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Die Überfahrt von der Küste zur Insel ist ein Test für sensible Mägen.

© Michael Marek, Anja Steinbuch

Besuch auf Irlands berühmtester Geisterinsel: Raues Schreibklima

Meeresfahrten, Feste und bitterer Hunger: Die Geschichten der Bewohner von Great Blasket inspirierten zahllose irische Literaten. Heute wohnt niemand mehr hier.

Sie tragen rote Schwimmwesten, der Atlantik schaukelt. Nur mit einem schwarzen Schlauchboot erreichen die Besucher ihr Ziel: Das Beiboot der „Laird of Staffa“, in Dunquin an der irischen Westküste gestartet, wird von Skipper Kevin Wright gesteuert. Der Mittvierziger, Spitzname „Skelly“, tätowiert, hält Kurs auf das offene Meer. In der Ferne erscheint eine zerklüftete und baumlose, aber grüne Insel. Sie ist seit Jahrzehnten unbewohnt. Great Blasket gilt als die wohl berühmteste Geisterinsel Irlands, sie ist über fünf Kilometer lang und einen Kilometer breit. Nur 20 Minuten dauert die Überfahrt, doch es ist eine Zeitreise.

Mehrere Jahrhunderte lang fanden Menschen auf dem Eiland eine Heimat. Noch im 20. Jahrhundert lebten sie völlig unberührt von modernen Einflüssen: ohne Radio, Strom und ohne fließend Wasser, eine Insel, auf der es keine Läden und keine Handwerker gab, wo nur überleben konnte, wer geschickt in allen möglichen Arbeiten war. Immer von Stürmen gebeutelt und vom Hungertod bedroht.

Doch das ist Geschichte. Heute wohnt niemand mehr auf Great Blasket, nur die Grundmauern verlassener Höfe stehen noch. „Bewohnt waren die Inseln bis 1953“, erzählt Wright, „viele berühmte Schriftsteller kamen von den Blaskets.“ Und denkt an Künstler wie Tomás Ó Criomhthain, den jeder Ire als Schullektüre liest.

Die Insulaner haben beeindruckende Werke hinterlassen

Am Mini-Anleger von Great Blasket wird die Besuchergruppe ausgebootet. Wanderschuhe mit Profil sind hier ein Muss: Der Felsen ist nass von der Gischt, die Wiese weiter oben wellig und von Kaninchenbauten durchlöchert. Viermal schon, sagt Skelly, musste in diesem Jahr der Rettungshubschrauber vom Festland kommen und Knöchelverletzte von der Insel holen. Hinkend schafft es niemand zurück.

Vom Anleger geht es 50 Meter bergauf bis ins Dorf – ein Geisterort. Von einst 30 bewohnten Häusern sind fünf renoviert und weiß gestrichen. Zwei dienen als Gästehäuser, eines als Café, ein weiteres als Unterkunft für die Inselführer. Das berühmteste Haus wurde nach historischen Plänen wieder aufgebaut. Und alle Besucher wollen das als Erstes sehen.

Hier schrieb der Fischer, Bauer und Schriftsteller Ó Criomhthain (Englisch: Thomas O’Crohan) über das Inselleben. Das Mobiliar ist zwar Marke Nachbau, aber sein Roman „Die Boote fahren nicht mehr aus“ (erschienen 1929) gilt als bedeutendes Werk der irischen Literatur. Er wurde in zig Sprachen übersetzt, unter anderem ins Deutsche von Annemarie und Heinrich Böll. Der Literaturnobelpreisträger und Irland-Fan hatte auf dem Festland, gar nicht so weit weg, ein Ferienhaus, wo er lebte und arbeitete. Ob er jemals auf Great Blasket war, weiß niemand. Aber mit seinen kraftvollen, lebendigen Bildern war Ó Criomhthain für Böll eine authentische Stimme – ganz anders als das geschichtsvergessene und aufstrebende Nachkriegsdeutschland.

