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Außer Atem. Im Frühling steigt die Lust auf Bewegung.

© Martins Zemlickis/Unsplash

Abspecker, Lässige, Showläufer: Eine Typologie des Joggings

Der Frühling kommt. In den Parks sind sich die Jogger auf den Fersen. Die Übermotivierte drängelt an der Ampel, und der Showläufer lüftet sein Funktions-Top.

Der Abspecker

Dieser urgemütliche Typ, der anderen so wenig abverlangt wie sich selbst, hat sich fürs neue Jahr vorgenommen, Gewicht zu verlieren – und gelesen, dass Laufen die effektivste Methode dafür ist. Natürlich hat er keine Lust auf Sport. Nie gehabt. Solange es kalt war und regnerisch, ließ sich seine Sofa-Existenz rechtfertigen, doch mit den ersten warmen Tagen kommen ihm die Ausreden abhanden. Außerdem rückt der Sommer bedrohlich nahe. Also bleibt ihm nichts übrig, als sich in den nächstgelegenen Park zu quälen. Der Abspecker ist grundsätzlich zu warm gekleidet, wahrscheinlich weil ihm starkes Schwitzen das Gefühl verleiht, alles zu geben. Tatsächlich zieht es ihn gern schon nach 20 Minuten zurück nach Hause. Wo vielleicht Joschka Fischers Jogging-Bibel „Mein langer Lauf zu mir selbst“ im Regal steht. Nicht ohne Stolz denkt er: Die ersten Schritte in mein neues Leben sind gemacht, beim nächsten Mal halte ich länger durch, und jetzt, wo ich etwas geleistet habe, kann ich mir ruhig einen leckeren Snack gönnen.

Merkmale: lange schlabbrige Jogginghose, Kapuzenpulli mit Schweißflecken, unglücklicher Gesichtsausdruck

Der Verbissene

Schriebe er diesen Text, würde er zunächst mal eines klarstellen: Dass er kein Jogger ist, sondern Läufer. Jogger sporteln halt so durch die Gegend. Läufer zu sein dagegen – eine Lebenseinstellung. Der Verbissene rennt immer, bei Schneeregen und bei 35 Grad, morgens vor der Arbeit und im Urlaub. Wenn nicht draußen, dann im Sportstudio, wo er außerdem, einem wohldurchdachten Plan folgend, an seiner Muskulatur arbeitet. Seine Ernährung ist darauf abgestimmt, Alkohol nur ausnahmsweise erlaubt. Das Jahr strukturiert sich für ihn nach den Laufveranstaltungen, auf die er hin trainiert und die zunehmend extremer werden. Ist der Marathon am Kilimandscharo absolviert, bleibt dem Verbissenen nur noch der Wechsel zum Triathlon. Warum er mit diesem Leben angefangen hat, kann er nicht mehr so genau sagen. Doch würde ihm viel fehlen ohne Askese, ohne den Schmerz und den Kick der Wettkämpfe. Er glaubt, dass ihn das Laufen zu einem widerstandsfähigeren und effektiveren, kurzum: besseren Menschen gemacht hat. Seine Familie sieht das möglicherweise anders.
Merkmale: Tape auf der Brust, Puls-Uhr, Five-Fingers-Schuhe

Die Übermotivierte

Wie der Abspecker ist sie mit guten Vorsätzen ins neue Jahr gestartet, bringt allerdings deutlich mehr Energie mit, diese auch umzusetzen. Joggen scheint ihr eine grandiose Idee, Freunde und Bekannte laufen ebenfalls, neuerdings sogar der älteste Sohn in der Mini-Marathon-AG an seiner Grundschule. Also ab zu „Lunge“, wo die Übermotivierte per Video ihren Laufstil analysieren lässt und sich mit dem Besten eindeckt, was die Industrie zu bieten hat: atmungsaktive, enganliegende Kleidung und Schuhe für mehrere hundert Euro. Im Extremfall werden gleich noch Flüge für die ganze Familie nach New York gebucht – einmal beim Marathon über die Brooklyn Bridge, ein Traum. Natürlich läuft die Übermotivierte zu schnell, selbst wenn sie dabei den Kinderwagen schiebt, sprintet eine Viertelstunde und trabt den Rest der Zeit mit Seitenstechen weiter. Die Begeisterung! Bloß bleibt von der nach wenigen Wochen nichts übrig, und die teure Ausstattung landet hinten im Schrank. Hält die Übermotivierte doch durch und stürzt sich unbedacht ins Training, scheidet sie nach ein paar Monaten verletzt aus.
Merkmale: intensives Auf-der-Stelle-Joggen an roten Ampeln, Energieriegel in der Läufertasche

Der Showläufer

Läufer zu sein, das gefällt ihm. Ganz praktisch, aber vor allem als abstraktes Konzept. Man wirkt so dynamisch dadurch, findet der Showläufer, so jung und voller Energie. Wenn er ähnlich durchtrainiert ist wie der Verbissene, dann nicht, weil er Härte gegen sich selbst genießen würde, sondern weil sie eben nötig ist. An anderen souverän wie der Blitz vorbeiziehen, im Sommer mit freiem Oberkörper und Sonnenbrille – dafür braucht es nun mal Training. Der Showläufer kennt seine Marathonzeiten auswendig und lässt sie gern in Gesprächen fallen. Auf Facebook und Instagram kann man ihn beim Joggen in Tel Aviv oder Kapstadt sehen. Nie fiele es ihm ein, wie der Einsame Wolf über gottverlassene Waldwege zu rennen. Man trifft ihn stattdessen im Zentrum der Städte, in den großen Parks, die sind seine Bühne. Gab’s mal kein Publikum, hat er mit einer App genau dokumentiert, wo er wann wie schnell unterwegs war. Überhaupt das Smartphone. Mit dem Headset Musik zu hören (Bässe!) oder zu telefonieren, während man in hohem Tempo joggt, das sieht unerreicht cool aus, denkt er.
Merkmale: ganz besonders aufrechte Körperhaltung, Oberteil „Finisher Boston Marathon“

