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Sprung ins Glück. Das Bild zeigt Käthe Paulus im Jahr 1890, kurz vor einem beherzten Sturz in die Tiefe.

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Deutschlands erste Fallschirmspringerin: Wie Käthe Paulus zur internationalen Sensation wurde

In Wien landete sie in der Einkaufsstraße, in Budapest verbog sie eine Laterne. Doch nach dem rasanten Aufstieg kam der tiefe Fall.

Zweifel? Kannte sie nicht. Angst? Da hätte sie wohl gelacht. Bedenken? Mit so einem Unfug hielt sie sich nicht auf.

Es war ein Sommertag im Jahre 1893, als in Nürnberg eine 25 Jahre junge Frau in Pluderhosen in einen Ballon stieg und gen Himmel fuhr, zusammen mit dem Mann, den sie liebte. Auf 1200 Metern Höhe bremste der den Ballon, sah sie lange an und sagte: „Mit Gott.“ Sie kletterte über die Brüstung des Korbs. Sprang und fiel. Einige Sekunden lang, ihr Körper beschleunigte auf 200 Kilometer pro Stunde, das ist die physikalische Fallgrenzgeschwindigkeit. Die Frau hörte einen Knall, spürte den Ruck, als sich über ihr das Stück Stoff entfaltete, das sie selbst genäht hatte. Plötzlich schwebte sie, die erste deutsche Fallschirmspringerin.

An diesem Tag beginnt die Geschichte der Katharina Paulus, die vor 150 Jahren in Zellhausen bei Frankfurt am Main geboren wurde und an deren Leben sich heute kaum jemand erinnert. Dabei war sie so vieles. Bejubelte Abenteurerin, tieftraurige Verlobte, Mutter und Erfinderin, vor allem aber: eine Frau, die sich nichts vorschreiben ließ. Keine mit politischem Hintersinn, aber eine, die tat, worauf sie Lust hatte.

Der Wind wehte Käthchen einen Mann in den Garten

Paulus wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Ihr Vater arbeitete als Schmied, ein Tagelöhner, später heuerte er als Maschinenheizer in Frankfurt an, das Geld wurde knapp, als er 1887 starb. Die kleine Katharina, sie wird Käthe oder Käthchen genannt, schloss die Schule ab und eine Ausbildung in einer Werkstatt für feine Damenmode, wo sie als „Kleidermacherin“ arbeitete und das Nähen lernte.

Nichts an diesem Leben war bis dahin außergewöhnlich, und wenn der Zufall nicht nachgeholfen hätte, wäre das vermutlich so geblieben. Doch der Zufall, so geht zumindest die schönste Version dieser Geschichte, schickte Wind, und der wehte Käthchen Paulus eines Tages einen Mann in den Garten: den Ballonfahrer Carl Christoph Lattemann, der glücklich gewesen sein soll über den provisorischen Landeplatz.

Möglicherweise hat es sich nicht so zugetragen. Wahrscheinlicher ist, dass Paulus und Lattemann sich begegneten, als jener in Wiesbaden einen Absprung wagte und sie im Publikum stand. Sicher überliefert ist aber, wie Paulus die Begegnung später dem Schriftsteller Werner von Langsdorff erzählte, der ihre Geschichte aufschrieb.

Ein gemeinsamer Flug blieb zunächst ihr Traum

„Ich war ein Mädchen meiner Zeit. Nicht einmal Schlittschuhlaufen konnte ich, denn meine Mutter hielt das für ein junges Mädchen für unnötig und gefährlich. Nie hatte ich mich um Luftschifffahrt und Luftschiffer gekümmert. Aber dieser Mann hatte mir großen Eindruck mit seinem Mut gemacht … Lattemann merkte, wie mich das alles interessierte. Wir kamen ins Gespräch, und auf einmal fragte er mich, ob ich nicht Lust hätte, einmal mit ihm aufzusteigen. Es durchfuhr mich heiß, und ich antwortete ohne Zögern: ,Ja!’ Und ob ich etwa auch einmal abspringen wollte? ,Aber natürlich’, antwortete ich, froh, dass er solches Vertrauen in mich setzte.“

Nicht gleich setzte Paulus ihren kühnen Plan in die Tat um. Zunächst begann sie als Näherin für Lattemann zu arbeiten, flickte Fallschirme und Ballone und verliebte sich in ihn. Ungewöhnlich, dass sie den Ballonfahrer nicht sofort heiratete, sie verlobten sich nur, und Paulus gebar einen Sohn, 1891, Wilhelm Herrmann. Auch nach der Geburt blieb ein gemeinsamer Aufstieg zunächst Paulus’ Traum. In Wiesbaden verbot der Kurdirektor den Flug, in Sachsen fand man die „Betätigung einer Dame in der Luftschifffahrt“ als unpassend.

