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Wes Anderson entwarf die Bar Luce in der Fondazione Prada.

© Attilio Maranzano/Courtesy Fondazione Prada

Blind Booking: Das ungewisse Etwas

Blind Booking – der Algorithmus, bei dem man mit muss. Erst kurz vor der Abreise erfuhr unser Autor: Es geht nach Mailand.

Mailand also. Viel fiel mir nicht dazu ein. Es gibt einen Dom, die Fußballvereine AC und Inter, und in Mailand lebt auch der neue Freund meiner Exfreundin. Nun ja. Als die letzten Sekunden des Countdowns heruntergelaufen waren und das Ziel meiner Überraschungsreise auf dem Laptop erschien, löste der Name der Stadt in mir allenfalls ein neutrales Gefühl aus – wie Toastbrot, die Songs des Rappers Drake und Badminton.

Ein paar Wochen zuvor hatte ich mich durch die Website des Reiseveranstalters Blookery geklickt, der auf Blind Booking spezialisiert ist: Reisen, bei denen man erst eine Woche vorher erfährt, wohin es geht. Ich gab an, worauf ich Lust hatte, Sightseeing und Nightlife. Romantik schloss ich aus, da ich allein reiste. Dann konnte ich entscheiden, ob ich die nördliche, mittlere oder südliche Region Europas besuchen wollte. Ich nahm alle, schließlich sollte es eine Überraschung sein, und aus demselben Grund markierte ich von den potenziellen Reisezielen nur zwei Städte, in die ich auf keinen Fall fahren wollte: Amsterdam, weil mich Horden schluffiger Graserstkonsumenten nerven, und Kattowitz, weil ich in der Stadt einmal ein Wochenende verbracht hatte und mir echt nicht einfiel, was ich dort mit einem weiteren Tag anfangen könnte. Das Budget für Flug und zwei Nächte legte ich auf 400 Euro fest.

In letzter Zeit nimmt das Angebot an Überraschungsreisen zu. Ähnlich wie Blookery stellen das Portal wowtrip.travel und das Münchner Start-up Unplanned anhand einiger Kundenangaben eine Kombination aus Flug und Hotel zusammen. Airlines wie Eurowings und Lufthansa bieten günstige Flüge zu unbekannten Zielen aus Kategorien wie Kultur und Party. Der Reiseveranstalter FTI hat in einigen Urlaubsregionen sogenannte Glückshotels im Angebot. Erst nach der Ankunft erfahren die Urlauber, wo sie untergebracht sind.

Die Anbieter verkaufen kein Ziel, sondern ein Erlebnis

Nun kann man sich fragen: Was soll das? Die Auswahl im Internet erlaubt es jedem, sich seine individuelle Reise zusammenzustellen. Die endlosen Kombinationsoptionen – Zug oder Flugzeug? Airbnb oder Hotelzimmer? Paris oder Prag? – sind es allerdings auch, die ein bisschen überfordern, sodass potenzielle Reisende lieber erschöpft daheim bleiben.

Es ist konsequent, dass Anbieter wie Blookery kein Ziel verkaufen, sondern ein Erlebnis. Wer sagt schon: „Fliegst du mit mir übers Wochenende nach Tiflis? Ich würde wirklich gern die Kathedrale mit ihrer einzigartigen Natursteinfassade sehen.“ Eher ist es doch so: „Lass mal wieder ein paar Tage wegfahren und rauskommen, einen Kurztrip machen.“ Wohin, ist fast egal. Ändert es das Reisen da überhaupt noch, wenn man das Ziel ganz dem Zufall überlässt (oder zumindest dem Algorithmus von Blookery)?

Als das Flugzeug abhob, ging ein kollektives Erschlaffen durch die spärlich belegten Sitzreihen der Maschine. Freitagmorgen, sieben Uhr. Die eine Hälfte der Passagiere, Typ Mittzwanziger-Studenten, ratzte in ergonomisch bedenklichen Körperhaltungen weg. Teil zwei, Graukopf-Rentnerinnen, erarbeitete mittels Reiseführer eine Stadterkundungsroute. Erst über den Alpen dann einige Ohs der Fluggäste an den Fensterluken, die Neugier ihrer Sitznachbarn, also die Sitznachbarn weckend. Sieht brutal schön aus, wie sich die Sonne hinter dem Gebirge in fettsattem Orangenorange erhebt.

