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Egon Krenz bei der Präsentation seines Buches „Wir und die Russen“

© AFP/Tobias Schwarz

Besuch beim Ex-DDR-Staatschef Egon Krenz: „Noch vier Wochen vorher applaudierten sie mir“

Egon Krenz guckt „Gundermann“ und geht zu Gauweilers Geburtstag. 30 Jahre nach der Wende kämpft der Ex-DDR-Staatschef um seinen Blick auf die Geschichte.

Von Barbara Nolte

Die erste Nachricht von Egon Krenz war kurz und rätselhaft: „Ich melde mich, sofern ich wieder zu Hause bin“, schrieb er im vergangenen Sommer. Saß er irgendwo fest? Tags darauf kam die Auflösung: Er sei mit seinem Buch „China – wie ich es sehe“ auf Lesereise gewesen, die er bald fortsetze. Deshalb müsse er die Interviewanfrage absagen.

Seltsamerweise war nirgends im Internet eine Veranstaltung mit ihm zu finden. Die Parallelgesellschaft, die Frank Schirrmacher in den 90ern beschrieb, als er eine Lesung von Krenz auf Rügen besuchte und sich in einer „wie in Bernstein“ konservierten DDR wiederfand, scheint es noch immer zu geben – unauffindbar für Google.

Wenige Tage vor Weihnachten, nach einer neuen Anfrage, hatte man ihn dann am Telefon. Klangvolle Stimme, verbindlicher Ton. Immer noch keine Zeit. Er saß schon am nächsten Buch, diesmal über die Sowjetunion. Ohnehin habe er von Interviews Abstand genommen, erklärte er, da er in der Regel verzerrt wiedergegeben werde. Vage stellte er schließlich doch ein Treffen in Aussicht, im Frühjahr, das dann bereits fast verstrichen war, als tatsächlich im Mail-Fach ein Terminvorschlag von ihm eintraf: An einem Mittwoch um zwölf Uhr bei ihm zu Hause in Dierhagen. „Bitte nicht früher!“ Was er am Vormittag wohl vorhatte?

Da wartet er dann bereits vor seinem kleinen, reetgedeckten Haus gleich hinter dem Ostsee-Deich. Jeans, blauer V-Ausschnittpulli. Sehr rüstig. Das typische breite Lachen wie auf den alten DDR-Fotos, das man als Zeichen von robuster guter Laune gedeutet hatte. Der gebräunte Teint, der ihn früher aus den grauen Herren des Politbüros herausstechen ließ, als habe er Verwandtschaft im Süden.

Krenz bittet auf seine Terrasse, die mit Milchglasscheiben umrahmt ist. Ein Windschutz. Eine holzige Hecke trennt seinen Garten vom Deich, über den ein viel befahrener Radweg führt. Er schottet sich nicht ab. Hin und wieder hat er sogar Journalisten hierher eingeladen. Sein Haus mit den Spitzengardinen und den 36 Quadratmetern Grundfläche eignet sich gut, um materielle Bescheidenheit auszustellen. Krenz hat eine Thermoskanne Kaffee gekocht. Schnell läuft er nach drinnen und kommt mit einer kleinen Flasche Kondensmilch zurück. Dann setzt er sich und legt einen Papierstapel vor sich auf den Tisch.

Herr Krenz, Sie nannten sich vor vier Jahren in einem Gesprächsband das letzte Relikt aus der DDR. Sehen Sie sich immer noch so?
Das war nicht ganz ernst gemeint. Ich fühle mich nicht so sehr als Gestriger, sondern eher als ewig Morgiger. Das mag in meinem Alter komisch klingen. Ich habe den Wunsch, dass Zeithistoriker endlich die DDR analysieren, statt sie nur zu verdammen.

Gibt es denn DDR-Relikte, mit denen Sie sich umgeben: Rotkäppchen-Sekt oder ...
… was ist an Rotkäppchen-Sekt ein „Relikt“? Die DDR-Marke ist heute Marktführer auf dem deutschen Sektmarkt. Ich möchte allerdings nicht, dass die DDR auf Sekt und Würstchen reduziert und den Ostdeutschen dann noch ganz undifferenziert Ostalgie vorgeworfen wird.

Sie sind jetzt 82 Jahre alt. Wie sieht Ihr Rentnerleben aus?
Rentner? Mein Arbeitstag ist oft anstrengender als zu DDR-Zeiten. Ich bin viel unterwegs, schreibe Bücher oder nehme Einladungen zu Vorträgen und anderen Treffen wahr. Früher hatte ich Referenten, die mir zuarbeiteten, jetzt recherchiere und schreibe ich alles selbst. Und nebenbei führe ich auch noch einen Haushalt. Meine Frau Erika ist, wie Sie vielleicht wissen, vor über zwei Jahren gestorben. Sie war auch meine beste Kritikerin.

