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Von wegen Stillstand: Viele Prozesse beschleunigen sich derzeit.

© imago/photothek

Digitalisierung, Arbeit, Staat: Wie die Corona-Krise bereits vorhandene Prozesse beschleunigt

Viele Tendenzen werden verstärkt, eine Diskrepanz tritt schonungslos zutage – und die Lösung für ein Menschheitsproblem könnte näher rücken. Ein Gastbeitrag.

Jürgen Kocka ist Sozialhistoriker, emeritierter Professor an der Freien Universität Berlin und war Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.

Solange man nicht weiß, wie und wann die gegenwärtige Krise endet, lassen sich über ihre langfristigen Folgen nur Vermutungen anstellen. Doch einiges zeichnet sich ab.

Nichts spricht dafür, dass die Corona-Krise als die große Entschleunigung in die Geschichte eingehen wird, die unsere Zivilisation von ihrer Fixierung auf ständiges Wachstum abgelenkt und ihr Modernisierungstempo verlangsamt hat.

Auch die Erwartung, dass die Welt nach der Krise ganz anders aussehen wird als vor der Krise, dürfte sich nicht bestätigen. Versucht man, auf größere Zusammenhänge zu blicken und bemüht man sich um eine Langzeitperspektive, dann zeigt sich, dass die Krise vor allem als Motor der Beschleunigung wirkt.

Sie spitzt zu und beschleunigt Prozesse, die längst auf dem Weg sind. Jedenfalls in einigen Bereichen. Die Krise deckt nicht nur die vielen Hemmnisse auf, die hierzulande dem Prozess der Digitalisierung im Weg stehen. Sie treibt diesen Prozess vielmehr auch entscheidend voran.

Indem sie die Reduktion von persönlichen Kontakten erzwingt, beschleunigt sie den Übergang zur digitalen Kommunikation in vielen Lebensbereichen und im Arbeitsleben den längst im Gang befindlichen Wechsel zu modernen Form der Heimarbeit, hierzulande „Homeoffice“ genannt.

Wandel mit Bestand

Über die Vorteile und Nachteile der neuen Heimarbeit für Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Solo-Selbstständige wird viel diskutiert. Eindeutig zeichnet sich ab, dass dieser von der Krise beschleunigte Wandel nach dem Ende der Krise nur partiell zurückgedreht werden, zum Teil aber Bestand haben wird.

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Um was für eine grundsätzliche Verschiebung im Verhältnis von Erwerbsarbeit und sonstigem Leben es sich dabei handelt, wird erst in der historischen Langzeitperspektive klar: Die räumliche und soziale Auseinanderentwicklung von Erwerbsarbeitssphäre einerseits und Familie/Haushalt andererseits war eine ganz zentrale Veränderung des Industrialisierungszeitalters.

Sie fand als Massenphänomen erst im 19. und 20. Jahrhundert statt, als Bergwerke und Fabriken, Verwaltungen, Schulen, Verkehrs- und Dienstleistungsbetriebe massenhaft Arbeitsplätze außerhalb der Haushalte und in Distanz zur Familie entstehen ließen.

Erst dadurch entstand die Arbeit als deutlich erfahrbare und relativ separate Sphäre, in der die Arbeit nicht nur dem Erwerb und der Leistung diente, sondern auch zentrale soziale Wirkungen ausübte, als Ort der Kommunikation und gegenseitigen Anerkennung, als Basis der Entstehung von Solidarität und Platz der Austragung von Konflikten, in denen sich soziale Klassen bildeten.

Neue Verzahnung von Erwerbsleben und Familie

Spiegelbildlich dazu und getrennt vom kapitalistischen Wirtschaften und öffentlichen Leben, konnte die Familie erstmals zu dem privaten Bereich werden, als den wir sie kennen und schätzen. Jetzt aber findet eine neue Verzahnung von Erwerbsarbeit und Familie statt. Ein erheblicher Teil der Arbeit kehrt in den Bereich von Familie und Haushalt zurück.

Dieser ändert sich dadurch, er wird weniger privat, er dürfte stärker als bisher durch die Logik des Erwerbslebens einerseits und die damit verbundenen staatliche Eingriffe andererseits geprägt werden. Denn mit der Erwerbsarbeit drängt auch ihre Regulierung durch Gesetze und Verordnungen in die Familie ein.

Wenn Arbeit und Familie zusammenkommen: das Homeoffice.
Wenn Arbeit und Familie zusammenkommen: das Homeoffice.

