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Bei einigen Züchtungen ist das Gesicht des Tieres kaum noch zu sehen.

© imago/BildFunkMV

Berliner Schnauzen: So viel Punkrock steckt im Hühnerstall

Das Seidenhuhn hält nichts von Schönheitsstandards und traditionellen Familien. Doch unter seinem plüschigen Gefieder verbirgt es ein dunkles Geheimnis.

Von Markus Lücker

Spätestens nach der Aufregung um ein satirisches Musikvideo des WDR dürfte klar sein: Der Hühnerstall ist ein Ort von höchster politischer Brisanz. Und kein Huhn ist politischer als das Seidenhuhn. Globalisierung, Postkolonialismus, Gender-Diskussion – all das kommt bei den gackernden Federkugeln zusammen.

Im Berliner Zoo lebt eine ganze Schar der Zwergversion dieser Tiere. Obwohl: „Kommune“ ist ein besseres Wort. Traditionelle Familienkonstellationen haben die vier Hähne und rund ein Dutzend Hühner längst überwunden. Weibchen brüten nicht nur solidarisch den Nachwuchs von Stallgefährtinnen aus. Wenn sich die Möglichkeit in ihrem Gittergehege ergäbe, würden sie sogar Enten- und Gänseeier adoptieren.

Auf dem Aktivitätenprogramm stehen ausgiebige Sandbäder und das Picken nach Käfern. Man könnte es auch Entschleunigung gegen die kapitalistische Marktordnung nennen. Richtig Anti-Establishment wird es jedoch bei den Frisuren. Federbüschel stehen in alle Richtungen ab. Schnabel und Augen lugen kaum erkennbar unter dem Wirrwarr des Gefieders hervor. Kein Platz für Schönheitsstandards, die Beschreibung „geplatztes Sofakissen“ drängt sich auf.

Grund für die Strubbeloptik ist eine genetische Mutation, erklärt Vogelpfleger Tobias Rahde. Normalerweise halten winzige Häkchen die einzelnen Haare einer Feder fest zusammen, beim Seidenhuhn fehlt dieser Mechanismus

In den Westen über die Seidenstraße

In Gänze offenbart sich die politische Dimension dieses Vogels allerdings erst mit Blick auf seine Geschichte.

Ihren Anfang hat die Züchtung wahrscheinlich in China. Schon Marco Polo berichtete nach seinen Asienreisen von Hühnern mit Haaren statt Gefieder, ähnlich dem Fell einer Katze. In der Region wird das Tier für sein medizinisches Potenzial geschätzt. Noch heute landen Seidenhühner in vielen Teilen Ostasiens im Anti-Erkältungs-Suppentopf.

Nach Westen gelangten die Hühner als Handelsgüter über die Seidenstraße. Schausteller präsentierten sie in Kuriositätenshows als Kreuzung zwischen Vogel und Kaninchen. Das reine Spektakel – bei dem ausgeblendet wurde, was unter dem fluffigen Äußeren steckt.

Ein Beispiel für kulturelle Aneignung

Das ist wörtlich gemeint. Im Chinesischen heißt die Art Wu Gu Ji, grob übersetzt: „Huhn mit den schwarzen Knochen“. Tatsächlich sind Skelett und Haut komplett schwarz, das Fleisch hat einen dunklen Beigeton. Ein No-Go für die westliche Geflügelindustrie, sagt Vogelbetreuer Rahde. Zu groß der Ekel bei der Kundschaft an der Supermarkttheke.

Gelehrte Köpfe würden hier von einem klassischen Fall der „cultural appropriation“ sprechen. So nennt man es, wenn meist weiße Westler Dinge oder Praktiken aus anderen Kulturen abgreifen und in einer weichgespülten Fassung beibehalten. So wurde aus dem schwarzknochigen Wu Gu Ji das fluffige Seidenhuhn.

Der Zoo Berlin hingegen versucht die stolze Tradition der Hühner als Nutztiere zumindest in Ansätzen zu pflegen: Ihre Eier landen regelmäßig auf den Tellern hungriger Tierpfleger.

Zwergseidenhuhn im Zoo
Lebenserwartung: 5 bis 9 Jahre
Durchschnittlich gelegte Eier pro Woche: Zwei Stück, allerdings nicht schwarz
Interessanter Nachbar: Lockentaube

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