Stellen Sie sich manchmal vor, wie die DDR heute aussehen würde, wenn sie überlebt hätte? Ein High-Tech-Land mit Hochhäusern und leuchtenden Werbetafeln wie in Shanghai – würde Ihnen das gefallen?
Für mich sind leuchtende Werbetafeln nicht Belege für Fortschritt. Fortschritt ist, weil Sie auf China anspielen, dass dort hunderte Millionen Menschen aus der Armut geholt wurden.

Höhepunkt Ihrer Amtszeit war der Mauerfall, der sich im Herbst zum 30. Mal jährt ...
Die Mauer fiel erst später. Am 9. November 1989 wurden Grenzübergänge sowohl an der Staatsgrenze zwischen der DDR und der BRD wie auch die in Berlin geöffnet. Damals nur von Ost nach West.

Schon klar.
„Mauerfall“ oder „Sturm auf die Mauer“ sind ideologische Begriffe, die erst später entstanden. Als mich beispielsweise Helmut Kohl am 11. November anrief, gratulierte er mir zur Öffnung der Grenze. Gorbatschow sprach von einer Grenzöffnung auf Beschluss der DDR-Regierung.

Egon Krenz zieht ein Blatt aus dem Papierstapel: der erste Beweis. Absender ist Gorbatschow, Adressat Kohl. „Wie Ihnen bekannt ist“, steht da, „hat die Führung der DDR einen Beschluss gefasst, der den Bürgern dieses Landes die Möglichkeit der freien Ausreise über die Grenzen zur BRD und zu Berlin-West ermöglicht.“ Kaum hat man fertig gelesen, drückt Krenz einem das nächste Papier in die Hand: ein Telegramm von George Bush, dem älteren.

Krenz’ freundliche, gleichwohl sture Gesprächsführung hat etwas von einem Privat-Vortrag. Das ist nicht uninteressant. Wann hat man schon mal ein Staatstelegramm in der Hand? Dabei erzählt er mit theatralischem Talent, macht Kunstpausen, mischt Pathos bei. Man merkt, dass er nach der Wende hauptsächlich als Autor und Vortragsredner gearbeitet hat. Seine Stimme wird oft so laut, dass die Ausflügler oben auf dem Deich mit zuhören könnten, wenn sie nur wüssten, wer unten wohnt. „Am Abend des 9. November“, sagt er, „ist niemand von der Ostseite her mit Handwerkszeug an die Mauer gegangen, um sie einzureißen!“

Dass die DDR-Führung die Öffnung ihrer Grenzen beschlossen hatte, bestreitet doch keiner. Was mitunter geschrieben wird, ist, dass Günter Schabowski, der den Beschluss verlas, ihn eigenmächtig um einen Tag vordatierte.

Schabowski hat damals irrtümlich erklärt, diese Regelung gelte ab sofort. Aus seiner Verwirrtheit erwuchs nachfolgend Chaos an den Grenzübergängen. Unsere Grenzer, die hohes Verantwortungsbewusstsein gezeigt haben,wurden davon so überrascht wie die Vier Mächte. Das Vierseitige Abkommen über Berlin von 1971galt unverändert. Um den Status der Stadt zu ändern, bedurfte es der gemeinsamen Zustimmung Moskaus, Washingtons, Londons und Paris. Diese hatte dort aber niemand von uns eingeholt. Entsprechend harsch waren auch die ersten Reaktionen.  Der Außenminister der UdSSR Schewardnadse spricht in seinen Erinnerungen davon, dass sogar die Gefahr bestand, dass an diesem Abend der Frieden in der Welthätte sterben können. Die Gefahr war real.

Sie haben einmal geschrieben, dass im Jahr 1989 auf einmal im Politbüro Honecker widersprochen wurde, was vorher unüblich gewesen sei. Waren Ihre Kollegen und Sie zu affirmativ?
Als gewählter erster Mann hatte er, wie man sagt, Richtlinienkompetenz. Ich habe zu lange gewartet, um eine Änderung herbeizuführen. Erich Honecker, dem ich durchaus freundschaftlich zugetan war, und er mochte mich wohl auch, hatte ein Problem, das wohl viele Menschen im Alter haben. Sie merken nicht, dass sie den Herausforderungen nicht mehr gewachsen sind. In den frühen 80ern erlebten Honecker und ich in Moskau den todkranken Tschernenko, wie ihm bei der Rede die Blätter aus der Hand glitten, und die Politbüromitglieder um ihn herum, auch nicht viel jünger, sammelten sie vom Boden auf. Da beugte sich Honecker zu mir und meinte, ich solle, wenn es bei ihm einmal so weit sein sollte, dies unbedingt verhindern. Das vergaß er ziemlich bald. Das Prinzip Richtlinienkompetenz gibt es auch in der Bundesrepublik.