Geklappt hat es schließlich in Nürnberg. Dort wollte Lattemann mit seinem Ballon aufsteigen und mit dem Fallschirm hinabschweben. Bislang verlor er manches Fluggefährt, nachdem er abgesprungen war, weil es führerlos irgendwo strandete. Nun zeigte er Paulus, wie sie das Luftschiff würde lenken können, wenn er abgesprungen war. Neben den beiden saß ein Dritter an Bord, wohl ein Stadtrat, der überwachen sollte, dass es in der Luft nicht zu unsittlichen Berührungen zwischen Lattemann und Paulus kam. Der Stadtrat, bläute Lattemann seiner Verlobten ein, dürfe nicht bemerken, dass sie zum ersten Mal einen Ballon lenkte.

Sie schlug sich den Schädel blutig

Als Lattemann sprang, war Paulus allerdings so beeindruckt, dass sie vergaß, was er ihr beigebracht hatte. Zum Ausgleich des Gewichtsverlustes hätte sie direkt nach dem Absprung ihres Verlobten ein Ventil öffnen sollen, sodass der Ballon wieder gesunken wäre. Stattdessen starrte sie ihm nach, während der Ballon von 900 auf 3500 Meter Höhe schnellte. Der Stadtrat wies alsbald auf gerissene Stellen in der Ballonseide hin. „Ich dachte, der Ballon platzt“, sagte Paulus später. Sie zog hektisch das Ventil und spürte, wie sie absackten. Viel zu schnell, also beschloss Paulus, Ballast loszuwerden, um leichter zu werden. „Unsere Mäntel mussten von Bord, die Cognacflasche und alles irgendwie Entbehrliche.“

Schließlich krachte der Ballon in ein Hopfenfeld. „Ich schlug mir den Schädel blutig“, notierte Paulus, „aber was tat das alles gegen das Bewusstsein, dass im großen Ganzen die Sache geklappt hatte.“ Auch der Sittenwächter sei froh gewesen, heil am Boden angekommen zu sein. Auf einem Ochsenwagen kehrten sie zur jubelnden Menge zurück. Vier Tage später sprang Paulus selbst aus dem Ballon.

Hatte sie nie Angst, auch nur ein bisschen? „Ich gestehe gern, dass der Entschluss zum Absturz in die Tiefe eine große Überwindung kostete. Bleibt doch stets der Gedanke lebendig, dass irgendwo eine Kleinigkeit übersehen sein könnte. Er erzeugt ein gruseliges Gefühl, über das man nur hinüber gelangt mit der Erinnerung an das Sprichwort: Den Mutigen gehört die Welt.“

Sie wurde zu „Miss Polly“, der Marke

Ehrengrab von Käthe Paulus auf dem Dankes und Nazareth Friedhof in Berlin-Reinickendorf.
Ehrengrab von Käthe Paulus auf dem Dankes und Nazareth Friedhof in Berlin-Reinickendorf.

© wikipedia

Diese Gewissheit hielt ein Jahr. In Krefeld aber, die beiden traten mit einem besonderen Manöver auf, sah Paulus einen Mann ungebremst vom Himmel fliegen. Es war ihr eigener.

Zunächst war sie aus dem Ballon abgesprungen und hing nun im Fallschirm, mit bestem Blick auf Lattemann. Der wollte in der Luft aus dem Ballon einen Fallschirm bauen und damit zu Boden sinken. Erfahrung hatte er keine, er versuchte den Trick zum ersten Mal. Paulus sah, wie Lattemann hantierte, als plötzlich das Gas entwich und er geradewegs dem Boden entgegen stürzte, den Schirm wie einen umgekehrten Regenschirm nach sich ziehend. „Ich rief ihm zu, aber mir schien, als verstünde er mich nicht mehr, als habe er die Augen geschlossen“, erzählte sie später. Hilflos sah sie mit an, wie Lattemann in einer Straße von Krefeld aufschlug, er war sofort tot.

Nach dem Absturz erlitt Paulus einen Nervenzusammenbruch, lag Wochen im Krankenhaus, ans Fliegen dachte sie nicht mehr. Gut so, sagten die, die sie näher kannten. Ein Jahr später starb ihr vierjähriger Sohn an Diphterie. Paulus beschloss, wieder fliegen zu gehen.

„Die Sensation des anbrechenden Jahrhunderts“

Wie viele Sprünge Käthchen Paulus in ihrem weiteren Leben unternahm, ist nicht ganz klar. 516 Ballonfahrten und 145 Fallschirmsprünge sollen es insgesamt gewesen sein, schreibt etwa Gertrud Pfister in ihrem Buch „Fliegen – ihr Leben: Die ersten Pilotinnen“.

