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Auf einem Handybildschirm ist ein Virus abgebildet

© Robert Günther / dpa-tmn

Das Virus gibt es gar nicht?: Verschwörungstheorien verbreiten sich schnell – und können tödliche Konsequenzen haben

Ob aus rechtsextremen Kreisen oder zum Coronavirus: Verschwörungstheorien sind virulent. Doch nicht immer ist es eine, wenn es danach aussieht. Ein Gastbeitrag.

Michael Butter ist Professor für Amerikanistik an der Universität Tübingen. 2018 erschien von ihm "Nichts ist, wie es scheint. Über Verschwörungstheorien" (Suhrkamp).

Das Coronavirus wurde von den Chinesen geschaffen, um die westliche Wirtschaft zu schwächen und dann zu übernehmen. Das Virus gibt es gar nicht. Die Hysterie wird von den Eliten geschürt, um von ihren sinisteren Zielen abzulenken. Das Virus ist eine amerikanische Biowaffe, die China schwächen soll. Daher tötet es auch fast ausschließlich Chinesen. 

Das sind nur drei der zahlreichen Verschwörungstheorien zum Coronavirus. Es sind Verschwörungstheorien, weil sie behaupten, dass die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen (das Virus ist nicht einfach so entstanden oder existiert überhaupt nicht), alles geplant wurde (von den Chinesen, den Eliten, den Amerikanern) und Ereignisse verbunden sind, die nichts miteinander zu tun haben (das Virus und der wirtschaftliche Konflikt zwischen China und dem Westen). 

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Verschwörungstheorien gibt es mindestens seit der Frühen Neuzeit, und früher waren sie sogar noch populärer und einflussreicher. Denn während sie heute von vielen Menschen skeptisch gesehen werden, waren sie bis weit ins 20. Jahrhundert allgemein akzeptiert. Sie waren fest im Mainstream verankert und wurden von Eliten ebenso wie von „gewöhnlichen“ Menschen geglaubt und verbreitet.

Brandbeschleuniger Internet?

Das Internet hat nicht zu einem rasanten Anstieg des Verschwörungsglaubens geführt, sondern die Theorien wieder sichtbarer und einfacher verfügbar gemacht. Auch waren Verschwörungstheoretiker noch nie so gut vernetzt wie heute, weshalb sie sich ständig in Überzeugungen gegenseitig bestärken.

Vor allem aber hat sich die Geschwindigkeit, mit der sich Verschwörungstheorien verbreiten, durch das Internet vervielfacht. Dauerte es früher Monate oder gar Jahre, bis eine Verschwörungstheorien von einem Ende der Welt zum anderen gewandert waren, geht es heute oft in Sekunden.

Hintergrund über das Coronavirus:

Deshalb begegnen einem die Verschwörungstheorien zum Coronavirus auch, ohne dass man aktiv danach gesucht hätte. Anders als das Virus selbst, dem man momentan noch nur in einigen Risikogebieten kaum entkommen kann, sind sie überall. Vor allem die Sozialen Medien wirken wie ein Brandbeschleuniger.

Medienwissenschaftler verwenden gerne den Ausdruck „viral“, um zu beschreiben, wie sich manche Nachrichten wie ein Lauffeuer im Netz verbreiten: von Facebook zu Twitter und dann zu Instagram und wieder zurück, über Filterblasen und Echokammern hinweg. Insofern entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn wir jetzt beobachten können, wie Verschwörungstheorien über ein Virus viral gehen.

Verschwörungstheorien sind soziale Phänomene

Die Wichtigkeit der Sozialen Medien für die Verbreitung von Verschwörungstheorien weist aber auch noch auf einen anderen Aspekt hin, der in der bisweilen allzu aufgeregten Diskussion um deren Gefährlichkeit regelmäßig zu kurz kommt: Verschwörungstheorien sind soziale Phänomene, Erzählungen, die von Menschen geteilt, diskutiert und gemeinsam geglaubt werden.

Tweets werden retweetet, Kommentare gelikt, und Verschwörungstheoretiker benutzen identische Begriffe, um ihre Ideen zu artikulieren. Die prägenden Metaphern des konspirationistischen Diskurses sind sogar noch älter. Das Bild vom Kraken, der den Globus umspannt, das wir heute vor allem mit antisemitischen Theorien verbinden, stammt aus Verschwörungstheorien über die Jesuiten aus dem 17. Jahrhundert. Fast genauso lange fordern Verschwörungstheoretiker schon, dass die breite Masse endlich die Augen öffnen und aufwachen muss. 

In Deutschland ist die Zahl der Toten durch den Coronavirus auf fünf gestiegen.
In Deutschland ist die Zahl der Toten durch den Coronavirus auf fünf gestiegen.

© dpa

Längeren Verschwörungsnarrativen ist diese überindividuelle Dimension noch auf andere Weise eingeschrieben. Die Autoren solcher Texte präsentieren vermeintliche Beweise, interpretieren Quellen, zitieren obsessiv und verweisen aufeinander. Ein typisches Beispiel hierfür ist das „Manifest“ des Attentäters von Christchurch in Neuseeland, der am 19. März 2019 in zwei Moscheen insgesamt 51 Menschen ermordete.