© imago images/photothek

Der Arbeitsminister hat es schon angekündigt: Er verspricht, das „Recht auf Homeoffice“ rechtlich zu verankern, zugleich aber auch diese Arbeit durch Gesetze und Verordnungen zu regulieren, deren Wirksamkeit dann im Innenraum der Familie durchgesetzt und kontrolliert werden muss. Durch neue Formen der Heimarbeits-Inspektion?

Arbeit verliert seine gesellschaftsprägende Kraft

Umgekehrt unterliegt die Erwerbsarbeit, teilweise aus den Fabriken und Dienstleistungsbetrieben, den Verwaltungen, Schulen und Universitäten herausgelöst, einer tiefgreifenden Individualisierung und De-Institutionalisierung.

Arbeit verliert damit viel von ihrer vergesellschaftenden Kraft, die nur in der Kommunikation mit anderen, im Verkehr mit Kollegen und Kolleginnen, Vorgesetzten und Untergebenen entfaltet werden kann. Arbeit wird weniger wichtig als formative gesellschaftsprägende Kraft.

Die Gewerkschaften unterstützen diesen Prozess, der letztlich dazu beitragen dürfte, dass ihre Basis weiter geschwächt wird und sie damit an Bedeutung verlieren. Diese geradezu tektonische Verschiebung, längst auf dem Weg, wird durch die derzeitige Krise beschleunigt.

Ausweitung des staatlichen Einflusses

Anders als es die gängige Kritik am Neoliberalismus behauptet, ist der staatliche Einfluss in den meisten Lebensbereichen in den letzten Jahrzehnten gewachsen. Wirtschaftspolitisch fand seit der Finanzkrise von 2008/9 und den ihr folgenden Verschuldungskrisen ein gewisses Umsteuern statt: mit weniger Deregulierung und Privatisierung, hin zu mehr Interventionen der Regierungen in den Kapitalismus, vor allem international. In der Bereitstellung sozialer Leistungen – wie der Finanzierung von Renten – nahm der Anteil aus Steuergeldern zu.

Als Reaktion auf die Zunahme von Terrorismus, als Antwort auf den Regelungsbedarf der neuen Medien, als Maßnahmen zum Schutz der Persönlichkeitsrechte im Zeitalter der Digitalisierung und der Natur angesichts steigender Umweltbelastung und Erderwärmung ist die staatlich erzeugte Regelungsdichte kontinuierlich angeschwollen.

Es gab keinen Rückzug des Staats aus Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, schon gar nicht in Deutschland – ganz im Gegenteil. Deshalb sind die staatlichen Eingriffe während der jetzigen Corona-Krise zwar in Ausmaß und Tiefe wie als Außerkraftsetzung von Grundrechten neu und außergewöhnlich, aber sie stellen keine Trendwende dar, sondern die radikalisierte Fortsetzung eines Langzeittrends.

Keine Ruhe. Die Berliner Polizei, hier in der Hasenheide, überprüfte überall in der Stadt, ob sich die Menschen an die Corona-Regeln halten.
Keine Ruhe. Die Berliner Polizei, hier in der Hasenheide, überprüfte überall in der Stadt, ob sich die Menschen an die Corona-Regeln halten.

© Maris Hubschmid

Von einer Rückkehr des Staates zu sprechen, ist falsch, denn er hatte sich nie verabschiedet. Wenn auch die meisten einzelnen Verbote, Gebote und Regeln mit dem Abklingen der Krise aufgehoben werden dürften, steht doch zu erwarten, dass die staatliche Regelungsmacht insgesamt durch die Krise einen Verstärkungsschub erhalten hat, der lange nachwirken wird.

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Denn er findet viel Zustimmung und stößt auf wenig Protest; der wirtschaftliche und gesellschaftliche Regelungsbedarf bleibt stark, und die Politik räumt nur ungern Positionen, die sie einmal erobert hat. Je tiefer sie in das Leben der Bevölkerung eingreift, desto stärker ist Politik in der Moderne auf ihre Verankerung im Nationalstaat angewiesen.

Dies ist ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis. Die tiefen Eingriffe der Politik in Gesellschaft und Wirtschaft, in die Grundrechte und das Alltagsleben der Bevölkerung geschehen in der gegenwärtigen Krise überall im nationalstaatlichen Rahmen.

Die Stunde der Nationalstaaten

Selbst in Europa scheint nur der Nationalstaat über die Legitimationsgrundlagen, die materiellen und mentalen Ressourcen und die nötigen Handlungsfähigkeiten zu verfügen, um angesichts von Not und Gefahr tiefgreifende Interventionen durchzuführen, die der Bevölkerung sehr viel zumuten.

