irmchen trug zum schwarzen Kostüm ihre weiße Nerzstola. „Ich brauche keine Maske. Dieses Weihnachten ist mein letztes, wozu also.“

„Dann trag ich auch keine“, sagte Luna Luisa. Wieder ging die übliche Diskussion mit ihr los. Sie war mal so ein liebes Mädchen gewesen. Aber der Gipfel war das Verhalten von Irmchen, wollte die aus Ignoranz ihre gesamte Seniorenresidenz auslöschen? Jürgen sagte: „Denk an den Krieg, Mutti. Die Gasmasken. Wir alle müssen die Arschbacken zusammenkneifen.“

„Nicht solche Wörter vor den Kindern“, sagte Cleo. „Ich kenn noch ganz andere Wörter“, sagte Luna Luisa.

„Vor der Bescherung wird Oh Tannenbaum gesungen“, rief Mechthild fröhlich. „Natürlich draußen und mit Abstand. Irmchen, du stehst neben dem Heizstrahler.“ Es regnete nur ganz leicht. „Ich werde vielleicht nie im Leben Schnee sehen“, sagte Luna Luisa, „Das hat auch ein klein wenig mit eurem Heizstrahler zu tun, Oma.“

Illustration: Suse Grützmacher
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Bevor Mechthild etwas erwidern konnte, legte ihr Jürgen beruhigend die Hand auf den Arm und sagte ernst: „Wir hinterlassen eurer Generation wirklich eine schwere Hypothek. Ich bin froh, dass deine Mutter wenigstens das Haus erbt, die Ferienwohnung und Irmchens Aktien.“ Das war, für seine Verhältnisse, eine maßvolle Reaktion. Er gibt sich Mühe, dachte Cleo.

Nachdem die Bescherung relativ glatt über die Bühne gegangen war, schien alles auf einen beinahe harmonischen Abend hinauszulaufen. Bei der Bescherung trugen alle Mäntel und ihre Masken mit den Engelchen, die nur gelüpft wurden, um hin und wieder einen Schluck Sekt oder Schorle zu trinken. Orlando spielte sofort mit seinem neuen Dino, hielt dabei aber drei Meter Abstand ein, das Zimmer war groß genug.

Gonzo war ungewöhnlich schweigsam. Beim Hantieren mit dem Heizstrahler hatte er den Router, der neben der Terrassentür an die Wand montiert war, versehentlich abgerissen und war auf ihn getreten. Der Router lag jetzt unter dem Sofa, anfangs hatte er noch ein wenig geblinkt, jetzt rührte sich nichts mehr. Gonzo hatte keine Lust auf Jürgens Kommentare, es reichte, wenn er kurz vor vor dem Aufbrechen ein Geständnis ablegte.

Die Kinder hatten ihren eigenen Tisch, eine Infektionsgemeinschaft

Die Gemüsebrühe für das Fondue war Irmchens Werk, sämig, gekocht nach einem schlesischen Rezept, von dem Jürgen schwärmte, mitgebracht in einer Tupperschüssel. Cleos Eltern hatten bei ihrem Hygienekonzept allerdings nicht daran gedacht, dass es schwierig ist, bei einem Fondue-Essen Abstand zu halten. Die Kinder hatten ihren eigenen Tisch und waren eine Infektionsgemeinschaft. An dem langen Esstisch standen je zwei Stühle an jedem Ende, für die beiden Paare, die jeweils auch Infektionsgemeinschaften waren. Der Fonduetopf befand sich in der Tischmitte und war nur für Irmchen, mittig sitzend, leicht erreichbar. Die Paare mussten, nachdem sie an ihren Plätzen ihre Spießchen mit Fleisch oder Gemüse gespickt hatten, zu zweit zum Topf gehen, Irmchen entfernte sich dann kurz. Ein Sessel, nur für sie, stand zwei Meter vom Tisch entfernt. Das Paar wartete stehend ab, bis das Fonduegut in der blubbernden Brühe essfertig war, dann zog es sich mit den Spießchen wieder an sein Tischende zurück und machte so Platz für die nächsten.