Tomás Ó Criomhthain ist nur einer, aber sicher der berühmteste jener Inseldichter, die über 40 Romane und Erzählungen hinterlassen haben. Weltrekord, denn kein anderer Ort auf diesem Planeten kann bezogen auf die Zahl seiner Einwohner eine derartige Buchproduktion vorweisen. Manche dieser Werke sind zu Klassikern der irischen Literatur geworden wie Maurice O’Sullivans „Das Meer ist voll der schönsten Dinge. Eine irische Lebensgeschichte“.

In den Ruinen sind die Geister der Vergangenheit noch lebendig

Heute ragen die verbliebenen Mauern der Blasket-Behausungen aus Feldsteinen und Mörtel trotzig-stolz in den blauen irischen Himmel. Der Blick von hier oben über grüne Hügel auf einen mehr als 200 Meter breiten Sandstrand mit Seehundkolonie und auf den dunkelblauen Atlantik hält jeden gefangen. 25 Familien wohnten hier 1916, 179 Menschen.

Muireann Ní Chearna, Enkelin einer der Bewohner, führt durch das verlassene Dorf. Sie arbeitet für das Blasket Centre gegenüber der Insel in Dunquin. In der Mitte des Dorfes bleibt sie vor einer Ruine stehen, das Haus ihrer Familie.

Great Blasket ist für sie nicht einfach Geschichte, die Insel ist Teil ihrer Familienbiografie: „Im Haus zünden wir immer ein Feuer an, wenn jemand aus unserer Familie gestorben ist.“ Die Wände mit den eingeritzten Namen und den Daten bezeugen das: Mícheál, Peaidí, Máirtin, Team, Muiris – alle heißen Ní Chearna (Englisch: O’Carney). Kürzlich war Muireann hier mit Verwandten aus den USA. Ihre großen braunen Augen füllen sich mit Tränen.

Auch Muireanns Familie blieb von Tragödien nicht verschont: So starb der Sohn der Urgroßeltern an Meningitis, denn niemand auf der Insel kannte die Krankheit oder konnte sie behandeln: „Mein Ur-Großvater hat immer gesagt: Nicht die Meningitis hat Seáinín umgebracht, sondern die Behörden, die ihn im Stich gelassen hatten.“ Der Großonkel wurde nur 24 Jahre alt, und sein Tod liegt schon 70 Jahre zurück, aber hier in der fensterlosen Ruine sind die Geister der Vergangenheit noch lebendig.

Die Hälfte der Familie emigrierte Anfang der 1950er Jahre nach Springfield im amerikanischen Bundesstaat Massachusetts. Links war die Feuerstelle, an der „meine Großmutter Gemüse und manchmal Fisch gekocht hat“, erklärt Muireann, darüber trockneten die Fischernetze und die Kleidung. „Gegenüber stand ein Sofa, auf dem auch geschlafen wurde. Im Nebenraum standen weitere Betten.“ Mehr gab es nicht.

„Menschen wie uns wird es nicht mehr geben“

Urgemütlich. Die grüne Insel Great Blasket ist seit Jahrzehnten unbewohnt. Die wenigen renovierten Häuser sind für Besucher bestimmt.
Urgemütlich. Die grüne Insel Great Blasket ist seit Jahrzehnten unbewohnt. Die wenigen renovierten Häuser sind für Besucher bestimmt.

© Michael Marek, Anja Steinbuch

Bis 1953 lebten ihre Vorfahren unter einfachsten Bedingungen. „Sie waren vom Festland total abgeschnitten. Wenn sie einen Arzt oder einen Priester brauchten, mussten sie ans Land rudern und kilometerweit in die nächste Stadt laufen“, erklärt die 29-Jährige. Doch sie schafften es, dem fruchtbaren Eiland genügend abzutrotzen, um zu überleben. Und mehr als das. Sie pflegten ihre Sprache und ihre Geschichten: von tollkühnen Meeresfahrten und Jagden, von Festen mit Spiel und Trunk, von Jubel und Trauer, von bitterem Hunger, wenn der Fischfang missglückte, von Saus und Braus, wenn der Wind das begehrte Strandgut eines verlorenen Schiffes an die Insel spülte. Sie sprachen ein reines Irisch. Und sie erzählten so gut, dass Gelehrte vom Festland kamen und sie anspornten, ihre Geschichte so aufzuschreiben, wie sie auch mündlich über ihre Inselwelt erzählen würden.

