zum Hauptinhalt
Auf der Suche nach dem legendären Schatz. Bilbo Baggins in einer Szene des Kinofilms „Der Hobbit: Eine unerwartete Reise“.

© FOTO: WARNER BROS/DPA

Birmingham: Der Hort der Ringe

Heute vor 125 Jahren wurde J. R. R. Tolkien geboren. Aufgewachsen ist er in Birmingham – die Stadt inspirierte den Schriftsteller bei seinem Weltbestseller „Der Herr der Ringe“. Eine Spurensuche.

Guten Tag, Herr Tolkien, hätten Sie Zeit für ein Treffen?“ Den Bildhauer Tim Tolkien am Telefon beim Namen zu nennen, fühlt sich seltsam an. Er lacht. Natürlich weiß Tolkien gleich, worum es geht: Er ist der Großneffe des Schriftstellers J. R. R. Tolkien. Und weil dieser als Kind in der Nähe von Birmingham lebte, führt er diese Telefonate häufig. Er antwortet, noch lachend, dass er in ein paar Tagen Zeit habe.

Mit vier Jahren kam John Ronald Reuel Tolkien aus Südafrika nach Birmingham. Im Jahr 1896 zog seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder nach Sarehole, einen Weiler etwas außerhalb. Fast seine ganze Kindheit verbrachte Tolkien in der Gegend – bis er mit 19 zum Studieren nach Oxford zog, wo er später als Philologie-Professor „Der Hobbit“ und „Der Herr der Ringe“ schreiben sollte. Die Romane, in denen es um die Abenteuer der Hobbits, zwergenähnlicher Lebewesen geht, die im Land Mittelerde gegen den übermächtigen Sauron und seine Armeen bestehen müssen, prägen das Genre der Fantasy-Literatur bis heute.

Das Birmingham des frühen 20. Jahrhunderts, so vermuten Tolkien-Biografen, inspirierte viele der Orte Mittelerdes, jenes mythischen Kontinents, auf dem die Geschichte spielt. Und obwohl die Stadt sich radikal verändert hat, kann man diese Orte finden.

Es gibt Städte, die werden ein Mythos. Venedig, New York, ganz sicher Paris. Birmingham, die zweitgrößte Stadt Großbritanniens, gehört nicht dazu. Gleich hinter den Taxiständen am Bahnhof versperrt eine Betonlandschaft den Blick. Weil viele der Gebäude seit den 1970er Jahren hier stehen, haben sie eine speckige Patina. „Forward“ – vorwärts – ist das Motto Birminghams.

Einer der Lieblingsplätze des jungen Tolkien

Doch obwohl das hier so gar nicht als Inspirationsquelle für einen Jahrhundertroman zu taugen scheint, gibt es Orte, an denen man Mittelerde näher ist als den West Midlands. Sarehole Mill im Südosten der Stadt ist so einer. Von der Straße aus ist die Mühle nur schwer zu sehen. Lediglich ein Band aus Kopfsteinpflaster deutet darauf hin, dass, wer hier links durch ein Holzgatter zwischen den hohen Hecken tritt, in eine andere Zeit geht. Ein Plakat am Gatter weist Sarehole Mill als „einen der Lieblingsplätze des jungen Tolkien“ aus. Die Mühle liegt an einem Teich, auf dem in grüner Grütze Enten ihre Kreise drehen.

Bevor Tim Tolkien Zeit hat, sind wir hier mit Bob Hawtin verabredet. Er trägt ein Hemd aus grobem Stoff, ein bisschen sieht er damit aus wie ein Hobbit. Hawtin ist der Organisator des „Middle Earth Weekends“, eines Festivals, das jedes Jahr tausende Fans anzieht. Für drei Tage bevölkern dann Zwerge und Elfen, Reiter von Rohan und Hobbits das Feld hinter der Mühle. Eine Fahne am Teich weist darauf hin, dass hier Tolkien-Fans in Ork-Schminke die Kinder erschreckten. Auf ihr prangt ein flammendes Auge, das Zeichen Saurons, des großen Feindes von Mittelerde.

Die Wurzeln von Mittelerde

Verknotet in Birmingham. Wachsen hier neue Ideen für Mittelerde-Epigonen in die Höhe?
Verknotet in Birmingham. Wachsen hier neue Ideen für Mittelerde-Epigonen in die Höhe?

