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"Psychologieheute"-Chefin Ursula Nuber

© Kai-Uwe Heinrich

Die Psyche der Deutschen: "Wir sind alle in einem Bierzelt"

Ursula Nuber, Chefredakteurin von "Psychologie heute" legt die Deutschen auf die Couch. Und, wie geht’s uns gerade? Über Burn-out, Perfektionismus – und warum Narzissmus ganz gesund ist.

Von Barbara Nolte

Ursula Nuber, 62, ist Chefredakteurin von „Psychologie Heute“, dem traditionsreichsten Magazin für psychologische Themen in Deutschland. Die Systemische Therapeutin schrieb auch Bestseller wie etwa „Depression“, zuletzt erschien „Eigensinn“. Nuber lebt in der Nähe von Heidelberg

Frau Nuber, Sie arbeiten seit über 30 Jahren bei „Psychologie heute“. Monat für Monat macht Ihre Zeitschrift Psychotrends aus. Sie kennen sich sicher gut aus mit den kleinen und großen Ausschlägen in der Befindlichkeit der Deutschen.
Wie sich ein bestimmter Hefttitel am Kiosk verkauft, ist ein Seismograf dafür, was die Menschen im Land bewegt.

Wie geht es uns denn so?

Wir fühlen uns erschöpft.

Und was ist derart anstrengend?

Wir sind zur Selbstverwirklichung verdonnert. Das ist die Kehrseite der Autonomie, die wir errungen haben.

Erklären Sie das bitte.

Früher haben Staat, Familie oder Kirche dem Einzelnen viele Entscheidungen abgenommen. Es gab klare Regeln, die festlegten, was richtig ist und was falsch. Heute muss das jeder für sich selbst herausfinden. Ein Titelthema von „Psychologie heute“, das sich sehr gut verkauft hat, hieß: „Richtig entscheiden“. Woher weiß ich, wozu ich ,ja‘ oder ,nein‘ sagen soll? Die Freiräume, die jeder heute hat, erzeugen einen hohen Druck: Man muss den richtigen Weg für sich finden mit den richtigen Menschen und dem richtigen Beruf.

Das Gegensatzpaar „richtiges Leben“ und „falsches Leben“ ist doch Unsinn, oder?

Es führt oft zu Selbstanklagen: „Hätt’ ich nur …!“ Als ich noch als Psychologin in eigener Praxis gearbeitet habe, stellte ich immer wieder fest, wie intolerant Menschen gegenüber sich selbst geworden sind. Diese Strenge zog sich durch viele Gespräche mit Klienten: der Anspruch, eigentlich perfekt sein zu müssen, es aber nicht zu schaffen.

Sie würden empfehlen, daran zu arbeiten, nicht mehr so viel an sich zu arbeiten.

Jedenfalls sollte man nicht mit jeder Entscheidung hadern, die man fällt.

Man will heute keinesfalls unter seinen Möglichkeiten bleiben.

Der Drang, alles aus seinen Anlagen herauszuholen, ist nichts Schlechtes. Was die Menschen unter Druck setzt, ist der ständige soziale Vergleich. Früher hat man sich mit Schulkameraden verglichen. Heute vergleicht man sich im Internet mit Gott und der Welt. Ich habe es in Paartherapien erlebt: Die Partner waren unglücklich, weil der Mann viel zugewandter hätte sein können oder die Frau viel mehr Bereitschaft zur Sexualität hätte haben können. Da wurden Medienfiguren zum Maßstab genommen. Luftschlösser!

Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ hatte einmal den Werbeslogan: „Für einen perfekten Sonntag“. Klingt nicht gerade entspannt.

Perfektion gilt heute als gesellschaftliche Norm. Das führt fast zu einem Verbot, die Phasen des Lebens normal zu durchleben. Älterwerden, Krankwerden, Sterbenmüssen – das wird als narzisstische Kränkung empfunden. In dem Sinne: „Ich bemühe mich, alles richtig zu machen, und jetzt kommt dieses blöde Leben und macht mir Falten und Krankheiten.“

In Vorwegnahme von Hinfälligkeit haben sich prominente Männer wie Gunter Sachs, Fritz Raddatz und Udo Reiter das Leben genommen.