Tomás Ó Criomhthain musste dafür erst lernen, Irisch zu schreiben, denn seit Einführung der Schulpflicht 1830 war Englisch die Landessprache. Er nahm das Ende der Gemeinschaft voraus, als er prophezeite: „Ich habe mein Bestes getan, die Eigenart der Menschen festzuhalten, denn Menschen wie uns wird es nicht mehr geben.“

Die Abgeschiedenheit der Großen Blasket-Insel sorgte dafür, dass sich dort nicht nur die archaische Lebensweise, sondern auch die Traditionen länger hielten als anderswo in Irland. Hier wurde das schönste Irisch auf der grünen Insel gesprochen. Und es entstanden jene Werke, die zu Klassikern der irischen Literatur wurden.

1947 kam das letzte Kind der Insel zur Welt

Als im 20. Jahrhundert der Fortschritt auf dem Festland Einzug hielt, als Telefon und Radio, Krankenhäuser und Autos für immer mehr Menschen zur Selbstverständlichkeit wurden, schien Blasket von der Moderne abgeschnitten. Bis zum Ende gab es dort keine Elektrizität, nur Petroleumlampen und Kerzen spendeten Licht, Wärme kam vom Torffeuer im offenen Kamin.

Erst in den 1940er Jahren bekamen die Bewohner eine Telegrafie-Anbindung für Notfälle. So wie 1947, in dem Jahr, als das letzte Kind der Insel zur Welt kam: „Vom Sturm abgeschnitten – in Not – nichts mehr zu essen – schickt Lebensmittel - Blaskets.“ Die letzten 21 Bewohner verließen am 17. November 1953 die grünen Felsbrocken im Atlantik, die irischen Behörden hatten die Insel räumen lassen, wegen der unmenschlichen Lebensbedingungen, wie sie den Schritt begründeten.

Zehn Jahre zuvor hatte bereits der letzte Lehrer die Insel verlassen. Die Blasket Islander nahmen alles mit: Möbel, Hausrat, Werkzeuge, sogar Türen. Sie ließen ihre Häuser zurück und ihre Kultur. Viele zog es in Richtung der Vereinigten Staaten. Das 2000 Seemeilen entfernte Nordamerika lag ihnen näher als das irische Festland.

Im Blasket Centre wird an die Inselbewohner erinnert

Heute steht am höchsten Punkt, in der Mitte der Insel, die Ruine eines Leuchtturms. Rundherum liegen die Feldsteine, das Baumaterial der Insulaner. Wer hier umherspaziert, stolpert über die Reste eines Schriftzuges. Während des Zweiten Weltkriegs hatten Bewohner mit weißen Steinen in fünf Meter großen Lettern das Wort „Eire“ gelegt. Um den Bombern und Tieffliegern zu signalisieren, dass sie sich über einem neutralen Land befanden.

Inzwischen ist jede Menge Gras über die Geschichte der Blasket Islands gewachsen, vergessen ist sie jedoch nicht. Im Blasket Centre, dem Museum im kleinen Örtchen Dunquin, das genau gegenüber in Sichtweite der verlassenen Inseln liegt, wird eindrucksvoll an die Menschen und ihre Erzählungen erinnert.

Seekranke besuchen lieber das Blasket Center auf dem Festland.
Seekranke besuchen lieber das Blasket Center auf dem Festland.