Angela Merkel wird doch ständig angegriffen, sogar von Parteifreunden.
Was heutzutage Politiker aushalten müssen, ist barbarisch. Auch wenn Sie es vielleicht nicht glauben: Ich habe sogar Mitleid mit ihnen und bin froh, dass ich Rentner bin. Das Klima ist rau, der Umgang brutal, in den eigenen Parteien und über Parteigrenzen hinweg. Das war nicht immer so. Ich habe hier einen handschriftlichen Brief von Gerhard Schröder aus dem Jahr 1987, in dem er mir gratulierte. „Lieber Egon, man wird nicht alle Tage 50“, schrieb er nach seinem Besuch in Berlin. „Besonders war ich von Erich Honecker beeindruckt.“

Diplomatie. Das haben Sie sicher damals auch nicht besonders ernst genommen.
Warum nicht? Er war nicht der einzige Politiker des Westens, der von Honecker beeindruckt war. Honecker war zu Staatsbesuchen von Japan über Schweden bis nach Frankreich. Meinen Sie, die dortigen Regierungschefs hätten einen kommunistischen Despoten eingeladen? Nach dem Treffen zwischen Honecker und Strauß meinte dessen Gattin: Was für ein Mannsbild, dieser Honecker! Schade nur, dass der Kommunist ist. Hätte Kohl auch nur geahnt, dass die DDR 1989/90 verschwindet, er hätte mit Sicherheit Honecker nicht noch 1987 zum Staatsbesuch in die BRD eingeladen.

„Honeckers Vita beeindruckte“

Erinnern Sie sich an den Moment, an dem Sie realisierten, dass es mit der DDR zu Ende gehen würde? War es die Nacht des Mauerfalls?
Nein, auch weil mir Gorbatschow bei meinem Antrittsbesuch in Moskau in der Woche zuvor andere Zusagen gemacht hatte. Ich hatte ihn an die Verantwortung der Sowjetunion erinnert, schließlich war die DDR ein Kind der UdSSR. „Michail Sergejewitsch, sag’ mir bitte: Steht ihr zu eurer Vaterschaft?“ Erst tat er so, als habe er mich nicht verstanden, dann antwortete er mit fast vorwurfsvollem Unterton: „Egon, wie kannst du nur so was denken! Nach den Völkern der Sowjetunion ist uns das Volk der Deutschen Demokratischen Republik das liebste.“ Er und seine Leute hätten unter anderem mit Bush, Mitterrand, Thatcher, Andreotti und vielen anderen Staatsmännern gesprochen, und alle hätten versichert: Sie könnten sich ein Europa ohne DDR nicht vorstellen. Das war am 1. November 1989!

Ein Paketzusteller, der am Gartentor steht, unterbricht die Geschichtsstunde. „Moment!“ Krenz läuft schnell hin. „Sogar zwei Päckchen!“, sagt er lachend. Der Mann ist landestypisch wortkarg, Krenz leutselig. „Sie wollen sicherlich eine Unterschrift haben!“ Nicken. „Kommen Sie aus der Gegend?“, fragt Krenz. Der Mann nickt lächelnd, ein bisschen verwundert über das persönliche Interesse an ihm.

Herr Krenz, Sie haben in Ihrer kurzen Amtszeit erlebt, wie einem Macht zwischen den Fingern zerrinnen kann. Fiel Ihnen das auf? Sie haben es selber so dargestellt, dass Sie sich bemühten, etwas zu verändern, und immer einen Schritt zu spät dran waren.
Als Honecker noch im Amt war, hatte ich nicht den Eindruck, dass es irgendwo in den Apparaten der Partei eine Opposition gegeben hätte. Niemand außer mir hatte die Initiative ergriffen, Honecker abzulösen. Und dann war er weg, und plötzlich wussten viele alles besser.

Hatte Honecker aus der Nähe Charisma?
Was heißt Charisma? Honeckers Vita beeindruckte. Er hatte bei den Nazis zehn Jahre im Zuchthaus gesessen – für seine Gesinnung. Und ich bekenne neidvoll: Honecker kannte sich in der Geschichte bestens aus. Er hat vermutlich im Gefängnis sehr viel gelesen, die Bücher, die es dort noch gab: bürgerliche Literatur über Kaiser- und Königshäuser, preußische Geschichte, deutsche Klassik ...

… Goethe und Schiller?
Ja, aber auch Lessing, Herder, Heine. Er verwendete oft Zitate, die er auswendig gelernt hatte.

