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ME/CFS fühlt sich für viele Patienten wie eine dauerhafte Grippe an.

© DPA

Chronisches Fatigue Syndrom: Lichtblick für zwei Millionen ME/CFS-Patienten in Europa

Das Europäische Parlament verabschiedet erstmalig eine Resolution zur Krankheit ME/CFS. Ein Durchbruch für die Forschung?

Der Alltag steht still: Das Coronavirus hat die Welt weiterhin im Griff. Vielerorts gibt es noch immer Ausgangssperren, Kontakt- oder Reiseverbote. Das Leben ist ein anderes geworden. Wir alle sind in unserem sozialen Leben eingeschränkt, einige gar isoliert. Für uns ist das ein neuer Alltag – für Menschen, die unter Myalgischer Enzephalomyelitis (ME) leiden, auch bekannt als das Chronische Fatigue Syndrom (CFS), ist die heimische und soziale Isolation jedoch nichts Neues.

ME/CFS ist eine schwere chronische Krankheit, die meist mit einer Virusinfektion beginnt und zu extremer Erschöpfung und ständigen Schmerzen führt. Konzentrations- und Gedächtnisschwäche sowie Kreislaufstörungen bis hin zu Atembeschwerden können zu kompletter Bettlägerigkeit führen. Viele Patienten beschreiben ihren Zustand als eine ewig andauernde Grippe.

Lange mangelte es am Bewusstsein für das Krankheitsbild, vor allem aber auch an Forschungsgeldern. In diesem Jahr scheint jedoch der Stein ins Rollen zu kommen.

Das Europäische Parlament verabschiedete nun zum ersten Mal eine Resolution zu ME/CFS. In der Plenarsitzung am 17. Juni wurde mit einer überwältigenden Mehrheit für den Entschließungsantrag zu Myalgischer Enzephalomyelitis gestimmt.

Von 688 teilnehmenden Abgeordneten stimmten 676 den zusätzlichen Finanzmitteln für die biomedizinische Forschung zu. Gefordert werden unter anderem die gebührende Anerkennung der Krankheit ME/CFS und die Entwicklung eines biomedizinischen Diagnosetests. Im Vorfeld der angesetzten Abstimmung wandten sich weltweit 115 Wissenschaftler, die selbst auf diesem Gebiet forschen, in einem offenen Brief an das Europäische Parlament, um die dringende Notwendigkeit für mehr ME/CFS-Forschung zu verdeutlichen.

Wissenschaftlicher Durchbruch möglich

Dr. Carmen Scheibenbogen, Professorin an der Charité in Berlin und eine der ersten Unterzeichnerinnen des Briefes, erklärte, dass die Entwicklung eines diagnostischen Tests für ME/CFS ein vordringliches Ziel sei, um die Genauigkeit der Diagnose zu erhöhen: „Wir hoffen auf ein besseres Verständnis der Krankheitsmechanismen und schließlich auf eine effektive Behandlung.“ ME/CFS sei eine der großen Herausforderungen für die moderne Medizin. Doch Carmen Scheibenbogen sei zuversichtlich, „dass ein wissenschaftlicher Durchbruch möglich ist“.

Bereits im April stimmte der Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments einstimmig für den Antrag auf eine zusätzliche Finanzierung für die biomedizinische Forschung. Anstoßgeber für die Petition war die seit nun mehr 22 Jahren an ME/CFS-Erkrankte Evelien Van Den Brink aus den Niederlanden. Aufgrund ihrer Bettlägerigkeit trug sie im vergangenen Jahr im Petitionsausschuss liegend ihre Rede vor. Mehr Wissenschaft sei „der einzige Weg“ und man könne „nicht zulassen, dass eine weitere Generation unter dieser schrecklichen Krankheit leidet“, so Van Den Brink.

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Dringender Handlungsbedarf für ME/CFS

Dass das Europäische Parlament die Missstände nun ebenfalls so klar benannt hat, erschwere es der Bundesregierung, den dringenden Handlungsbedarf länger zu leugnen. Doch „wann und wie gedenkt das Bundesministerium für Gesundheit das, wie es die EU formuliert, ‚verborgene Problem im Gesundheitswesen‘ anzugehen?“, fragt Daniel Hattesohl, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS.

Die jetzige Entschließung des Parlaments führe nicht automatisch zur dringend notwendigen Bereitstellung von Forschungsgeldern oder zu einer Verbesserung der Versorgungslage für die Patienten. Es sei allerdings ein wichtiges Mittel, um die verantwortlichen Institutionen in die Pflicht zu nehmen. „Die von der EU geforderten Maßnahmen müssen jetzt zeitnah umgesetzt und die Versorgung von ME/CFS-Kranken schnell verbessert werden“, so Hattesohl weiter.

Deshalb wandten sich als Reaktion auf die Resolution des Europäischen Parlaments in dieser Woche die Patientenorganisationen wiederholt an die Politik. Die Lost Voices Stiftung, Fatigatio e.V., MillionsMissing Deutschland, sowie die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS fordern nun die Einrichtung eines Runden Tisches mit Bundesministerien, Betroffenen und Wissenschaftlern. Ziel sei es jetzt, die vom Europäischen Parlament benannten Herausforderungen unmittelbar anzugehen.

Unterstützer der Resolution

Die Grünen-Europaabgeordnete Katrin Langensiepen bestätigte die Forderungen, dass ME/CFS „endlich als schwerwiegende Krankheit ernst genommen und anerkannt werden“ müsse. Die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten in Bezug auf Untersuchungsmethoden, Diagnose und Behandlung müsse unterstützt werden und um Stigmatisierung entgegenzuwirken, brauche es in den Mitgliedstaaten eine stärkere Sensibilisierung von Gesellschaft, Ärzten und Arbeitgebern.

Auch Pascal Arimont, EU-Parlamentarier und Unterstützer der Resolution macht auf die Situation der geschätzt zwei Millionen Europäer aufmerksam, die unter ME/CFS leiden: „Diese Patienten wurden viel zu lange ignoriert. Es gibt derzeit noch nicht einmal einen anerkannten diagnostischen Test für ME/CFS, weil wir so wenig über die zugrunde liegende Pathologie wissen.“

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Die USA, Australien und Kanada seien da schon einen Schritt weiter. Die Regierungen dort haben laut Arimont erhebliche Mittel in die ME/CFS-Forschung investiert. „Europa hinkt hinterher und es besteht dringender Handlungsbedarf“, sagte Arimont. Ein Lichtblick für die europäische Forschung kam am vergangenen Dienstag aus Großbritannien. Mit einer staatlichen Förderung von 3,2 Millionen britischen Pfund startet dort die weltweit größte genetische ME/CFS-Studie. Für die Studie sollen 20000 Probanden rekrutiert werden – zunächst nur mit Teilnehmern aus Großbritannien.

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