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Jung und Alt helfen sich in dem Wohnprojekt in der Niebuhrstraße gegenseitig.

© Thilo Rückeis

Ein Berliner Haus: Unter uns

Schwul, jung, hetero, lesbisch oder alt: Sie alle leben zusammen in einem Berliner Haus – das erste seiner Art. Und, wie klappt das? Ein Besuch zum einjährigen Bestehen.

Peter Sibley hat schon mit der Queen Mum Tee getrunken und als Manager für Stars wie Cat Stevens oder Dusty Springfield gearbeitet. Jetzt sitzt er leicht gebückt vor einer Tasse Tee, einem Stück Graubrot und Obst, seinem Abendbrot. Er isst im Wohnzimmer, dem Mittelpunkt der Pflege-Wohngemeinschaft auf der zweiten Etage, am großen Tisch, an dem nun sein Rollator parkt.

Sibley, 71, greift nach einem Stück Honigmelone. Seine Fingernägel sind rot lackiert. Im grauen Stoppelbart schimmert etwas Glitzerpuder: die Spuren von Sibleys letztem großen Auftritt zwei Tage zuvor. Er war Model, auf der Modenschau „Gay not Gray“ im Erdgeschoss. Ein junger, muskulöser Mann hat ihn auf die Bühne gehoben. Sibley war weiß geschminkt und trug künstliche Wimpern. Er hatte einen geblümten Rock an, Strumpfhosen und um den Hals eine regenbogenbunte Federboa.

Solche Auftritte liebt er. Der gebürtige Waliser hat in London und später in Hamburg fürs Theater gearbeitet, dann Künstler betreut und zuletzt als Übersetzer gearbeitet. Bis er einen Schlaganfall erlitt.

Wo kann ich jetzt leben, fragte sich Peter Sibley. Und auch: Wo kann ich jederzeit so schwul sein, wie ich es will? Er fand im Internet den „Lebensort Vielfalt“ in Berlin, das erste schwule Mehrgenerationenhaus Deutschlands, vor über einem Jahr eröffnet. „Meine Erwartungen wurden hier übertroffen“, sagt Sibley mit englischem Akzent. Kurze Pause. Dann, ohne eine Miene zu verziehen: „Auch wenn es natürlich immer Zickigkeiten gibt unter so vielen Schwulen.“ Seine Mitbewohner am großen Tisch lachen.

Seit einem guten Jahr wohnen sie auf fünf Etagen in einem renovierten Altbau in der Charlottenburger Niebuhrstraße. Früher beherbergte das Gebäude einen großen Kindergarten. Nun leben 35 Menschen hinter der rosafarbenen Fassade: ältere schwule Männer, fünf jüngere Schwule und fünf ältere Frauen – lesbisch wie heterosexuell. Der älteste Bewohner ist 85, der jüngste 33 Jahre alt. Die meisten wohnen in eigenen Apartments. Für Menschen, die wie Peter Sibley Unterstützung brauchen, gibt es die Pflege-Wohngemeinschaft. Dort kümmern sich Fachkräfte rund um die Uhr um ihn.

Bevor das Haus eröffnet wurde, mussten die Initiatoren viel Überzeugungsarbeit leisten – bei der Stadt Berlin und potenziellen Geldgebern. Erst durch eine Millionenspende der Lotto-Stiftung wurde der Umbau zum weltweit beachteten Musterprojekt möglich. Auf den langen Fluren mit den lindgrünen Böden riecht es noch so, als sei gerade renoviert worden. Kleine Fenster verbinden Flure und Wohnungen. Manche Bewohner haben sie dekoriert: mit Fotos, Bildern und Büchern. Hinter einem Fenster steht ein Gartenzwerg.

Am Ende des obersten Flures, in der fünften Etage, lebt Bernd Gaiser, 68: ein freundlicher Herr mit dem kompakten Brustkorb eines Turners und gestutztem weißen Haarkranz. Er hat den „Lebensort“ von Anfang an mitgestaltet. Gaiser bewohnt ein 48 Quadratmeter großes Apartment: ein helles, schlichtes Wohnzimmer mit Küchenzeile, eine kleine Treppe führt auf eine Zwischenebene, den Schlafbereich. Vor dem großen Fenster liegt ein schmaler, grün bepflanzter Balkon, im Wohnzimmer hängen Fotografien: sehr viele, sehr nackte Männer. Für Gaiser sind sie ein Ausdruck seiner Identität. Ein Grund dafür, dass er nicht in einem heterosexuell geprägten Wohnprojekt leben möchte. In einem Altenheim erst recht nicht. „Viele ältere Schwule haben Angst davor, an einem solchen Ort ihre Identität nicht ausleben zu können“, sagt Gaiser.

