zum Hauptinhalt
Sarah Willis, Hornistin der Berliner Philharmoniker.

© Illustration: Lena Petersen

Berliner Philharmoniker: Star-Hornistin Sarah Willis: „Wir Bläser sind wie Hochleistungssportler“

Einen Fehler von ihr hört jeder: Sarah Willis’ Instrument verlangt Kraft und Nerven. Ein Gespräch über vibrierende Lippen und den legendären Bierdurst der Blechbläser.

Sarah Willis gilt als eine der besten Hornistinnen der Welt. Seit 2001 ist sie Teil der Berliner Philharmoniker. Geboren 1969 in Maryland,
zog Willis als 13-Jährige mit ihren Eltern nach England und reüssierte später auf internationalen Bühnen. Sie twittert als @hornsarahberlin
und moderierte auf Youtube vor 33 Millionen Zuschauern.

Frau Willis, haben Sie Angst vor dem Anfangen?

Sie meinen die Angst vor dem ersten Ton? Hornspielen ist ein Abenteuer, weil man bei 3,5 Metern Blechröhre nie weiß, ob das, was man hineinspielt, auch das ist, was herauskommt. Simon Rattle sagte einmal, als Hornist sei man eine Art Stuntman. Und so, wie man bei einem Stuntman nie in dem Moment zugucken darf, bevor er möglicherweise in den Tod fällt, so soll man nie einen Hornisten anschauen, bevor er ein Solo spielt.

Was kann passieren?

Beim Horn gibt es die berühmten Kiekser. Dagegen kann man nicht viel tun. Bei den Berliner Philharmonikern passiert allerdings wenig, hier sind einige der besten Musiker der Welt. Wenn man es auf der Bühne nicht schafft, will man am liebsten im Erdboden versinken.

Sind andere Blechblasinstrumente ähnlich angstbeladen?

Wir Hornisten finden natürlich, dass wir es am schwersten haben. Doch die erste Trompete und die erste Oboe sind ebenfalls hot seats. Wenn einer von uns falsch spielt, hört man das. Aber wir versuchen, nicht allzu viel darüber nachzudenken. Wer zu viel Angst hat, soll nicht Horn spielen.

Ein berühmter Cartoon zeigt einen Beckenspieler vor seinem großen Einsatz, der denkt: „Diesmal versau ich’s nicht, diesmal versau ich’s nicht.“ Dann sieht man, dass er nur einen Teil des Beckens in Händen hat.

Wir Hornisten sind wie Golfer oder Tennisspieler beim Matchball – wir haben genau eine Chance. Für mich ist es am schlimmsten, wenn ich ein Konzert nicht genießen kann, weil ich merke, wie ich mir selbst im Weg stehe. Ich unterrichte auf der ganzen Welt, und die Leute fragen mich immer: Wie bekommt man die Nervosität weg? Ein empfindsamer Mensch bekommt das nie ganz weg, man wird höchstens routinierter.

Was machen Sie gegen die Anspannung?

Vor einem Konzert ist es für mich am wichtigsten, gut zu essen, Pasta etwa oder Bananen. Bläser sind wie Hochleistungssportler, wir müssen unseren Blutzuckerspiegel halten. Dann schlafen, Deutschland hat ja eine schöne Mittagschlaftradition.

Wann ist der Moment, in dem Sie merken, dass ein Konzert gut läuft?

Das merke ich schon morgens beim Aufwachen. Manchmal bin ich zittrig, manchmal denke ich: Yes, we can! Deswegen üben Musiker so viel, damit die Tagesverfassung keine Rolle spielt. Wie mein Lehrer in England mal sagte: Es gibt keine bad days, nur Tage, an denen es anstrengender ist, sehr gute Leistung zu erbringen.

Wie viele Stunden üben Sie täglich?

Wenn ich Konzert und Probe habe, spiele ich sechs Stunden am Tag, sonst übe ich zwei, drei Stunden. Zum Glück bin ich nicht Pianistin oder Streicherin, die üben viel mehr.

Ihre durchtrainierten Oberarme – sind die vom Horn?

Das Horn wiegt drei Kilo, das ist schon schwer zu halten. Auch fahre ich einen alten Mini, wie Mr. Bean, seit ich 21 bin, und da muss ich kurbeln. Ansonsten mache ich Ausgleichsübungen, Pilates und Yoga, sonst bekomme ich Schmerzen wegen der Haltung. Und ich bewege mich viel an der frischen Luft. Das ist für den Kopf, damit ich nicht an die Kiekser denke.

Wo das Horn Spuren hinterlässt

Sarah Willis, Hornistin der Berliner Philharmoniker.
Sarah Willis, Hornistin der Berliner Philharmoniker.

© Illustration: Lena Petersen

Geiger haben den Geigerfleck. Wo hinterlässt das Horn Spuren?

Am Rücken, Nacken, an den Handgelenken, den Sehnenscheiden. Die Jungs kriegen Leistenbrüche. In Oslo neulich habe ich den Studenten meiner Masterclass eingeschärft, dass sie nicht früh genug anfangen können, Ausgleichssport zu machen. Wenn mir das jemand vor 20 Jahren geraten hätte, hätte ich heute weniger Probleme. Ganz wichtig: Zahnkontrollen. Lässt das Zahnfleisch nach, tut das weh. Wenn ein Stückchen Zahn abbricht, ist das für andere eine kleine Sache. Für uns heißt das, eine Woche nicht spielen zu können. Und was für Frauen normal ist, Lippenstift, kann ich nur tragen, wenn ich nicht spiele, weil sonst die Lippen nicht genügend vibrieren.