Goethe war bürgerlicher Herkunft, er bekleidete eine Funktion in einem aristokratischen System …
Ja, und? Er war ein Kind seiner Zeit. Haben Sie damit ein Problem?

Dass in der DDR, wo Klassenzugehörigkeit wichtig und der Kunstbegriff eingeschränkt war, ausgerechnet Goethe …
... wissen Sie, wohlhabend zu sein bedeutet ja nicht zwingend, einfältig und reaktionär zu sein. Für Walter Ulbricht war Fausts Schlussmonolog im fünften Akt mit der Vision „auf freiem Grund mit freiem Volke stehn“ die geschichtsprophetische Begründung für die DDR. Die letzten Worte von Faust, das sage ich bescheiden, kannte auch ich auswendig. Werke der Klassiker waren bei uns Pflichtliteratur in den Schulen. Viele reden heute über die DDR, ohne sie zu kennen.

Aber ich rede ja über Goethe.
Ich auch. Die DDR-Oberschülerin Sahra Wagenknecht hat den „Faust“ auswendig gelernt. Wohl kaum als Widerstand gegen die DDR. Glauben Sie mir: Uns musste man 1990 nicht Kultur beibringen. Neulich blätterte ich in einem Wartezimmer in einem der dort ausliegenden bunten Blätter. Darin stellte man die zehn schönsten Badeorte an der Ostsee vor. Nicht einer befand sich im Osten. Kein Usedom, kein Rügen, kein Darß. Ich rief den Verleger an, den ich kenne …

… war’s die „Super-Illu“?
Nein, sage ich nicht. Der Verleger meinte, das sei keine Absicht gewesen. Der, der das geschrieben hat, sei sicherlich noch nicht im Osten gewesen.

FKK und Udo Lindenberg

Erstaunlich. Aus Berlin fahren Zehntausende Westler wie Ostler an mecklenburgische Ostseestrände.
So erstaunlich ist das nicht. Noch ein Beispiel: Wir sind hier in der Nähe von Prerow, in der DDR war das eine Hochburg der Freikörperkultur. Da behauptete doch tatsächlich mal jemand: Ihr musstet in der DDR nackt baden, ihr hattet nicht genug Textilien für die Badehosen! So primitiv sind manchmal die Auseinandersetzungen mit der DDR.

Das war bestimmt als Witz gemeint.
Sie haben immer eine Entschuldigung. Aber manche Ex-DDR-Bürger sind auch an diesem Punkt empfindsam. Es sind oft Witze auf ihre Kosten, über die können sie nicht lachen.

Können Sie das Faible der ehemaligen DDR-Politiker für Udo Lindenberg erklären, der sich doch in seinem Lied, „Sonderzug nach Pankow“ über sie lustig gemacht hat?
Honecker hat das Lied nicht so empfunden wie Sie. Lindenberg war doch – und ist es noch – ein intelligenter Zeitgenosse, der auch eine wichtige Rolle im Kampf für Frieden und Abrüstung gespielt hat. Honecker, der in seiner Jugend im Saarland in einem Schalmeien-Orchester gespielte hatte, schickte ihm sein Lieblingsinstrument, und Lindenberg revanchierte sich mit einer Lederjacke. Dass es dann nicht mehr zu einer DDR-Tournee kam, bedaure ich heute.

Foto aus den 80ern von Udo Lindenberg (rechts) und Egon Krenz (links) mit aufmunternder Widmung: "Egon, keine Panic".
Foto aus den 80ern von Udo Lindenberg (links) und Egon Krenz (rechts) mit aufmunternder Widmung: "Egon, keine Panic".

© privat

Welcher bundesdeutsche Spielfilm über die DDR gefällt Ihnen am besten: „Sonnenallee“, „Good Bye, Lenin!“ oder „Das Leben der Anderen“, der den Oscar gewann?
Die DDR so negativ wie möglich darzustellen, ist heute fast eine Garantie dafür, einen Preis zu bekommen.

Haben Sie diese Filme gesehen?
Natürlich. Wobei ich durchaus einräume, dass es zunehmend auch differenziertere Darstellungen gibt, etwa „Gundermann“ von Andreas Dresen. Selbst wenn die in diesem Film gezeigten Funktionäre durchgängig als gefährliche Trottel erscheinen – ganz ohne Klischees geht's eben noch immer nicht – hat mir der Film sehr gefallen. Ich habe ihn mir in Rostock angeschaut, in meiner Heimatstadt Ribnitz-Damgarten sind mit der DDR auch das Kino und andere Kultureinrichtungen verschwunden.