Hier sind wir erneut beim Thema Autonomie: Wir müssen heute sogar unser Ende selbst steuern.

In den Medien wurden diese Suizide als besonders würdevoll bewertet, wie eine Frage guten Stils.

Wir haben es verinnerlicht, dass wir in jeder Situation Herr und Frau der Lage sein müssen. Wenn uns einer die Erkenntnis erspart, dass das Leben in Wahrheit brüchig ist, sind wir dankbar. Gunter Sachs verschonte uns davor, mitansehen zu müssen: Ein ehemaliger Playboy – und geht so zugrunde! Selbstverständlich bin ich der Ansicht, dass es ein Recht auf Freitod geben soll. Mich stimmt nur nachdenklich, dass immer weniger akzeptiert wird, dass Krankheit oder Behinderung zum Leben dazugehören.

"Gesellschaftliche Probleme werden individualisiert"

"Psychologieheute"-Chefin Ursula Nuber
"Psychologieheute"-Chefin Ursula Nuber

© Kai-Uwe Heinrich

Hatten die Menschen Anfang der 1980er Jahre, als Sie bei „Psychologie heute“ anfingen, andere Probleme als heute?

Uns ging es viel um Selbstverwirklichung. Die Psychologie war emanzipatorischer, weniger problemorientiert. Was sie allerdings problematisierte, war ihre eigene Rolle: Ist sie nur ein Reparaturbetrieb? Heute sind die Menschen bereit, alles dafür zu tun, um in der Gesellschaft zu bestehen.

Der Psychologe Stephan Grünewald vom Rheingold-Institut glaubt, dass der „Werksstolz“ in der arbeitsteiligen Gesellschaft einem „Erschöpfungsstolz“ gewichen sei.

Der Begriff „Erschöpfungsstolz“ trifft einen Punkt: Wir geben uns ständig beschäftigt, reagieren oft reflexhaft auf Anforderungen. Ein weiterer Hefttitel, der sich gut verkauft hat, lautete „Ausgebrannt“.

Die Nachrichtenmagazine und Wochenzeitungen bestücken ihre Titel zurzeit oft mit Psychologiethemen. Zum Beispiel: „Sind Väter die besseren Mütter?“ oder „Beste Freunde“. Wie finden Sie das?

Gut, das bedeutet: Psychologische Themen sind mitten in der Gesellschaft angekommen. Als ich Anfang der 70er zu studieren begann, wurde mir manchmal unterstellt, dass ich mir das Fach wohl ausgesucht hätte, weil ich es persönlich nötig hätte.

Das Verkaufskalkül, das hinter der Themenpräferenz steckt, stört Sie nicht?

Auch andere Medien haben gemerkt, dass Menschen Orientierung suchen. Die Psychologie ist in die Lücke gesprungen, die die großen Ideologien hinterlassen haben. Sie soll jetzt auf alle Fragen der Lebensführung und Welterklärung Antworten liefern. Damit ist sie überfordert.

Was meinen Sie genau?

Gesellschaftliche Probleme werden individualisiert. Und wenn der Einzelne daran scheitert, kommt die Psychologie ins Spiel. Um den Zwängen von Effizienz und Produktivität gerecht zu werden, soll der Einzelne beispielsweise resilient werden – um einen aktuellen Begriff zu gebrauchen.

Das Konzept Resilienz basiert auf einem sozialen Vergleich. Man definiert eine kleine Gruppe, die angeblich besonders viel aushält: die Hartgesottenen. Dann appelliert man an den Ehrgeiz der Einzelnen: Wenn du dich anstrengst, dann …

… schaffst du alles.

Die Frage ist, ob es die Gruppe der Resilienten überhaupt gibt, die da als Vorbild herausgestellt wird.

Der Begriff basiert auf Forschungen an Kindern, die unter misslichen Bedingungen aufwachsen. Dabei stieß man auf eine Gruppe, die nicht daran zerbrochen ist.

Aber vielleicht sind die gar nicht besonders hartgesotten, sondern besonders charmant oder intelligent, dass sie den Zuspruch woandersher bekamen, der ihnen in der eigenen Familie verwehrt blieb.