Auf Städtereisen sind zwei Regeln zu beherzigen

Ciao Milano! Nahe dem Dom gibt es herrliche Panzerotti.
Ciao Milano! Nahe dem Dom gibt es herrliche Panzerotti.

© imageBROKER/hwo

Als wir am Flughafen von Mailand gelandet waren, merkte ich, dass es erstens noch nicht einmal neun Uhr war und ich, zweitens, keine Ahnung hatte, was jetzt passieren sollte. Unter dem Vorwand, dass es zu solch einer Reise gehörte, sich nicht nur vom Ziel, sondern auch von den Erlebnissen überraschen zu lassen, hatte ich nichts vorbereitet, null, nada. Wie hieß das auf Italienisch? Niente?

Vielleicht erst mal zum Dom fahren. Er lag auf dem Weg zum Hotel. Mein Zimmer würde so früh noch nicht fertig sein. Sicher gab’s am Domplatz Frühstück.

Ich war gerade aus dem Schacht der Metro an die Oberfläche gekraxelt und versuchte, meine müden Augen an den Anblick zu gewöhnen, als mir eine Fernsehpassantenumfragerin ihr Mikrofon ins Gesicht hielt und einen Italienischschwall runterbolzte. Ich glaubte, wiederholt das Wort „saldi“ zu erkennen. Dann lief ich weg.

Am Dom zeigte sich wieder, dass auf Städtereisen zwei Regeln zu beherzigen sind. Niemals die beim Reiseportal Tripadvisor auf Platz eins geführte Sehenswürdigkeit besichtigen, weil die Touristenschlangen den Stress nicht wettmachen, und jegliche Kirchen, Tempel, Klöster generell meiden. Architekturkundige Reisende werden womöglich widersprechen, einem Banausen wie mir jedenfalls kommen religiöse Bauten immer ein bisschen wie Pornos vor: Ja, es gibt unterschiedliche Stilrichtungen, aber kennt man einen, kommt am Ende trotzdem nicht viel Überraschendes.

Das Koons-Hirst-Zeug macht sich super für Selfies

Spätestens beim Frühstück in der Panzerotti-Bäckerei Luini ließ sich eine weitere Reisewahrheit nicht länger ignorieren. Die Sonne schien, der Käse des Panzerottos rann warm die Speiseröhre hinunter, und es passierte, was auf jeder Reise passiert war, egal, wie übermüdet, unvorbereitet, genervt ich zu ihr aufgebrochen war: Sobald man ankam, wurde es gut.

Ich brachte mein Gepäck zur Unterkunft, dem „Biocity Hotel“ am Hauptbahnhof. Recht schön. Außen bunte Mailänder Altbaufassade, innen modern und ein bisschen hip. Das Zimmer, das Blookery für mich gebucht hatte, verfügte sogar über einen kleinen Balkon. Vielleicht lag es am Hotelzimmergefühl, dass auf Samtpfötchen Entspannung geschlichen kam. Ich hatte absolut nichts zu tun. Kein Restaurant zu besuchen, keine Bar, kein Konzert, kein Museum, kein Bauwerk. Niente. Da konnte man sich entspannen und mal schauen.

Am Nachmittag ging ich in die Fondazione Prada, ein Museum für moderne Kunst, das mir von Instagram vertraut war. Es wurde gleich klar, warum. Das mit Blattgold überzogene Empfangshaus, der futuristische Turm, sogar die mit ihren Metallgittern Richtung Fetischclub tendierenden Toiletten, sahen sehr instagramable aus. Das Koons-Hirst-Zeug macht sich supergut für Selfies.

Auf dem Rückweg kapierte ich die Fernsehumfrage. In Schaufenstern, auf Plakaten, Litfaßsäulen, Werbetafeln, überall stand „saldi“. 30 Prozent, 50 Prozent, 70 Prozent. An diesem Wochenende war Winterschlussverkauf.

Mehr Essen, mehr Sonne, Tiefenentspannung

Paradies für Shopper. Via Montenapoleone im Zentrum.
Paradies für Shopper. Via Montenapoleone im Zentrum.