Wem haben Sie bei der Europawahl Ihre Stimme gegeben?
Ich werde Ihnen sagen, wen ich nicht gewählt habe: Die AfD! Sie ist nämlich nicht wählbar. Auch die CDU, die SPD, die Grünen und die FDP habe ich nicht gewählt. Jetzt können Sie es sich aussuchen: Es handelt sich um die einzige Partei im Bundestag, die zumindest in ihrer Mehrheit eine Friedenspartei und gegen Kriegseinsätze ist. Ich wähle die Linke, auch wenn mich die PDS 1990 ausgeschlossen hat.

Sie haben mal gesagt, dass Sie es schlimmer fanden, aus der PDS ausgeschlossen worden zu sein als ins Gefängnis zu müssen.
Die, die mich ins Gefängnis geschickt haben, waren keine Freunde von mir. Da waren doch die Verhältnisse klar. Aber die, die mich aus der Partei ausgeschlossen haben, waren vorher meine Genossen. Noch vier Wochen zuvor applaudierten sie mir. Da war sehr viel Heuchelei und Kalkül im Spiel. Die damals daran beteiligt waren, reden ungern darüber. Sie denken, ich wüsste über ihre Machenschaften nicht Bescheid. Ich vergesse so schnell nichts, aber kleinbürgerliches Nachtreten ist mir fremd.

Haben Sie mit denen noch Kontakt?
Wie gesagt: Ich bin nicht nachtragend.

„Ich habe viel niedergeschrieben“

Sie waren damals 52 Jahre alt und plötzlich Privatier. Wie kamen Sie mit der Umstellung zurecht?
Mit innerer Disziplin. Ich bin nach wie vor früh aufgestanden, gelaufen und habe einen festen Tagesplan gehabt. Ich habe viel niedergeschrieben.

Aber Sie waren nie wieder fest angestellt.
Doch, später bei der Fluggesellschaft Germania.

Eine Gefälligkeit des damaligen Chefs der Fluggesellschaft, oder?
Um Freigänger zu werden, brauchte ich eine Festanstellung. Ein Ostdeutscher wollte mich in seiner neu gegründeten Firma anstellen, konnte mir aber nur ein symbolisches Gehalt bezahlen. Ich erinnere mich an den selbstgerechten Gefängnisdirektor von Hakenfelde. Mit einem Umfang, wie ich ihn jetzt habe, saß er in seinem Sessel und sagte: „Herr Krenz, wir können doch nicht zulassen, dass der ehemalige Staatsratsvorsitzende der DDR nur 800 Mark verdient!“ Ich war dem Chef von Germania dankbar, dass er mir einen Job gab, um den Gefängnisboss umzustimmen. Ich übersetzte meist Texte ins Russische, was mir nicht leicht fiel, weil ich viele Begriffe aus dem Flugwesen schon im Deutschen nicht verstand. Ein Freund, Werner Eberlein, auch ein ehemaliges Politbüro-Mitglied, half mir. Er war in der Sowjetunion aufgewachsen und oft Dolmetscher von Ulbricht und Honecker, wenn diese sich mit den sowjetischen Parteichefs trafen.

Zurück ins Wendejahr. Damals sind DDR-Bürger in Scharen den Ku’damm rauf und runter gelaufen. Haben Sie das auch mal gemacht, oder haben Sie sich darüber geärgert, dass andere das taten?
Ich habe mich weder darüber geärgert, dass andere das taten, noch hielt ich es für wichtig für mich. Ein bisschen habe ich ja auch immer Rücksicht darauf genommen, dass ich für manche so etwas wie ein Aushängeschild der DDR war.

Die 90er waren für Sie sicher davon überschattet, dass Ihnen eine lange Gefängnisstrafe drohte.
Elfeinhalb Jahre hatte der Staatsanwalt beantragt. Bevor die Verhandlung begann, wurde mir ein Deal angeboten: Ich sollte mich so verhalten wie Schabowski oder Kleiber, die sich nicht gewehrt hatten. Aber da war ich mir mit meiner Frau einig: Selbst auf die Gefahr, dass ich elfeinhalb Jahre ins Gefängnis hätte gehen müssen, hätte ich mich nicht gebeugt. Wie hätten sie wohl über die DDR gesprochen, wenn ihr letzter Staatschef sich von ihr distanziert hätte? Zu Recht hätten sie das wohl charakterlos genannt.

Wie war Ihr Standpunkt?
Den habe ich wohl zur Genüge bewiesen: Ich habe am 3. November zusammen mit dem Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates, Generaloberst Fritz Streletz, einen Befehl erarbeitet, der die Anwendung von Schusswaffen auch im Grenzgebiet untersagte. Dieser Befehl galt auch am 9. November.

