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Schlusslicht. Gerade einmal 37 Prozent der Frauen mit Schwerbehinderung haben eine volle Stelle.

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Berufliche Teilhabe: Wann bin ich endlich dran?

Sie sind qualifiziert und möchten mehr arbeiten: Keine Gruppe fühlt sich so stark von Aufstieg ferngehalten wie Frauen mit Behinderung. Wie kann das sein?

Von Aleksandra Lebedowicz

Wäre berufliche Teilhabe mehr als nur ein Lippenbekenntnis, würden Frauen wie Lea Voitel mühelos einen Job finden. Qualifiziert, leidenschaftlich, motiviert – eine ideale Bewerberin. Trotzdem wurde sie abgelehnt, dutzende Male. „Wenn man im Rollstuhl zum Vorstellungsgespräch kommt und nicht auf Anhieb verstanden wird oder eine Bewegung macht, die andere komisch finden, dann ist es eigentlich schon vorbei“, berichtet die junge Frau von ihren Erfahrungen.

Lea Voitel lebt seit ihrer Geburt mit einer körperlichen Behinderung. Sie kann ihre Arme und Beine nur eingeschränkt bewegen, ihre Aussprache ist manchmal etwas verwaschen. Das ändert aber nichts an ihrem Wissensdrang – und an ihren Kompetenzen. Nach dem Fachabi bemüht sie sich intensiv um eine Ausbildung. Heute, einige Jahre und 40 Bewerbungen später, ist Lea Voitel als Kauffrau für Tourismus und Freizeit bei der Garnisonkirchenstiftung in Potsdam festangestellt. Sie plant Veranstaltungen, kümmert sich um die Gestaltung der Webseite – und will sich bald umorientieren. Dass sie überhaupt eine Stelle gefunden hat, die super zu ihr passt, ist keine Selbstverständlichkeit, eher ein Glückstreffer, weiß die 24-Jährige. „Sowas passiert vielleicht einmal in zehn Jahren“, sagt sie.

Kampf ums berufliche Überleben

Wie schwer es Frauen wie Lea Voitel auf dem Arbeitsmarkt haben, belegt auch eine Studie der Aktion Mensch mit dem Sinus-Institut, die zum internationalen Frauentag am 8. März veröffentlicht wurde. Das traurige Fazit: Gerade einmal 37 Prozent der Frauen mit Schwerbehinderung haben eine volle Stelle. Sie bilden das Schlusslicht bei Führungspositionen und Einkommen. Keine Gruppe fühlt sich so stark von Aufstieg und freier Gestaltung ferngehalten wie Frauen mit Behinderungen. Diese Erkenntnis sollte die Politik und Arbeitgeber:innen aufhorchen lassen.

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Christina Marx, Sprecherin der Aktion Mensch, spricht von einem „Kampf ums berufliche Überleben“ und betont: Frauen mit Schwerbehinderungen müssten einer gleich zweifachen strukturellen Benachteiligung entgegentreten – Geschlecht und Behinderung. Dabei würden viele gern mehr arbeiten und sich weiterentwickeln. Sie vermissen Unterstützungsangebote und wünschen sich mehr Dialog.

Sie will nicht nur putzen

Lina Antje Gühne setzt sich dafür ein, dass sie eine Chance bekommen. Sie leitet das Projekt „Jobbrücke Inklusion Plus“ in Berlin. Die Grundidee ist, Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung in Jobs zu bringen. Neben ehrenamtlichen Helfer:innen, die aus vielen Branchen kommen und beratend zur Seite stehen, wird bei der Jobbrücke vor allem Aufklärungsarbeit geleistet: Was bedeutet es, als Schwerbehinderte:r auf dem Arbeitsmarkt zu sein? Wo beantragt man Hilfsmittel? Wie wirkt der Kündigungsschutz? „Viele Menschen mit erworbener Behinderung wissen das nicht“, sagt Gühne. Dabei entstehen die meisten Behinderungen erst im Laufe des Lebens.

Werden schwerbehinderte Frauen tatsächlich doppelt diskriminiert? „Zum Teil schon“, sagt Gühne und erzählt von einer Betroffenen mit seelischer Behinderung, die gern etwas anderes machen würde, als nur zu putzen. „Andererseits gibt es im Projekt auch Frauen mit akademischer Ausbildung, die wir durchaus erfolgreich in reguläre Jobs vermitteln“, sagt Gühne.

Allein in den vergangenen anderthalb Jahren wurden bei der Jobbrücke rund 70 Menschen begleitet, ungefähr die Hälfte davon waren Frauen. Jede:r Dritte hat es beruflich geschafft und einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz gefunden.

In der Bewerbung erwähnen oder nicht?