Der Rentner

Seine Haut ist ledrig, sonnengegerbt, darunter kein Gramm Fett. Und selbst wenn er eine Plauze haben sollte, ändert das nichts an seiner Fitness. Mit Anfang 20 war der Rentner auch nicht sportlicher als heute, vor allem nahm er damals noch keine Rücksicht auf seine Gesundheit. Jetzt hat er Zeit zum Trainieren und vielleicht die leise – vor sich selbst nicht eingestandene – Hoffnung, dem Tod davonzulaufen. Im Ruhestand eine Aufgabe zu haben, macht ihn außerdem glücklich. Entsprechend gewissenhaft verfolgt er sein Training (Dehnen eingeschlossen!), läuft das ganze Jahr über im Freien, auch während des Winters. Hinzu kommt das Ausgleichsprogramm für den Rücken bei Kieser. Zwar gibt er sich un- ambitioniert, aber bei Wettkämpfen durchs Ziel zu gehen, ist jedes Mal ein Triumph für ihn. Er bevorzugt Laufveranstaltungen für einen guten Zweck (Kindernothilfe etc.) oder kleinere mit familiärer Atmosphäre. Seine Stärke ist das Durchhaltevermögen. Die Jungen sollen beim Marathon anfangs ruhig an ihm vorbeiziehen, auf Höhe Kilometer 30 sieht man sich wieder.
Merkmale: Stirnband, Trinkgurt, Medaillensammlung im Hobbykeller

Die Lässige

„Happy go lucky“ könnte als Motto über ihrem Leben stehen. Das Laufen bildet da keine Ausnahme, weshalb sie den heimlichen Neid des Abspeckers, die weniger stille Verachtung des Verbissenen und in der Gruppe den Hass zahlreicher Rudelläufer auf sich zieht. Auf ihre Ernährung hat die Lässige nämlich noch nie geachtet, sie isst gern und trinkt auch mal über den Durst. Und regelmäßigem Training steht seit jeher ihr unsteter, sprunghafter Charakter im Weg. Das einzige Mal, dass sie sich so richtig ins Laufen hineingesteigert hat, war damals, als sie ihre Magisterarbeit verfassen musste. Da war Sport, ähnlich wie Aufräumen oder Abwaschen, eine Möglichkeit, sich vor der Schreibtischarbeit zu drücken. Trotzdem zieht die Lässige, wenn sie dann doch mal wieder läuft, locker an den meisten anderen vorbei. Mit ihren guten Anlagen kann sie, viel Schliff durchs Leben vorausgesetzt, eine läuferisch erfolgreiche Rentnerin werden.
Merkmale: alte Baumwoll-Leggings, Adidas Samba

Die Rudelläuferin

Existiert in drei Ausprägungen. Der am weitesten verbreitete Typ sucht Gesellschaft. Sie möchte Leute kennenlernen und meldet sich deshalb bei Lauftreffs an, oder sie verabredet sich mit Freunden. Mehr noch als auf Bewegung und die kurzatmige Unterhaltung dabei, freut sie sich aufs Käffchen danach. Durchschnittlich sportlich und unterdurchschnittlich ambitioniert, nimmt sie trotzdem an Wettkämpfen teil, zumal an Staffelläufen – da ist das Gemeinschaftsgefühl besonders stark.

Typ 2 dagegen besitzt keine ausgeprägt gesellige Ader. Sie benutzt die Gruppe nur. Aus Erfahrung weiß sie, dass sie sich allein nie regelmäßig zum Sport aufraffen könnte. Sozialer Druck hilft, zum Beispiel hämische Kommentare in der WhatsApp-Laufgruppe. Angst vor Spott treibt auch die Rudelläuferin wider Willen an. Ihr Chef ist auf die Idee gekommen, die Teilnahme an einem Firmenlauf sei „eine super teambildende Maßnahme“, und die Kollegen sind angeblich auch noch „total begeistert“ davon. Seitdem hat Typ 3 nur ein Ziel: schneller zu sein als ihre Intimfeindin aus der Buchhaltung.
Merkmale: Laufkleidung von Decathlon, Sektgläser aus Plastik fürs Anstoßen nach dem Zieleinlauf

Der einsame Wolf

Yoga findet er albern, doch nach einem Tag vorm Computer braucht auch er Bewegung. Aber bitte ohne andere Menschen. Jogger, die seinen Weg kreuzen, gehen ihm auf die Nerven, besonders Showläufer und Verbissene. Hightech-Laufschuhe betrachtet er als Abzocke, Medaillen als peinliche Staubfänger. Der Einsame Wolf möchte seinen Gedanken nachhängen, sich selbst und die Natur am Wegesrand wahrnehmen. Vielleicht läuft er auch vor etwas davon – einer unglücklichen Beziehung, einer Midlife-Crisis – und deshalb in letzter Zeit besonders häufig. So sehr er allein unterwegs sein mag, so gern teilt er seine Liebe zum Sport dann doch wieder mit anderen (und es ist wahre Liebe!). Einmal darauf angesprochen, kann er lyrisch bis esoterisch werden. Dann preist er Joggen als Inspirationsquelle, schwärmt von Waldböden und Sommerregen, erzählt, wie er sich einst an einem blassen Oktobermorgen Rom erlief. Wenn er nicht schon selber darüber geschrieben hat, stehen Bücher wie Haruki Murakamis „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“ in seinem Schrank.
Merkmale: funktionale No-Name-Laufkleidung, gedankenverlorener Blick

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