Genau das kam bei den Forschungen heraus: Die Resilienten erfuhren meist Unterstützung – von Lehrern oder Nachbarn. Deswegen halte ich auch den Schluss für problematisch, der aus der Forschung gezogen wird: dass Menschen nur an ihrer seelischen Widerstandsfähigkeit arbeiten müssten, und dann kämen sie mit allen Widrigkeiten zurecht. Da versuchen wir mit „Psychologie heute“ gegenzusteuern. Die Welt ist nicht so einfach. Sie stellt uns ein Bein. Misserfolge gehören dazu.

Wie läuft eigentlich eine Redaktionskonferenz bei Ihnen ab? Horchen Ihre Redakteure in sich hinein, um Themen zu finden?

Jeder beobachtet die Wissenschaft und den Buchmarkt. Manchmal greifen wir Bauchthemen auf: Zum Beispiel erzählt eine Kollegin von einer Freundin, die sich für schüchtern hielt, aber nach der Lektüre eines Buches sich selbst die Diagnose „hochsensibel“ stellte. Wir fragen uns: Ist das wissenschaftlich zu belegen? Wenn nicht, lassen wir ein Thema fallen. Wir sind keine Lebenshilfezeitschrift.

Gucken Sie auch in ausländische Psychologie-Publikationen?

Ja. In den 90ern haben wir zum Beispiel viel über die Positive Psychologie berichtet, die damals aus den USA kam. Wir fanden es erfrischend, dass die Amerikaner nicht nur auf die Störungen von Menschen schauten, sondern zu zeigen versuchten, wie das Leben gelingen kann. Doch das Ganze ist aus dem Ruder gelaufen: Man soll nur noch positiv denken. In der Verfassung der USA ist ja bereits das Recht und die Verpflichtung verankert, Glück anzustreben.

Wenn Glück ein typisch amerikanisches Lebensgefühl ist, was ist Ihrer Ansicht nach das deutsche Pendant? Angst?

Ein niederländischer Sozialpsychologe hat einen Index entwickelt, der anzeigt, inwieweit eine Nation Unsicherheit zu vermeiden versucht. Da liegt Deutschland weit oben. Am Begriff German Angst scheint etwas dran zu sein.

Der Essayist Nils Minkmar schrieb, dass wir Deutschen uns „als Bewohner eines der letzten Paradiese“ bedroht fühlten. Das klingt plausibel: Wir haben viel Angst, weil wir viel zu verlieren haben.

Nicht alle haben viel zu verlieren.

"Dahinter steckt häufig Angst"

"Psychologieheute"-Chefin Ursula Nuber
"Psychologieheute"-Chefin Ursula Nuber

© Kai-Uwe Heinrich

Worüber Sie in der Regel schreiben und wir jetzt reden, sind die Probleme der Mittelschicht.

Psychische Probleme gibt es in allen Schichten, aber man muss es sich leisten können, sich damit zu beschäftigen. Forschungen haben ergeben, dass psychische Sorgen in den Hintergrund treten, wenn Menschen beispielsweise ums materielle Überleben kämpfen müssen. Befindlichkeiten zu durchleuchten, ist ein Schichtphänomen.

Und wie geht es den anderen? Den Wahlergebnissen der AfD nach zu schließen scheint Selbstverwirklichungsstress nicht die einzige Sorge der Deutschen zu sein. Da bricht sich Wut, sogar Hass Bahn.

Dahinter steckt häufig ebenfalls Angst: Angst, abgehängt oder übersehen zu werden. Weil diese Menschen oft keine Chance haben, sich mit Ängsten zu beschäftigen, äußern die sich als Aggressionen.

Welche psychische Störung ist denn typisch für die Eliten? Oft heißt es: Narzissmus.

Bestimmte Berufe fördern diese Eigenschaft, weil sie PR in eigener Sache zur Pflicht machen.

Sonst kommt man nicht oben an.

Ein Wissenschaftler sagte mal: „Wir sind alle in einem Bierzelt. Da ist es so lärmig, dass man laut sprechen muss, damit man überhaupt gehört wird.“ Dazu muss man ein Stück weit narzisstisch sein. Aus Sicht der Psychologie ist das erst mal nicht schlimm, sogar gesund, wenn man sich nicht ganz realistisch sieht, sondern sich für besser als den Durchschnitt hält.