© J. Laubmeier

Bob Hawtin ist fest davon überzeugt, dass Tolkiens Romane bei der Mühle ihren Ursprung hatten. Schließlich schrieb Tolkien im Jahr 1955 in einem Brief an seinen Verleger, dass er die Hobbits an die Bewohner eines Weilers, in dem er als Kind lebte, angelehnt hatte: „Es war eine Art verlorenes Paradies. Es gab da eine alte Mühle, in der zwei Müller wirklich Korn mahlten, einen großen Teich mit Schwänen, ein paar alte Dorfhäuser und, weiter weg, einen Bach“, beschrieb der Autor seine Kindheitserinnerungen.

Heute ist Sarehole ein Ortsteil Birminghams. Im zweiten Stock der Mühle wird auf wenigen Tafeln Tolkiens Leben in Birmingham beschrieben, jemand hat den Eingang zu einer Hobbithöhle an die Wand gemalt. Draußen steckt ein Schild in einem Beet. „Sams Garten“ steht darauf, eine Anspielung an Sam Gamgee, einen der Helden aus „Der Herr der Ringe“, der eine besondere Leidenschaft für „Tüften“, Kartoffeln, hat. Die Mühle, so groß wie das Museum einer Kleinstadt, ist die einzige Tolkien-Ausstellung in Birmingham. Bob Hawtin findet das zu wenig. Vor einigen Jahren hat er einen Plan für ein Tolkien-Zentrum an die Stadtverwaltung von Birmingham geschickt. Konkrete Pläne, es zu bauen, gibt es bis heute nicht. „Ein bisschen schäme ich mich dafür, dass wir hier nichts aus Tolkien machen“, sagt er.

Das liegt vielleicht an der starken Konkurrenz: William Shakespeare wurde nur 20 Meilen östlich von Birmingham, in Straford-upon-Avon, geboren. Heute kommen jedes Jahr Millionen von Menschen in dieses Freilichtmuseum des elisabethanischen Theaters. Auch von Birmingham fahren jeden Tag Busse nach Stratford, auf ihren Seiten das Gesicht Shakespeares. Für Tolkien gibt es ein kleines Booklet, das die verschiedenen Stationen seines Lebens in der Stadt zeigt.

Da stehen zwei Türme

Bob Hawtin empfiehlt das Buch „Die Wurzeln Mittelerdes“ von Robert Blackham. Blackham sei ein richtiger „Scholar“, ein Gelehrter. Mit dem müsse man unbedingt reden!

Auf dem Weg aus der Mühle zeigt er auf zwei metallene Turmmodelle im Hof. Tim Tolkien habe sie gemacht, sagt er. Und natürlich haben sie mit J. R. R. zu tun, schließlich heißt der zweite Band seines großen Romans „Die Zwei Türme“. Hawtin sieht auch hier eine Verbindung zu Birmingham. Denn die zwei Türme gibt es wirklich. Laut Hawtin stehen sie im Westteil der Stadt.

Die Originale ragen in der Nähe eines Wasserreservoirs in Edgbaston in den Himmel. „Perrot’s Folly“, Perrots Unsinn, heißt der eine. Ein wohlhabender Bürger hat den runden Ziegelturm im Jahr 1758 bauen lassen, warum, weiß niemand. Der zweite Turm ist der Schornstein des Wasserwerks. Italienischer Stil, Deko für das frühere Arbeiterviertel. Hier lebte Tolkien sechs Jahre lang. Heute lassen die Wohnblocks die Türme klein erscheinen, für den 13-Jährigen müssen sie überragend gewirkt haben. In seinem Werk tauchen die Türme als Bastionen der Zauberer auf. Saruman lebt in einem, Orthanc, und plant von dort aus eine Invasion Mittelerdes. Im anderen, Barad-Dur, wohnt Sauron selbst, einstiger Herrscher über Mittelerde.