© Michael Marek, Anja Steinbuch

Hier, am kurvenreichen Slea Head Drive, haben Historiker, Anthropologen und Archäologen der Inselgruppe ein Denkmal gesetzt. Das ebenerdige, durch große Fensterfronten lichtdurchflutete Museum erstreckt sich links der Küstenstraße mitten im Grünen. Weiter unten Richtung Meer ist der Anleger, an dem die Inselbewohner einst festmachten, wenn sie mit ihren Jollen und Ruderbooten von Great Blasket rübersetzten. Im Foyer des Gebäudes hängt ein riesiges Glasbild, das die Inselwelt der Insulaner farbenfroh abbilden soll: blau wie die See, grün die Hügel, auf denen die Kühe weideten, braun wie der Torf, mit dem die Insulaner heizten, gold wie der Sandstrand, rosa wie die blühende Heide.

Niemand weiß, wann sich die ersten Menschen auf Great Blasket niedergelassen haben. Vielleicht waren es steinzeitliche Bauern, die ihre Schafe auf das Eiland zum Grasen getrieben und sich dann nach und nach selbst auf der Insel niedergelassen hatten. Ob in der Steinzeit oder im 18. Jahrhundert – die Inselbewohner lebten vom Fischfang und der Schafzucht. Der Boden taugte allenfalls für den Anbau von Steckrüben, Hafer und später Kartoffeln. Seehunde wurden gejagt, die Eier von brütenden Möwen, Papageientauchern, Kormoranen und Lummen gesammelt.

In den Sommermonaten kann man hier Urlaub machen

Heute fallen zwei schneeweiße, renovierte Häuser auf Great Blasket ins Auge: Hier können in den Sommermonaten Touristen übernachten. Sie werden vom einzigen aktuellen Inselbewohner versorgt – dem Betreiber des Gästehauses, der im Sommer vom Festland übersiedelt. Von hier lässt sich die alte Siedlung überblicken: Zwischen den Ruinen sprießt saftiges Gras. Früher machte heftiger Regen daraus Matsch, den jeder breittrat. Muireann erzählt: „Die Kinder liefen barfuß. Man kann sich vorstellen, wie sie aussahen. Die Frauen wuschen sie zweimal am Tag, morgens vor der Schule und abends, wenn sie heimkamen.“

Jetzt können Naturliebhaber hier ihre Zelte aufschlagen und im Café Tee mit Scones und Marmelade bestellen. Wer im Gästehaus übernachtet, bekommt für fünf Euro ein Frühstück mit Porridge serviert. Strom gibt es immer noch nicht, und der Handyempfang ist alles andere als verlässlich.

Es ist dieses Gefühl der Zeitlosigkeit, das jeden ergreift, der Great Blasket besucht. Was Menschen vor 100 Jahren erblickten, sieht heute (fast) genauso aus. Eine Insel, an der die industrielle Revolution und das Internet spurlos vorbeigegangen sind, Kultur- und Religionskämpfe, verschont von heißen und kalten Kriegen, von all den Wandlungen der letzten Jahrhunderte. Die Insulaner haben ein Vermächtnis hinterlassen, das die Iren stolz macht und die Gegenwartsliteratur inspiriert.

Ein Paradies für Muireann Ní Chearna, wenngleich sie traurig darüber ist, „wie es mit dieser kleinen Gemeinschaft zu Ende ging“. Sie findet: „Ein großer Verlust für unsere Kultur. Wir leben in einer schnelllebigen Zeit. Unsere Städte sind sich doch auf bestimmte Weise sehr ähnlich. Was wir brauchen, ist kulturelle Vielfalt!“

Nach knapp drei Stunden Aufenthalt steigen die Tagesbesucher wieder abwärts zum Anleger. Skelly wartet mit dem Schlauchboot. Der Wind hat zugenommen. Er kann nicht garantieren, ob er später überhaupt noch in See stechen kann. Die Überfahrt könnte heikel werden.

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