Die Krise wurde zur Stunde der Nationalstaaten, obwohl sie einer Pandemie entsprang, die mit aller Macht vorführte, wie sehr wir schon längst in intensiv globalisierten Verflechtungszusammenhängen leben. Auch was existenzielle Gefahren betrifft, denen eigentlich nur durch gemeinsame, Nationalstaaten und Kontinente übergreifende Anstrengungen begegnet werden kann.

Diese Diskrepanz ist, weit über die Seuchenkrise hinaus, für unsere Zeit konstitutiv: zwischen längst transnational dimensionierten – und keinesfalls renationalisierbaren! – Problemen einerseits und einem letztlich noch nationalstaatlich strukturierten Politiksystem andererseits, das nicht über die Verständigungsmöglichkeiten verfügt, um jenen übernationalen Problemen Paroli zu bieten.

Schonungslose Enthüllung einer Erosion

Die Wiedererstarkung nationalstaatlicher Identitäten hat in den letzten Jahren sowohl die Weltordnung wie auch die europäische Binnenpolitik ungünstig verändert: dort als Abkehr von Multilateralismus und vertragsbasierter Politik, hier als schrittweise Erosion bereits erreichter Integrationserfolge.

Die Corona-Krise hat diese Entwicklung nicht hervorgebracht, aber beschleunigt und schonungslos enthüllt. Vielleicht hat sie auch Kräfte geweckt, sich dieser gefährlichen Rückentwicklung entschiedener durch grenzüberschreitende Kooperation entgegenzustemmen, jedenfalls innerhalb Europas.

Die Europäische Union hat mithilfe einiger ihrer Mitgliedsstaaten nach der Schockstarre der ersten Krisenwochen begonnen, auf die Herausforderungen zu reagieren. In deutlichem Unterschied zur Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre und zur internationalen Finanzkrise von 2008/9 ist die gegenwärtige Corona-Krise kein Resultat der inneren Widersprüche des Kapitalismus. Vielmehr kam sie gewissermaßen von außen: als Folge der Bedrohung durch ansteckende Viren und als Folge der Anstrengungen, sich vor diesen zu schützen.

Aber bei der genaueren Suche nach den Ursachen der gegenwärtigen Pandemie verschiebt sich das Bild: Es ist nämlich durchaus wahrscheinlich, dass die Häufigkeit von Epidemien in den letzten Jahrzehnten (vor allem in Asien) und auch die Intensität der jetzigen Pandemie teilweise durch menschengemachte Veränderungen im Verhältnis von Natur und Zivilisation mitverursacht wurden.

Darauf hat die Akademie Leopoldina in ihrem Gutachten vom 13. April nachdrücklich hingewiesen: Die abnehmende Widerstandsfähigkeit der Ökosysteme, der Klimawandel und Umweltbelastungen tragen wesentlich, so heißt es dort, zum Ausbruch von Epidemien und Pandemien bei.

Menschengemachtes Problem

Aus dieser Sicht ist die Corona-Pandemie nichts, was uns „von außen“ überfallen hat, sondern jüngstes Resultat unserer langen Geschichte menschengemachter Verformungen der Natur und zugleich eine Warnung vor viel größeren umwelt- und klimabedingten Katastrophen in der Zukunft.

Wiederum zeigt sich damit die gegenwärtige Krise als Beschleunigung und Zuspitzung eines bereits in Gang befindlichen Prozesses, nämlich der anschwellenden, von Bewegungen getragenen und in Politik mündenden Sorge um Umwelt und Klima.

Aus dieser Perspektive wird der Kampf um die Nachhaltigkeit des zukünftigen Wirtschaftens durch die Erfahrung der Corona-Krise und den Kampf gegen ihre Folgen nicht – wie manchmal gefordert und manchmal befürchtet – in den Hintergrund gedrängt, sondern nur umso dringlicher.

Wachsendes Bewusstsein für ein Menschheitsproblem

Es könnte auch sein, dass die Krisenerfahrung der letzten Monate weltweit das Bewusstsein dafür stärkt, wie abhängig das Schicksal der Menschen von der Natur weiterhin ist, und wie lebensgefährlich diese Abhängigkeit werden kann.

So könnte die Corona-Krise dazu beitragen, das Menschheitsproblem der noch fehlenden und dringend notwendigen Nachhaltigkeit ein wenig lösbarer zu machen, auch wenn die Menschheit zwar als fragmentierte Vielfalt, aber nicht als Handlungssubjekt existiert.

Jürgen Kocka

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