Schon auf der ersten Seite greift er ein Standardelement dieser rechtsextremen Verschwörungstheorie auf – die angeblich viel zu niedrigen Geburtenraten unter weißen Frauen im Vergleich zu Musliminnen – und verlinkt einen Wikipedia-Artikel, um diese Beobachtung zu belegen. 

Nicht alle rassistischen Morde gehen auch auf Verschwörungstheorien zurück

Ereignisse wie in Christchurch haben die Öffentlichkeit für die Gefährlichkeit gerade rassistischer Verschwörungstheorien so sehr sensibilisiert, dass mittlerweile bei allen rassistischen Morden reflexartig behauptet wird, der Täter habe aufgrund von Verschwörungstheorien gehandelt.

Das ist oft der Fall, wie zum Beispiel beim Angriff auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019, aber nicht immer. So war Tobias R., der Attentäter von Hanau, wohl kein klassischer Verschwörungstheoretiker. Das wurde zwar fast überall behauptet, doch die Texte, die er hinterlassen hat, belegen das nicht. 

Tobias R. glaubte, er und viele andere Deutsche würden von einem mysteriösen Geheimdienst kontrolliert, der seine Gedanken lesen und auch steuern könne. Das klingt wie eine Verschwörungstheorie, und in der Tat gibt es solche Theorien. Doch Tobias R. glaubte offensichtlich an seine ganz eigene Version, sozusagen seine private Verschwörungstheorie.

Vermutlich kannte er die öffentlich zirkulierenden Narrative, denen seine Vorstellungen ähneln, gar nicht. Denn er benutzt nicht das bekannte Vokabular, er liefert keine möglichst „objektiven“ Beweise, er zitiert und verlinkt nicht. Er weiß es einfach.

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Tobias R. störte sich daran, dass in Deutschland auch Ausländer lebten und „nicht jeder [sic] der heute einen deutschen Pass besitzt [sic] reinrassig“ ist. Er glaubte, dass die Bevölkerung vieler arabischer und asiatischer Länder „komplett vernichtet werden“ müsse. Das ist fürchterlicher Rassismus, aber es ist keine Verschwörungstheorie.

An keiner Stelle schreibt er von einem Plan, die deutsche Bevölkerung auszutauschen. Bei ihm gibt es keine Eliten, die im Hintergrund alles orchestrieren. Und er verwendet nicht die Signalworte, die Anhänger rechter Verschwörungstheorien seit Jahren bemühen: „Volkstod“, „Islamisierung“ oder „Großer Austausch“. Das Bild der Wand, die eingerissen werden muss, damit alle verstehen, was vor sich geht, das er am Ende seines „Manifests“ bemüht, ist mir noch nie in einem konspirationistischen Text begegnet.

Individueller Wahn wird gesellschaftlich geformt

So wie die Verschwörungstheorien bei den Attentätern von Christchurch und Hanau schließlich den Einsatz von Gewalt legitimierten, taten dies die Wahnvorstellungen für Tobias R. Der klare Gegensatz von „irrem Einzeltäter“ und „Verschwörungstheoretiker“, der mitunter konstruiert wurde, ist schon allein deshalb falsch.

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Er ist aber auch falsch, weil individuelle Wahnvorstellungen gesellschaftlich geformt werden. Gerade Tobias R.s Entscheidung, jetzt Gewalt einzusetzen, ist vermutlich untrennbar mit der derzeit starken Ablehnung des vermeintlich „Fremden“ in Deutschland verbunden.

Zu dieser Stimmung haben Verschwörungstheorien wie die vom „Großen Austausch“, die auch von der AfD immer wieder verbreitet wird, einen gehörigen Teil beigetragen. Insofern war Tobias R. kein Verschwörungstheoretiker, aber Verschwörungstheorien haben mit zu dem gesellschaftlichen Klima geführt, in dem sein Wahn tödliche Konsequenzen hatte.

Besonders anfällig: Menschen, die nicht mit Unsicherheit umgehen können

Solche Konsequenzen können, wenn auch indirekter, natürlich auch die Verschwörungstheorien über das Coronavirus haben. Denn wer glaubt, dass das Virus gar nicht existiert, es völlig ungefährlich ist oder nur für Chinesen lebensbedrohlich, der wird sich und andere nicht ausreichend schützen. Wir erleben daher momentan auf globaler Ebene, was in den vergangenen Jahren bei Masernepidemien schon auf lokaler Ebene zu beobachten war.

Wie zahlreiche psychologische Studien gezeigt haben, sind besonders solche Menschen empfänglich für Verschwörungstheorien, die schlecht mit Unsicherheit und Ambivalenz umgehen können. Da spielt es auch keine Rolle, wenn das, was Verschwörungstheorien behaupten, oft noch viel düsterer ist als die Realität.

Manche Menschen können offensichtlich leichter ertragen, dass irgendwelche Bösewichte im Hintergrund die Strippen ziehen, als nicht zu wissen, was vor sich geht, oder zu akzeptieren, dass womöglich niemand letztendlich verantwortlich ist. Die Sicherheit, die Verschwörungstheorien so bieten, ist aber trügerisch. Das sieht man an den Theorien zum Coronavirus besonders gut, deren Folgen uns potenziell alle angehen.

Michael Butter

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