Bei den Austauschtreffen mit den Teilnehmer:innen spiele die Genderfrage aber kaum eine Rolle, so Gühne. „Das Thema Nummer eins ist: Deklariere ich meine Behinderung in der Bewerbung, ja oder nein?“ Leider gebe es darauf keine ultimative Antwort. Es gibt Behinderungen, die gar nicht in den Arbeitsalltag reingrätschen, dann muss man sie nicht unbedingt erwähnen. Allerdings kann ein Versteckspiel auch unglaublich viel Kraft rauben. Und schnell nach hinten losgehen, zum Beispiel, wenn man im Rollstuhl zum Vorstellungsgespräch kommt und nicht ins Gebäude gelangen kann, weil Stufen davor sind.

Lina Antje Gühne rät grundsätzlich zur Offenheit. „Will man in einem Umfeld arbeiten, wo man seine Behinderung geheim halten muss?“, gibt sie zu bedenken und ermuntert dazu, Firmen zu suchen, die sich klar zur Vielfalt bekennen.

Zwar sind Arbeitsplätze für Schwerbehinderte immer noch rar. Dennoch gibt es mittlerweile Arbeitgeber:innen, die dem Thema aufgeschlossen gegenüberstehen. Im Sommer wurde in Berlin etwa die Initiative „Inklupreneur“ ins Leben gerufen, die gezielt in der Start-up-Szene nach Kooperationspartner:innen sucht. Größen wie Einhorn, Ecosia und Kfzteile24 sind bereits dabei. In den kommenden drei Jahren will „Inklupreneur“ mehr als 100 neue Jobs für Menschen mit Schwerbehinderung schaffen – und Start-ups dabei unterstützen, langfristig inklusive Strukturen aufzubauen.

Wie wichtig flexible Arbeitszeitmodelle und eine gute Unternehmenskultur besonders für Frauen mit Behinderung sind, zeigt auch die Sinus-Studie. 62 Prozent fühlen sich von den Stellenausschreibungen allerdings nicht angesprochen.

Sie müssen als Führungskräfte sichtbarer werden

Gelegentlich stehen sich Frauen auch selbst im Weg, findet Karen Schallert. Vor allem dann, wenn es um Leitungspositionen geht. „Viele schließen von vornherein aus, Führungskraft zu werden“, sagt die 54-jährige Mentorin. Schallert war selbst lange als Personalleiterin erfolgreich, obwohl sie an Multipler Sklerose erkrankte und seitdem auf den Rollstuhl angewiesen ist. Jetzt berät sie mit HandicapUnlimited unter anderem Akademiker:innen mit Behinderung.

Karen Schallert ist Geschäftsführerin von HandicapUnlimited.
Karen Schallert ist Geschäftsführerin von HandicapUnlimited.

© Kurt Steinhausen

„Wir müssen Frauen mit Behinderung sichtbar machen“, fordert Schallert und betont, dass sie durch ihre Beeinträchtigung viel lösungsorientierter denken und etliche Talente trainieren. Zum Beispiel hatte sie eine fast blinde Klientin, die am Telefon sofort Stimmungen und Gedanken ihres Gegenübers erfassen konnte.

Solche Stärken sollte man in Bewerbungsgesprächen unbedingt einwerfen, rät Schallert. Und am besten gleich auch die Vorurteile auf den Tisch packen, um den Personalern den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Es ist wichtig, Frauen dahingehend zu coachen“, sagt Schallert und sie hat eine These, warum viele Menschen Scheu vor dem Umgang mit behinderten Menschen gerade am Arbeitsplatz haben. „Man bekommt gespiegelt: Es könnte auch mich treffen.“ Dieser Gedanke mache Angst. Hinzu komme, dass die wenigsten von uns Kontakt zu Menschen mit Beeinträchtigungen haben. Wer war denn schon mal in einer Behindertenwerkstatt? „Das ist ein großes Problem. Ich kannte selbst als Personalleiterin lange niemanden, der im Rollstuhl saß“, erzählt Schallert.

Berührungsängste gab es in Lea Voitels Job anfangs auch. Jetzt seien sie und ihre Kolleg:innen ein eingespieltes Team, sagt die junge Frau und ist froh, nach einem zermürbenden Weg endlich einen Platz in der Arbeitswelt gefunden zu haben. Mit ihrer Behinderung ist sie immer offen umgegangen. Die Arbeitgeber:innen sollten das schon im Vorfeld wissen, meint Lea Voitel. „Meine Behinderung gehört nun mal zu mir“, sagt sie. „Die Arbeitgeber müssen sich einfach ein bisschen darauf einlassen, dann klappt es. So schwer ist es nicht“, findet Lea Voitel.

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