Der Philosoph Andreas Weber sieht in einer „anästhetisierten Gesellschaft voller Narzissten unser strukturelles Verhängnis“. Gemeint sind Menschen, die nur noch sich selbst wahrnehmen und sich so verformen, wie es gerade gefragt ist.

Ist der Narzissmus so stark ausgeprägt, dass man von einer narzisstischen Störung spricht, ist das tatsächlich eine Gefahr. Die Betroffenen leiden unter einem fragilen Selbstwert, den sie stabilisieren, indem sie sich auf- und andere abwerten.

In einer Ihrer letzten Ausgaben haben Sie berichtet, dass US-Wissenschaftler das Prinzip hoher Produktivität zu rehabilitieren versuchten – mit einer einfachen Rechnung. Sie zählten das Werk von Mozart und Bach aus und schlossen daraus, dass der eine 600, der andere 1000 Stücke komponieren musste, damit eine Handvoll Meisterwerke dabei war.

Forschung, die die alte Weisheit illustriert: Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.

600 Musikstücke! Aus heutiger Sicht waren Mozart und Bach Burn-out-Kandidaten.

Ob jemand einen Burn-out bekommt oder nicht, hat damit zu tun, ob ihm die Arbeit, die er macht, entspricht. Wir leben oft einen fremden Sinn: den der Vorgesetzten oder des Partners. Ich finde Eigensinn hilfreich, um einen Puffer einzubauen gegen die vielen Anforderungen.

Was verstehen Sie darunter?

Eigensinn hat sehr viel mit eigener Meinung zu tun, mit Autonomie, Authentizität.

Beim Begriff Authentizität kommen einem Casting-Shows in Sinn. Dieter Bohlen, wie er sagt: „Du kommst total authentisch rüber.“ Es geht heute offenbar weniger darum, authentisch zu sein, sondern darum, so zu wirken. Als Feature einer perfekten Selbstdarstellung.

Wir leben in einer So-tun-als-ob-Gesellschaft. Wir wollen das Original: etwas Originelles. Doch es reicht, dass es so erscheint. Aber irgendwann, meist passiert es in den mittleren Jahren, wird die Frage dringlich: Wer bin ich? Wer ihr weiter ausweicht, riskiert, in eine Depression zu rutschen.

Der Psychiater C. G. Jung sagte einmal: „Es ist leichter, zum Mars vorzudringen als zu sich selbst.“

Man braucht Geduld. Deshalb halte ich nicht viel von Kurztherapien. Auch in der Psychologie hat das Effizienzdenken um sich gegriffen.

Als Chefredakteurin sind Sie Managerin. Da können Sie sich sicher dem Effizienzdenken erst recht nicht entziehen.

Natürlich nicht. Wir arbeiten im Kapitalismus. Aber ich weiß um die Gefahren für die Menschen, die unter den Bedingungen arbeiten, und versuche, sie abzufedern.

Dem Pareto-Prinzip zufolge erzielt ein Mitarbeiter mit 20-prozentigem Energieeinsatz 80-prozentige Ergebnisse. Das heißt auch: Der Feinschliff kostet 80 Prozent der Energie. Was hielten Sie davon, wenn einer Ihrer Mitarbeiter das Prinzip beherzigt?

Das Prinzip ist aus dem 19. Jahrhundert und wird heute häufig missverstanden. Es geht darum, sich auf die effizienten 20 Prozent zu konzentrieren …

… und Abstriche in Kauf zu nehmen, um Energie zu sparen? Finden Sie das als Chefin gut?

Das Prinzip bedeutet eben nicht, dass die 80 Prozent völlig unsinnig wären. Nur dass man nicht ganz so viel Zeit darauf verwenden sollte – auf endlosen Sitzungen zum Beispiel.

Wie schützen Sie sich eigentlich selbst vor unerfreulichen Sitzungen und anderen Zumutungen?

Mit dem Älterwerden habe ich mir Mechanismen angeeignet, nicht alles persönlich zu nehmen. Ich habe mich auf meinen Eigensinn besonnen. So komme ich schneller über manches hinweg, weil ich unterscheiden kann, was relevant für mich ist.

Das war eine Entscheidung?

Nein, ein Lernprozess. Wenn man sich so lange mit Psychologie beschäftigt, muss ja auch etwas hängen bleiben.

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