Sie waren wegen der Mauertoten angeklagt.
Jeder Tote an der Mauer war einer zu viel, keine Frage. Doch die DDR entschied nicht allein darüber, was an der Grenze passierte, sondern nur mit ihren Verbündeten. Diese Grenze war wie eine Frontlinie zwischen der NATO und den Ländern des Warschauer Vertrages. Egon Bahr, einer der bestinformierten Männer in der alten Bundesrepublik, bestätigte das vor Gericht.

Gorbatschow war ein Befürworter der Grenzanlagen in Berlin. Bei seinem Staatsbesuch 1986 hatten ihm seine Leute den Besuch der Grenztruppen zunächst aus dem Programm gestrichen, doch er wollte unbedingt diesen Termin wahrnehmen. Im Ehrenbuch am Brandenburger Tor würdigte er den „wahren Heldenmut“ der Soldaten, die „den ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden vor den Anschlägen des Klassenfeindes“ schützten. Die Preise waren nach 1990 sehr ungleich verteilt. Die einen wurden Ehrenbürger von Berlin, die anderen von der Liste getilgt – auch Landsleute Gorbatschows. Für die Rechtsgeschichte der Bundesrepublik sind die Prozesse gegen DDR-Amtsträger kein Ruhmesblatt. Die Bundesrepublik hat ihre eigene Regel – das uralte Rückwirkungsverbot – ändern müssen, um uns verfolgen zu können.

Der Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer hat mal gesagt: besser Moabit als Bautzen.
Knast ist nirgendwo ein Sanatorium. Wenn heute Leute berichten, wie unmenschlich es in DDR-Gefängnissen zuging, weil sie sich ausziehen mussten und ihnen in alle Körperöffnungen geschaut wurde – dann sage ich: Ja, das finde ich wirklich fürchterlich. Denn mir widerfuhr es auch. Es gibt keine Waffengleichheit in der Auseinandersetzung zwischen den beiden deutschen Staaten.

Wie meinen Sie das?
Das geht schon damit los, dass der Tag der deutschen Spaltung nicht der Mauerbau war, sondern jener Tag, an dem die Westdeutschen und die West-Berliner nach dem Krieg bei einer separaten Währungsreform andere Banknoten erhielten, als im Rest des Landes im Umlauf waren. Das war der erste Schritt zur Teilung. Dann fand die Gründung der Bundesrepublik statt, wir reagierten mit der Bildung der DDR. Die Bundesrepublik trat der NATO bei, im Osten wurde daraufhin der Warschauer Vertrag gebildet, die DDR trat bei. Kurzum: Die Bundesrepublik hat stets vorgelegt, und wir waren gezwungen nachzuziehen.

Wie erging es Ihnen in Haft?

Ich habe viel Solidarität von Mithäftlingen erlebt. Als ich beispielsweise in Moabit saß, reiste Bundespräsident Roman Herzog nach Russland. Er wollte vor der Duma reden, was die stärkste Fraktion im russischen Parlament an seine Zusage knüpfte, sich für die Freilassung von Egon Krenz einzusetzen. Er sagte, das gehe in einem Rechtsstaat nicht. Also musste er in einem Nebenraum reden. Die große Bühne blieb ihm versagt. Meinetwegen hätte er auch im großen Saal reden können, aber die Haltung der Russen war mir sympathisch. Den Vorgang hatte man auch im Gefängnis mitbekommen. Als ich zum Freigang geführt wurde, rief ein türkischer Mithäftling: “Krenz vertreibt Herzog aus dem Parlament!” Das war natürlich nicht meine Absicht gewesen, aber tat dennoch gut.

Nach knapp vier Jahren wurde Krenz kurz vor Weihnachten 2003 aus der Haft entlassen, vorzeitig, nur offenbar ohne Resozialisierungsziel. Zu einem „Aufruhr im Ostseebad“ sei es noch 2007 gekommen, schrieb der „Spiegel“, nachdem ihm Kinder aus der örtlichen Tagesstätte zum 70sten das Lied „Käfer, du gefällst mir sehr“ gesungen hatten.

Vielleicht verteidigt Krenz deshalb so reflexhaft die DDR, wie er die Bundesrepublik kritisiert. Stunde drei des Interviews ist angebrochen und der Papierstapel noch immer nicht abgearbeitet. Krenz spricht ausladend und besteht darauf, auch so wiedergegeben zu werden. Er ist sehr bestimmt, hier auf seiner Gartenbank: wie ein Staatsoberhaupt, dem nur der Staat abhandengekommen ist.