Die Akzeptanz gegenüber Homosexuellen in der Gesellschaft ist in den letzten Jahrzehnten zwar ständig gewachsen. Viele ältere Schwule erinnern sich aber noch gut an dunklere Zeiten. An den Paragrafen 175 des Strafgesetzbuches, der „Unzucht unter Männern“ bis in die 70er Jahre unter Strafe stellte, und an offene Anfeindungen. Bernd Gaiser ist in einer süddeutschen Kleinstadt aufgewachsen. „Ich habe öfter gehört: Unter Hitler hätten sie Typen wie euch vergast“, erzählt er leise. „Ältere Schwule haben noch Angst vor Ressentiments, auch wenn das heute nicht mehr gerechtfertigt ist.“

Bernd Gaiser ist 1969 vor der geistigen Enge seiner Heimat nach Berlin geflohen und Buchhändler geworden. Er war dabei, als die Schwulen in der Stadt begannen, sich selbstbewusst zu zeigen. Gaiser hat Zeitungsartikel aus dieser Zeit säuberlich in einem Ordner abgeheftet. Ein Ereignis füllt viele Klarsichtfolien: der erste Christopher Street Day 1979 in Berlin. Pressefotos zeigen Gaiser in der vorderen Reihe der Parade. Lachend, noch mit vollem Haar, weißer Tunika und einer Damenhandtasche. „Wir haben damals über vieles nachgedacht, aber nicht übers Älterwerden“, sagt er. Die schwule Szene sei Ende der 70er Jahre wie heute jung und hungrig nach Leben gewesen.

Bis der Tod Bernd Gaiser nahe kam. Aids kostete zwei seiner langjährigen Partner das Leben. Die Krankheit hat eine gewaltige Lücke in die Generation jener Schwulen gerissen, die heute im Rentenalter sind. „Etwa die Hälfte meiner Freunde aus den Anfangszeiten in Berlin lebt nicht mehr“, sagt Gaiser. In der anderen Hälfte gibt es viele, denen im Alter die Einsamkeit droht. Der ehemalige Buchhändler hat solche Schicksale erlebt, als er ehrenamtlich ältere Schwule zu Hause besuchte. Er selbst wollte im Alter nicht allein sein. Deshalb begann er, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Aus der anfänglichen Idee eines „schwulen Altenheims“ entstand das Konzept von „Lebensort Vielfalt“ – für mehrere Generationen unter einem Dach. „Wir wollten es ein bisschen bunter haben“, sagt Gaiser.

Auch ein Jahr nach der Eröffnung ist Gaiser stolz auf das Projekt. Er hat viele Besucher aus der ganzen Welt durch das Haus geführt. Erst kürzlich war wieder ein ukrainisches Fernsehteam da, dem Gaiser den großen Garten hinter dem Haus zeigte, mit der bunten Skulptur und den Holzbänken darin. Wo die Vögel zwitschern und vom Lärm der nahen Kantstraße nichts zu hören ist. Weiter ist er mit den Gästen gegangen, durch die hauseigene Bücherei mit dem Schwerpunkt schwule Literatur und durch das Café „Wilder Oscar“ im Erdgeschoss, in dem Lesungen und Konzerte stattfinden.

Gaiser stellt Besuchern auch die Bewohner des Hauses vor. Zum Beispiel Paul Wellbourne, 53, und Klaus Dieter Spangenberg, 48, die auf der vierten Etage den Flur rund um ihre Wohnungstür mit Gemälden geschmückt haben. Spangenberg ist Maler. Die beiden sind verheiratet und bewohnen ihr Apartment zusammen mit Katze Emma, 16. „Eigentlich war das nur als Zwischenlösung gedacht, inzwischen wollen wir hier nicht mehr weg“, sagt Wellbourne. Die beiden schätzen, dass sie hier genug Rückzugsmöglichkeiten haben, gleichzeitig aber auch Gesellschaft. Wenn jemand etwas unternehmen möchte, schickt er eine E-Mail an den gemeinsamen Verteiler. Man trifft sich im Garten, in der Gemeinschaftsküche oder unten im Café. Manchmal kaufen Paul Wellbourne und Klaus Dieter Spangenberg für einen Mitbewohner ein, der das selbst nicht mehr schafft.

Trotz aller Harmonie ist nach einem Jahr gemeinsamen Wohnens klar: Es gibt Konflikte wie in jeder Hausgemeinschaft. Die müssen geregelt werden. An diesem Abend tagt der Mieterbeirat in der Gemeinschaftsküche, einem lichtdurchfluteten Raum mit Zugang zum Garten. Hier treffen sich die Bewohner, um gemeinsam zu kochen oder einfach zu reden. Am Esstisch haben sich die Vertreter der einzelnen Gruppen im Haus versammelt: Bernd Gaiser spricht für die älteren Schwulen, Peter Sibley für die Pflege- Wohngemeinschaft, Birgit Witt, 72, für die Frauen im Haus und Robert Franke, 33, für die Jüngeren. Der junge Mann wohnt hier, weil er von der Lebenserfahrung der anderen profitieren will. „Und wegen der guten Lage, natürlich“, sagt er.

Den Mieterbeirat beschäftigt heute ein umstrittenes Thema: die Gestaltung des Gartens. Einige Bewohner möchten mehr Privatsphäre, Besucher sollen draußen bleiben. „Dabei hat die Mieter-Vollversammlung beschlossen, dass wir das nicht machen wollen“, sagt Bernd Gaiser und wird das einzige Mal an diesem Abend lauter. Der Garten bleibt offen.

Nach kurzer Diskussion ist die Sache erledigt. Dann ist Zeit für ein erfreuliches Thema: den vergangenen Tag der offenen Tür. Einige hundert Besucher haben den „Lebensort Vielfalt“ besichtigt. Viele von ihnen haben gesagt, dass sie gerne sofort einziehen würden. Sie müssen Geduld mitbringen: Auf der Warteliste für eine Wohnung stehen 210 Namen.

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