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Die Erwartungen waren zu hoch. Die WM hat das ganze Land verloren.

© Frank Augstein/AP/dpa

Das kolumnistische KARUSSELL: Die WM haben wir alle verloren!

Die Erwartungen waren zu hoch. In Russland alle viel zu verkrampft. Die Urlaubsfotos der Nationalspieler wirken dagegen geradezu beschwingt.

Als die deutschen Nationalspieler nach dem katastrophalen Spiel gegen Südkorea ausschieden, fiel mir eine Geschichte über Scham ein, sie handelt merkwürdigerweise von Karl Heinz Rummenigge.

Rummenigge hatte mit der Nationalmannschaft bei der WM 1982 in Spanien trotz der Schande von Gijón noch das Finale erreicht (1:3 gegen Italien), doch das Team von Jupp Derwall wurde von den Medien zerfetzt, und Rummenigge traute sich zurück in München nicht mehr aus dem Haus. Das Wetter war so schön, also setzte er sich Hut und Sonnenbrille auf und ging auf den Viktualienmarkt. Keiner erkannte ihn. Aber als er in eine abgelegene Ecke des Marktes kam, wo eine uralte Frau auf einem Hocker saß und Kartoffeln verkaufte, sagte sie: „Guten Tag, Herr Rummenigge“, worauf er erschrocken nach Hause lief und sich noch besser verkleidete. Er klebte sich sogar einen Bart an. Als er erneut zu der greisen Verkäuferin kam, sagte sie wieder: „Guten Tag, Herr Rummenigge.“ „Verdammt noch mal!“, sagte er. „Woran erkennen Sie mich denn immer?“ „Geh, du Depp“, sagte die alte Frau, „ich bin doch der Paul Breitner.“

Auf diese Idee würden die heutigen Twitter- und Instagram-Nationalspieler gar nicht kommen. Im Gegensatz zur Scham von Rummenigge und Breitner wirken die Urlaubsfotos der Spieler geradezu beschwingt. Manuel Neuer auf einem Rennboot; Thomas Müller bei einem Dressurturnier mit Freundin Lisa in Innsbruck; Hummels mit einer Foto-Story aus Kroatien; Draxler in Hollywood; Khedira auf den Malediven und der Bundestrainer mit einem Oldtimer durch den Breisgau.

Das ganze Land hat das WM-Kreuz herumgetragen

Ich finde, sie sehen sogar erleichtert aus, so als habe ihnen jemand eine schwere, schwere Last genommen. Nicht zu vergleichen mit den Fotos aus Russland, auf denen sie wirken, als würden sie den schon fest eingeplanten fünften WM-Stern wie ein Kreuz mit sich herumtragen.

Vermutlich hat das ganze Land dieses WM-Kreuz mit sich herumgetragen. Und vermutlich haben alle Deutschen diese WM auch mitverloren, nicht nur die Spieler. Für die Journalisten war der fünfte Stern Pflicht, für die Vermarkter und Stammtische sowieso, und sogar fußballferne Institutionen wie Theater- oder Literaturhäuser waren fest auf Titelkurs und richteten ihre Veranstaltungen nach dem deutschen Finale am letzten Sonntag aus. Heiratswillige steuerten ihren Glückstag streng nach der deutschen Gruppe F aus, Tabellenerster, Achtelfinale gegen die Schweiz am 3. Juli, Viertelfinale am 7., heiraten dazwischen.

Was für ein Irrsinn, was für eine Fehlplanung! Vor allem, wenn man wochenlang versuchte, am Stern Richtung Brandenburger Tor abzubiegen! WM-Titel-Vollsperrung! Nur weil da jetzt ein paar Hanseln Schweden gegen die Schweiz guckten oder Japan gegen Belgien, mit deprimierten Würstchenverkäufern, ohne Bier.

Was für eine Verblendung, vom Bundestrainer bis zur Senatsverkehrsverwaltung! Symptomatisch für die wochenlange WM-Titel-Vollsperrung war der fehlende Matchplan des Bundestrainers im ersten Gruppenspiel. Wieso sollte es auch einen Matchplan für ein Gruppenspiel geben, wenn man schon nach Watutinki ins Mannschaftshotel gezogen war, weil Watutinki näher am Austragungsort des Finales lag als beispielsweise das schönere Sotschi?

Tja. Und dann kamen ein paar mexikanische Konter über rechts und brachten alles und das gesamte Land durcheinander.

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