Ein paar Tage später, wieder bei der Mühle, wartet Bob Blackham, der Tolkien-Gelehrte. Blackham, mit schwarzer Weste und Taschenuhr, nimmt einen hellen Strohhut von der Hutablage seines Kleinwagens und holt seinen Gehstock aus dem Kofferraum. Der 71-Jährige raucht, und wenn es nicht Embassy-Zigaretten wären, die er sich alle Viertelstunde ansteckt, sondern eine Pfeife, wäre man sofort in Mittelerde. Früher war Blackham Turbinenmechaniker, seit seiner Pensionierung schreibt er Bücher über Tolkien, drei sind es bisher. Vorbei an Tolkiens Elternhaus geht er in Richtung einer hohen Baumfront, die hinter geduckten Sozialwohnungen aufragt. Mitten im Wohngebiet verdrängt hier der Moseley Bog, ein Naturschutzgebiet, die Stadt.

Ein Nachfahre mit Pferdeschwanz

Die Mühle bei Sarehole soll Tolkien inspiriert haben und ist heute ein Museum.
Die Mühle bei Sarehole soll Tolkien inspiriert haben und ist heute ein Museum.

© J. Laubmeier

Der Wald gilt als Inspiration für die Wälder Mittelerdes. Die Bäume, Knoten wie Augen, scheinen lebendig zu sein. Sie erinnern an die Ents, jene Baumwesen, von denen Tolkien schreibt, sie seien die Hüter der Bäume im Fangorn-Wald. Immer wieder liegen große Äste auf dem Weg, über die man steigen muss. Blackham zeigt auf einen und grinst. Mit einem Messer hat jemand das Auge Saurons in einen Holzblock geschnitten. „Schade, dass nicht mehr Leute von diesem Ort wissen“, sagt Blackham. Dann zögert er. „Aber wenn hier tausend Menschen rumtrampeln würden …“ Er zündet sich eine weitere Zigarette an.

Eine Fahrt mit dem Meister

Am nächsten Tag hat Tim Tolkien Zeit. Im Zug geht es raus aus Birmingham. Im Nordwesten der Stadt erstreckt sich das Black Country, ein ehemaliges Bergbaugebiet. Schon im 17. Jahrhundert brannten dort die Schmelzöfen, beförderten Bergarbeiter Kohle und Eisenerz an die Erdoberfläche. Bis ins späte 20. Jahrhundert war Birmingham eines der Herzen der Industrialisierung. Die Produkte des Black Country waren der Brennstoff für Birminghams Industrie.

Am Bahnhof in Craigley Heath wartet, mit langem Pferdeschwanz und Dreitagebart, Tim Tolkien. Er baut Skulpturen, die das Erbe der West Midlands feiern. „Ich glorifiziere berühmte Söhne“, sagt er. Auch Aufträge für Skulpturen über seinen Großonkel bekommt der Bildhauer immer wieder. In seinem Kombi fährt Tolkien durch das ehemalige Bergbaugebiet. Oft bleibt er stehen, erzählt, wie das Land früher aussah. Erzählt von der Grundschule, die absackte, weil drunter eine Mine war, und vom Anker der Titanic, der im Black Country hergestellt wurde. „Das war hier eine Jauchegrube voller Wunden, die Kohle ausspuckten“, sagt er.

J. R. R. Tolkien war ein Gegner der Industrialisierung: Mit industriell gefertigten Waffen und den künstlich gezüchteten Orks will Sauron Mittelerde überrennen. Die Geschichte Mittelerdes ist, wie die Geschichte Birminghams, die Geschichte einer industriellen Revolution.

Der Himmel reißt auf. In der Sonne erinnert das schwarze Land mit den Bergarbeiterhütten heute eher an das idyllische Auenland als an Saurons Orkfabrik.

Wie kommt es, dass Birmingham kaum etwas aus dem Erbe J. R. R. Tolkiens macht? Die Rechte für Tolkiens Werk liegen bei verschiedenen Organisationen, sein Name ist eine Marke. Tolkien selbst hat viele dieser Verbindungen nie bestätigt, und man wagt es offenbar nicht, das posthum zu tun.

Vielleicht liegt es auch an der Geschichte: Der Mythos Birminghams zu Zeiten der Industrialisierung, er war Kohle und Stahl. Die Stadt passte sich dann wirtschaftlich an und verlor ihr Gesicht.

Bye, Birmingham. Über dem Eingang des Bahnhofs schreit ein Bildschirm Werbung ins Betongebirge. Er hat die Form eines riesigen Auges.

Zur Startseite