© imago/Pacific Press Agency

Am nächsten Morgen erreichte ich früh den Corso Buenos Aires, eine Hauptstraße, die vom Bahnhof zum Dom führt. Mit 350 Läden und Outlets versammelt sie die meisten Kleidungsgeschäfte Europas. Der Wahnsinn war entsprechend. Vor einigen Läden hatten sich Schlangen gebildet. Manche Einkaufende zogen Rollkoffer hinter sich her. Je näher der Shopping-Strom dem Domplatz kam, desto zäher und breiter floss er, bis er sich schließlich, in zahlreiche Mündungsarme unterteilend, in die Kaufhäuser ergoss.

Ohne dass ich es geplant hatte, landete ich im achtstöckigen „La Rinascente“. Einwinker wedelten mich auf die Rolltreppe. Dem allgemeinen Vorwärtsdrang folgte ich in den zweiten Stock. Oder den dritten. Dann ging es nicht mehr.

Auf dem Boden lagen Levi’s-Gürtel, die sich nicht mehr aufheben ließen, weil ununterbrochen jemand darüber lief. Am zerfledderten Rabattständer der Marke Offwhite zerrten Teenager Hoodies mit Logoprint heraus und hielten sie vor die mageren Körper, ihrer Mutter optimistisch zunickend, während der Vater versuchte, den sich auf dem Arm windenden Familienmops zu beruhigen. Daher blieb das Drama der Tochter lange unbeachtet. Die schwarz-roten Balenciaga-Sneaker in ihrer Größe waren ausverkauft, und die Tränen dick und wütend. Von irgendwoher sangen die Pussycat Dolls. Mamma mia. „La Rinascente“, das KaDeWe Mailands, war am Saldi-Samstag auch nur der Primark in Gütersloh.

… das ist doch – Langeweile

In den folgenden Stunden passierte: nichts. Ich lief herum, mit dem einzigen Ziel, auf den Sonnenseiten der Straßen zu bleiben und allen Saldi-Erscheinungen fern. Ich aß Lasagne, trank Espresso, kaufte frische Pasta, trank Wein und aß Tiramisu. Am Abend ging ich in das kleine Restaurant gegenüber vom Hotel, in dem ich schon am Vortag gegessen hatte. Es war nicht mit schlechtem, sondern ohne Stil eingerichtet. Vor dem Fenster blinkten Lichterketten, drinnen bewegten sich die Ventilatoren an der Decke mit ähnlichem Enthusiasmus wie die Kellnerinnen. Man bekam hier sicher nicht die beste Pizza Mailands, aber sie schmeckte grundsolide. Und der Käse triefte. Zurück im Hotelzimmer bemerkte ich, dass ich dort mein Handy liegengelassen hatte, etwas, das mir zu Hause nie passiert wäre.

Sonntag: mehr Essen, mehr Sonne. Tiefenentspannung. So etwas wie… ja, ist das nicht… das ist doch – Langeweile. Angenehm.

Auf dem Weg zum Flughafen saß ich im Zug und dachte daran, dass diese Art des Reisens meinem Ideal von Kurzurlaub nahekam. Planlos irgendwohin, ohne Sehenswürdigkeitenzwang und Das-Bestmögliche-rausholen-Stress. Einfach mal schauen. Bisschen rumlaufen. Essen. Nichts tun.

Sicher, 400 Euro für zwei Übernachtungen und Flüge waren frech. Auf der Rechnung, die mir der Rezeptionist im Hotel gegeben hatte, standen 160 Euro; die Flüge begannen laut Eurowings-Website bei 150 Euro. Etwa 90 Euro also hatte Blookery einbehalten.

Egal. Das waren Rechnungen für Vergleichsportalnutzer. Für Kurztripangebotssucher, die so lange nach Angeboten suchen, bis sie entnervt aufgeben. Oft also auch: für Leute wie mich. An dem Wochenende in Mailand war dieser Ich-Teil angenehm weit weg, weil alles weit weg war und alles angenehm, und ich vollständig einverstanden mit der Welt.

Reisetipps für Mailand

Hinkommen

Von Berlin aus mit Easyjet, Ryanair oder Laudamotion nonstop ab 30 Euro fliegen.

Unterkommen

Unter blookery.de kann man sich wie unser Autor überraschen lassen. Oder bei wowtrip.travel und unplanned.de.

Florentin Schumacher

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