Cleo wusste, dass sie das Richtige taten. Schade, dass Jürgen und Mechthild nicht aus Einsicht handelten, sondern um des lieben Friedens willen. „Irmchen“, sagte Mechthild, „das dauernde Aufstehen ist doch anstrengend für dich, willst du dich nicht zu den Kindern setzen?“ Gonzo sagte: „Kinder sind auch ansteckend.“

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Irmchen steckte ihre mit Fleisch versehene Gabel wieder in den Topf. Als sie die Gabel wieder herauszog, hing eine dünne Kette daran.

„Die muss mir beim Kochen von der Hand gerutscht sein. Ich werde immer dünner.“

„Eklig“, rief Luna Luisa vom Nebentisch. „Ich ess nichts mehr.“

„Ach, halb so schlimm“, sagte Jürgen und steckte seine Gabel in den Topf.

„Da hing das Medaillon mit der Todespille dran“, sagte Irmchen. „Die hat sich beim Kochen bestimmt aufgelöst.

„Was ist das für eine Pille?“, fragte Gonzo scharf.

„Von der Gesellschaft ... ich darf den Namen nicht sagen. Wenn ich dement werde, wollte ich die nehmen. Man schläft friedlich ein. Schmerzlos.“

„Willst du andeuten, dass du uns versehentlich vergiftet hast?“

„Beim Kochen ist das Gift wahrscheinlich verflogen“, sagte Jürgen. „Wir haben eh nur das gegessen, was in der Suppe gekocht wurde. Ich mach mir keine Sorgen.“

„Wir müssen den Notarzt rufen.“

„Ich will keinen Kuchen, ich will überleben“

Alle Nummern waren besetzt. „Heiligabend halt“, sagte Mechthild.

Cleo war sofort zu den Kindern gegangen. Orlando merkte nichts. Luna Luisa war schlecht. Cleo spürte eine leichte Mattigkeit, mit zunehmender Tendenz.

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„Wir rufen zwei Taxis und fahren ins Krankenhaus“, sagte Gonzo. Niemand ging ans Telefon. Irmchen weinte. „Es tut mir so leid.“ Mechthild sagte: „Das kann doch jedem mal passieren.“

„Was ist mit dem WLAN los?“ fragte Jürgen, der seinen Laptop angeworfen hatte. „Da tut sich nichts.“ Dann sah er den Router.

„Wir laufen zu Fuß, wir halten Autos an“, sagte Gonzo.

„Die Straßen sind hier schon an normalen Tagen fast leer“, sagte Mechthild. „Will jemand Nachtisch? Ich habe Apfelkuchen.“

„Das kann doch nicht wahr sein.“ Gonzo wurde jetzt laut. „Ich will keinen Kuchen, ich will überleben.“

„Wenn wir auf die Straße rennen, sind wir noch hilfloser. Probieren wir von Zeit zu Zeit die Notrufnummer aus“, sagte Cleo. Sie fühlte sich sehr müde. „Trinken wir was.“

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, dämmerte es gerade, man sah noch den Morgenstern. Sie lag auf dem Teppich und hatte leichte Kopfschmerzen. Orlando und Luna Luisa hatten sich an sie gekuschelt. Sie atmeten normal. Gonzo kauerte schlafend im Flur, das Telefon noch in der Hand. Cleo nahm es ihm vorsichtig ab. Fünf Anrufe seiner Eltern. Die anderen drei lagen auf Sofas und Sesseln. Jemand hatte die Terrassentür und das Fenster geschlossen, es war warm. Irmchen seufzte im Schlaf, vielleicht würde auch das nicht ihr letztes Weihnachten gewesen sein. Cleo ging in die Küche, um Kaffee zu trinken.

Mit unweihnachtlichen Weihnachtgeschichten kennt Harald Martenstein sich aus, schließlich hat er zwölf weitere in dem Band „Freuet Euch, Bernhard kommt bald!“ veröffentlicht.

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