Eine andere Zahl nannte der Hobbyhistoriker Erich Venuleth, wie Paulus aus Zellhausen bei Frankfurt stammend: mehr als 700 Ballonaufstiege, 165 Sprünge. Venuleth sammelte jede Information, die er über Paulus herauszufinden vermochte. 2010 starb er, sein Bruder sagt, er habe einiges Wissen über Paulus mit ins Grab genommen.

Aus zwei Niederlagen machte Paulus einen Sieg. Sie war nun frei und nahm sich vor, diesen Umstand zu nutzen. Käthchen Paulus, die Verlobte von Herrn Lattemann, die Mutter, wurde zu „Miss Polly“, der Marke. Zu ihren Auftritten trug sie stets dasselbe: Pluderhosen, hohe Schnürstiefel, Ledergamaschen, eine Matrosenmütze mit Ankersymbol – und das „in einer Zeit, in der die Damen noch nicht einmal den Knöchel zeigen durften“, wie Gertrud Pfister in ihrem Buch über Paulus schreibt.

„Die Sensation des anbrechenden Jahrhunderts“, so titelten die Zeitungen, trat in Nizza, Berlin, London, Wien auf, wo sie einmal in der Haupteinkaufsstraße landete, der Kärntnerstraße, und dafür eine Strafe bezahlen musste. In Budapest verbog sie bei der Landung eine Straßenlaterne.

Noch heute kennen Springer den Paulushaken

Warum sie weitermachte, obwohl der Beruf ihr den Mann genommen hatte? Paulus notierte, sie habe eine „innere Verbundenheit“ mit dem gespürt, „für das Lattemann sein Leben gegeben hat“. Bestimmt berauschte sie auch der Erfolg, der sich schnell einstellte. Den Mutigen gehört die Welt.

Paulus vermarktete ihre Auftritte höchst professionell, heute trüge sie auf ihrem Kopf bestimmt ein Bullen-Logo. Damals wurde sie „ihre eigene Managerin, Pressechefin, technische Leiterin und Hauptdarstellerin“, schrieb die Historikerin Gerta Walsh. Paulus nähte Ballone und erfand den Paketfallschirm. Dabei werden Stoff und Leinen in einem kleinen Paket verstaut, das beim Absprung hochgeworfen wird und sich sicher entfaltet. Noch heute nutzen ihn Springer und kennen den sogenannten Paulushaken.

Am häufigsten stieg Miss Polly in Frankfurt auf, am Zoo, manchmal kamen 20 000 Zuschauer und zahlten je 50 Pfennig Eintritt. Einmal kooperierte die Luftakrobatin mit dem Fahrradhersteller Adler. Statt eines Korbs band sie ein Fahrrad unter den Ballon und stieg tretend auf. Den Flug auf einem lebendigen Pferd verbot die Polizei.

Nach dem rasanten Aufstieg begann der tiefe Fall

Wird so eine zum Vorbild für Frauen deutschlandweit? Empowerment also, lange bevor das Wort in Mode kommt? Eher nicht. Der Erfolg von Miss Polly fußt auf ihrem Status als Exotin. Ein solches Wagnis – und dann noch vorgeführt von einer Frau! Das zieht beim Publikum, das nach Sensationen giert. Um ihr nachzueifern, ist Paulus zu weit entfernt von der Lebensrealität ihrer Zuschauerinnen. 100 Jahre später wäre eine wie sie wahrscheinlich zum Megastar avanciert, gebucht für Podien, Ted Talks, Motivationsseminare. Damals? Begann nach dem rasanten Aufstieg der tiefe Fall.

Ihren letzten Sprung absolviert Paulus kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Sofort bietet sie dem Preußischen Kriegsministerium ihre Erfindung an, den Paketfallschirm, dort ist man zunächst nicht begeistert. Nachdem allerdings einige Artilleriebeobachter ums Leben kommen – sehr einfache Ziele im trägen Ballon – beauftragt der Minister Paulus, Fallschirme zu nähen. 7000 schafft sie bis Kriegsende mit ihren Helferinnen, 1917 rettet sie damit in Verdun 20 Soldaten das Leben. Nach dem Krieg bekommt sie dafür ein Verdienstkreuz. Dann beginnt das Vergessen.

Paulus lebte mittlerweile in Berlin, wo sich die Menschen weniger für Fallschirme als für die motorisierte Luftfahrt interessierten. Miss Polly hätte gern umgesattelt, versuchte sich an einem Flugschein, Dabeigewesene bescheinigten ihr aber mangelhaftes Geschick.

So kam es, dass sich an einem nassen Julitag 1935 nur ein paar vereinzelte Gestalten auf dem Friedhof in Berlin-Reinickendorf versammelten, um von Katharina Paulus Abschied zu nehmen.

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