Doch die alte Gefolgschaft ist ihm erhalten geblieben. Er kriege so viel Post, dass er mit dem Zurückschreiben nicht hinterherkomme, erzählt Krenz. Dabei deutet er auf ein noch kleineres, spitzgiebeliges Häuschen, das hinter seinem Haus liegt: eine Garage, die er zum Arbeitszimmer umgebaut hat. Dort liege ein ganzer Berg Briefe, nicht nur aus dem Osten. In regem Austausch habe er beispielsweise mit dem „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher seit dem ersten Treffen auf Rügen gestanden. Der habe sich, sagt Krenz, sehr für die DDR-Geschichte interessiert. Zum 20-jährigen Mauerfall-Jubiläum schrieb Schirrmacher dann in der „FAZ“ eine ganze Seite darüber, wem der friedliche Verlauf der Wende mit zu verdanken sei: Egon Krenz. Manchmal nutzt es etwas, vehement auf Leute einzureden.

Aus dem westdeutschen Establishment standen Sie außerdem mit dem Kreml-Experten Wolfgang Leonhard in Kontakt, der mittlerweile verstorben ist.
Leonhard hatte nach dem Krieg ein Heftchen über den 1. Mai veröffentlicht, das mich als Kind begeisterte. Dann ging er in den Westen. Oft war ich sauer, wenn ich im Fernsehen sah, wie er sich nicht eben freundlich über uns oder die Sowjetunion ausließ. Dann aber kritisierte er, dass man die DDR-Funktionsträger juristisch nicht so behandeln dürfe, wie man es tat. Ich habe ihn später öfter an seinem Geburtstag angerufen, das Datum vergaß ich nie: Es war der 16. April, der Geburtstag von Ernst Thälmann. Wir haben dann entspannt miteinander gescherzt.

Wen rufen Sie zurzeit zum Geburtstag an?
Es sind schon einige Hundert Leute im Jahr. Ich werde Ihnen keine Namen nennen. Wenn Sie glauben, ich leide an Einsamkeit: Ich wohne hier zwar in aller Ruhe ...

… nein. Wenn stimmt, was man über Sie liest, leben Sie gut integriert in einer Parallelgesellschaft.
So nennt offenkundig der Westen den Osten: Parallelgesellschaft. Ich kann nur die Lektüre einer sächsischen Langzeitstudie von Leipziger Jugendforschern empfehlen, um sich ein Bild zu machen. Seit einem Vierteljahrhundert befragen sie Personen des Jahrgangs 1973. Mittlerweile glauben weniger als zehn Prozent der Befragten daran, dass das bundesdeutsche System die drängenden Probleme lösen wird. Der Kapitalismus ist nicht das letzte Wort der Geschichte. Bereits am 15. Juni 1991 habe ich erste Ergebnisse der Studie an Bundeskanzler Kohl geschickt, der mich 1989 ausdrücklich aufgefordert hatte, dass ich ihn, wenn ich ein Problem hätte, jederzeit anrufen könne. Ich habe damals Kohl davor gewarnt, dass sich die Vereinigung zum nationalen Problem entwickeln könne ähnlich wie die Nord-Süd-Spaltung in Italien. Ich habe ihm dazu vier Seiten geschrieben. Es erfolgte keinerlei Reaktion.

Es ist ein Unterschied, ob man Macht hat oder nicht.
Briefe kann man immer beantworten. Wie ich von vielen Menschen höre, bekommen sie von Politikern immer weniger Antwort auf ihre Fragen. Die Obrigkeit ist zum Teil kommunikationsunfähig. Die etablierten Parteien vertreten oft nicht die Interessen der Ostdeutschen, weil sie diese nicht kennen. Ich sehe manche Parallele zwischen 1989 und heute.

„Die Ostdeutschen waren bestens informiert“

Sie nannten bereits die Reisefreiheit. Die Meinungsfreiheit halten Sie für weniger wichtig?
Nein. Ich sehe da durchaus Defizite in der DDR. Oft wird aber vergessen: Die Ostdeutschen waren bestens informiert. Sie rezipierten DDR-Medien und gleichzeitig die elektronischen Medien der Bundesrepublik und West-Berlins. Und es gab trotz Einschränkungen Millionen Reisende von Ost nach West und umgekehrt, die auch Zeitungen und Nachrichten mit in die DDR brachten.

Umso sinnloser, dass die Medien in der DDR zensiert wurden.
Naja, eine direkte Zensurbehörde gab es in der DDR auch nicht. Es gab ein Instrument: die Schere im Kopf. Und da bin ich mir nicht ganz sicher, ob die nicht auch im Westen funktioniert. Der wirtschaftliche Druck ist möglicherweise noch größer als der ideologische. Letzterer ist nämlich nicht von existenzieller Bedeutung.

Sie veröffentlichen seit Jahren Bücher. Das wäre umgekehrt nicht vorstellbar.
Ich bestreite ja nicht, dass die Tatsache, unbehindert sagen und schreiben zu können, wonach es einen drängt, ein hohes Gut ist. Den Artikel 5 des Grundgesetzes sehe ich durchaus als Errungenschaft.

