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Tagesspiegel-Kolumnist Moritz Rinke.

© Peter Sickert

Das Theater geht wieder los: Dieses ganze Premieren-Gequatsche!

... und dazu all die Hände, die sich einem zum Schütteln entgegengestrecken, die nahenden Lippen zum Bussi! Unser Kolumnist hat Foyer-Gefummel nicht vermisst.

Moritz Rinke lebt als Dramatiker und Schriftsteller in Berlin. Zuletzt wurde von ihm am Deutschen Theater Berlin das Stück „Westend“ uraufgeführt. Sein neuer Roman "Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García" erscheint Ende August 2021.

Nach einer Ewigkeit stand ich wieder auf einer Premierenfeier unter lauter Theatermenschen. Zuerst erschrak ich, als ich plötzlich die Menge sah und stellte mich in die Schlange vor der Bar, mit gewohntem Abstand. Mich vorsichtig umschauend, fiel mir eine Szene aus der Kindheit ein: das erste Mal im großen Schulbus und wie mich das ängstigte, all die Kinder, die herumschrien und auf ihren Sitzen tobten.

Der Barmann reichte mir ein riesiges Bierglas, das ich kaum halten konnte mit meinem frisch geimpften Arm.

Es kam mir vor, als würden sie lauter reden als früher

„Hey, wie geht’s, gutes Regiekonzept, oder? Schlüssig, stringent. Wie fandst du’s?“, fragte mich jemand, er stand direkt vor mir und redete mir ins Gesicht. Ich wusste nicht, ob ich den Atem lieber anhalten beziehungsweise, was ich überhaupt antworten sollte.

„Ganz gut“, sagte ich knapp, der Rest des Theatervokabulars fehlte mir.

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Einige redeten sehr laut. Es kam mir vor, als würden sie lauter reden als früher. Manche der Schauspielerinnen und Schauspieler kamen mir noch extrovertierter vor als früher. Vielleicht freuten sie sich, dass der Betrieb endlich wieder begonnen hatte, sagte ich mir, vielleicht sollte ich mich einfach mitfreuen.

Es ist halt eine Shakespeare-Aufführung gewesen, du Depp!

Jemand schob sich an mir vorbei. Diese typische Sich-Vorbeischieben-Bewegung von früher. Der Typ ging einfach auf mich zu und schob mich mit den Fingerspitzen an der Schulter leicht zur Seite. Wie oft man sich früher freiwillig auf Premieren und Empfängen von anderen hatte herumschieben lassen, dachte ich. Wie oft man unfreiwillig Schritte zur Seite gemacht hatte, nur weil sich ein anderer unbedingt an einem vorbeipressen musste. Und noch dazu diese ständigen Hände, die sich einem zum Schütteln entgegengestreckten, diese nahenden Lippen zum Bussi! (Wenn später einmal Anthropologen über Menschen nach Corona forschen, dann werden sie auch über die Hände und Bussis von früher schreiben.)

Premierenparty, Symbolbild. Eigentlich waren sie schon vor Corona unerträglich.
Premierenparty, Symbolbild. Eigentlich waren sie schon vor Corona unerträglich.

© Sergei Fadeichev/Itar-Tass/Imago

„Ich fand es zu textlastig“, sagte jemand. Ich spürte sofort, wie ich mich erregte. Na ja, es ist halt eine Shakespeare-Aufführung gewesen, du Depp, da gibt’s dann eben Text. Dieses ganze Premieren-Gequatsche, dachte ich. Vor Corona fand ich es schon schwierig, nach Corona geht es gar nicht mehr.

Misch dich nicht in diese Sache mit der Textlastigkeit ein, sagte ich mir, halte lieber dein Bier mit dem anderen Arm, der ist ungeimpft.

"How small would you like the talk?"

Aber hatte ich mich nicht eigentlich gesehnt nach diesem Moment? Endlich wieder unter vielen Menschen zu sein? Mit Interaktion, mit Resonanz? Hunde beschnuppern einander, Menschen machen Small Talk, das sagen die Sozialpsychologen. Im Small Talk vergewissere sich der Mensch seiner Resonanz. Es gehe gar nicht darum, was man sagt, sondern, dass man etwas sagt. Und dann sagt der andere etwas, egal was, Hauptsache, er sagt was, weil ich etwas gesagt habe, das ist ein Menschheitsprinzip. Die Queen sagte einmal beim Staatsdinner: „Now we will have some small talk. How small would you like the talk?“

Doch ist das nach all der stillen Zeit noch einfach so auszuhalten? Ich mochte eigentlich meine Selbstdialoge. Ich fand es intelligent, was ich mir nach einer Netflix-Serie selbst sagte. Ich empfand meine Aussagen als kompetent, mir genügte das.

Vielleicht kommt jetzt wirklich viel Arbeit auf die Sozialpsychologen zu. „Zurück zur Normalität“, das sagt sich so einfach. Vielleicht empfinden Menschen die „Normalität“ als etwas Neues, Bedrohliches – wie entflohene Geiseln, die sich plötzlich wieder in die Gefangenschaft ihrer Entführer sehnen.

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