Ihr neues Buch „Wir und die Russen“ handelt vom Verhältnis zwischen Ost-Berlin und Moskau. Gibt es denn jetzt, 30 Jahre später, neue Erkenntnisse, die Ihr Bild verändert haben?
Vor ungefähr zwei Jahren sah ich eine Talkrunde, in der Kohls außenpolitischer Mitarbeiter Herr Teltschik sagte, er sei überrascht gewesen, dass ausgerechnet die sowjetische Seite empfohlen habe, Kohl solle sich mit mir nicht treffen, weil ich den Sonderparteitag nicht überstehen würde. Zu dem Zeitpunkt wusste ich selbst noch nicht, dass es einen Sonderparteitag geben würde. Ich habe kürzlich mit Herrn Teltschik telefoniert, und er sagte mir, dass die Empfehlung vom sowjetischen Botschafter in Bonn, Kwizinski, gestammt habe. Da wurde mir klar: Ich habe jemandem noch vertraut, der hinter unserem Rücken agiert hat.

Wann wurden Sie skeptisch?
Ende November 1989, als mir Gorbatschow eine Botschaft über seine Konzeption für sein Treffen mit US-Präsident Bush auf Malta schickte. Dort wollte er das Ende des Kalten Krieges erklären, was er dann auch tat, woraufhin sich Bush zum Sieger des Kalten Krieges erklärte – was eine Demütigung der Sowjetunion war. In dieser Zeit liegt der Schlüssel zu vielen Problemen, die wir heute haben.

Wie meinen Sie das?
Den USA war es immer nur wichtig, die sowjetischen Truppen aus dem Zentrum Europas zu verdrängen. Jetzt stehen deutsche Truppen wieder da, wo sie 1941 standen, als der deutsche Angriff auf die Sowjetunion begann: an der russischen Grenze. Und Frau Merkel sagt: Putin hat auf der Krim die Nachkriegsgrenzen verändert. Weiß sie denn nicht mehr, was sie mal in der DDR-Schule gelernt hat? Die Nachkriegsgrenzen, übrigens auf der schon damals russischen Krim in Jalta fixiert, gingen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer quer durch Europa, und diese Grenzen sind bereits nach 1990 verändert worden. Die Mauer in Berlin ist weg. Das ist gut so. Sie wurde nach Osten verlegt und besteht dort jetzt zwischen der NATO und Russland. Und das ist schlecht.

Ein Donnerstagabend im Juli. Krenz stellt im Russischen Haus der Wissenschaft und Kultur an der Friedrichstraße sein Buch vor. „Ich dachte, es wären nur ein paar Hanseln da, und jetzt das!“, sagt eine Frau belustigt, als sie sich umschaut. Sie hat Krenz vor einem halben Jahrhundert bei einem Pioniergeburtstag kennengelernt. „Ein sehr gönnerhafter Genosse“, sagt sie. Jetzt steht er nur wenige Meter entfernt: aufgekratzt, von Kameras umstellt, die ihn filmen, wie er Hände schüttelt, für Selfies posiert oder einem Mitarbeiter der russischen Botschaft zuraunt: „Es ist das Buch eines Freundes!“

Im Herbst ist Krenz’ kurze Amtszeit 30 Jahre her, da scheint sich das neue Deutschland plötzlich für ihn zu interessieren. Kürzlich war er bei Peter Gauweilers Geburtstag eingeladen – zusammen mit Uschi Glas, Uli Hoeneß und dem Prinzen von Bayern.

Doch auf der Bühne des Russischen Hauses gibt sich Krenz wenig entgegenkommend. Er zitiert Stalin mit „Die Hitler kommen und gehen, der deutsche Staat bleibt“ und polemisiert gegen den Westen: Während am 9. November „die Politiker in West-Berlin meinten, sie feierten ein Volksfest, mussten wir im Osten ganz schön rackern, damit die Sache vernünftig verläuft“. Schlussapplaus. Danach sind die Journalisten so schnell wieder weg, wie sie gekommen waren, und Krenz mit seinen weißhaarig gewordenen Kernanhängern allein. Eine lange Schlange zieht sich quer durchs Foyer bis zum Büchertisch, an dem Egon Krenz, gut gelaunt, die eigenen Werke signiert.

Herr Krenz, gibt es irgendetwas in der Bundesrepublik, was Sie gut finden?
Ich bin doch kein Ignorant. Es gibt vieles, was sich zum Positiven entwickelt hat: aufwendig restaurierte Innenstädte, die Reisen ins Ausland, neue Autobahnen und manches mehr. Es ist sicher wahr, dass es Deutschland gut geht. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass es auch allen Deutschen gut geht.

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