Spüren Sie das Alter?

Ich merke, dass ich nachts nicht mehr so feiern kann wie früher im Jugendorchester. Wenn ich damals ein wichtiges Konzert hatte, konnte ich durchmachen und trotzdem gut spielen. Musiker sind ja lustige Menschen, sehr gesellig. Die Blechbläser haben zudem den Ruf, dass sie nach den Konzerten am meisten Bier trinken können.

Liegt das daran, dass viele Blechbläser aus Blasmusikkapellen kommen, also aus einem ländlichen Umfeld?

Es ist eher das Gefühl, zusammengeschweißt zu sein durch die Extremerfahrung jedes Konzerts. Das Stuntman-Dasein auf der Bühne.

Wir sitzen in der Berliner Philharmonie, im kleinen Hornisten-Zimmer. Auf den Tischen liegen Instrumente der berühmten Firma Alexander. Haben Sie ein bevorzugtes Instrument, so wie ein Geiger seine Stradivari?

Geigen werden besser, je älter sie sind. Ein Horn leiert aus, man muss es nach ein paar Jahren wechseln. Ich habe drei Hörner und trotzdem das Gefühl, es kommt etwas Besseres nach. Das ist vielleicht wie bei Männern und Autos.

Ihr Kollege Klaus Wallendorf sagte einmal, das Horn sei sein bester Kumpel.

Das Horn ist mein bester Kumpel und mein größter Feind. Im Urlaub ist es ein Klotz am Bein, wenn alle anderen am Strand sind und ich mein Stündchen üben muss. Auf jeden Fall ist das Horn ein Teil von mir. Ich war einsam in der Schule, ich hatte das Gefühl, ich passe nirgendwo rein. Sobald ich das Horn hatte, merkte ich, dass ich mit anderen zusammen sein, Musik machen kann. Selbst in Zeiten, wenn alles um mich herum zusammengebrochen ist, blieb mir immer mein Horn. An solchen Tagen habe ich meine Lieblingsmelodien gespielt, manchmal mit Tränen in den Augen. Das Horn hat mich im Leben länger begleitet als die meisten Menschen.

Elfriede Jelinek, die von ihrer Mutter zum musikalischen Wunderkind gedrillt wurde, glaubt, dass sie das Orchester davor bewahrt habe, zu verzweifeln.

Absolut. Der Moment, an dem ich merkte, dass ich Konzerte spielen, Applaus kriegen konnte – das hat mich durch meine Schullaufbahn gebracht. Das Schulorchester Sonntagabend war das Highlight der Woche. Ich gehörte dazu, die Leute haben mich verstanden. Ich war damals sehr unsicher. Wir waren gerade von Moskau nach England zugezogen, die Umstellung fiel mir schwer.

Sie sind in den USA geboren, Ihr Vater war Auslandskorrespondent, Ihre Mutter Tanzkritikerin. Welche Rolle spielte Musik in Ihrer Familie?

Wir haben alle ganz gut Klavier gespielt, meine Liebe zur Musik war eher Zufall. An der Schule wollten sie, dass ich Oboe oder Flöte lerne. Das war mir zu normal, und man sagte mir: Wir haben noch ein Horn im Schrank, aber das ist etwas für Jungs. Das wollte ich dann ausprobieren. Mein Glück war, dass mein erster Lehrer ein inspirierender Mensch war und ich seinetwegen sehr viel üben wollte und konnte.

Lässt sich das Horn beherrschen?

Sarah Willis, Hornistin der Berliner Philharmoniker.
Sarah Willis, Hornistin der Berliner Philharmoniker.

© Illustration: Lena Petersen

Sagt Ihnen die „Tiger Mom“ etwas, die chinesischstämmige Amerikanerin Amy Chua, die ihre beiden Töchter zwang, Klavier und Geige zu spielen?

Nein, aber wenn ich von diesen chinesischen Kindern höre, die stundenlang allein in einem Zimmer üben müssen – furchtbar. Kinder wollen oft nicht üben, aber dann sind die Lehrer nicht gut. Oft muss man Kinder in ein Jugendorchester bringen, unter Gleichaltrige, dann macht ihnen das Üben wieder Spaß. Kinder mit Musik vertraut zu machen, das ist neben einer zweiten Sprache das beste Geschenk, das Eltern einem mitgeben können.

„Seele des Orchesters“ nannte Robert Schumann das Horn. Stimmen Sie zu?

Das Horn ist so vielseitig. Es kann schmettern wie ein Jagdhorn und mit den Bläsern mithalten. Aber es kann auch einen dünnen silbrigen Ton haben und sich den Holzbläsern anverwandeln. Wenn ein Horn ein Solo hat, so wie in der 5. Symphonie von Tschaikowsky, dann geht einem das Herz richtig auf. Oder eben nicht, wenn man den falschen Ton erwischt.

Ihr Lehrer Fergus McWilliam sagt, das Horn wird man nie beherrschen. Ist das nicht frustrierend?

Musiker sind ehrgeizig, wir brauchen das Gefühl, dass jeder Tag anders ist, auch wenn die Töne gleich sind. Ich werde nie das Gefühl haben, mein Instrument zu beherrschen, und das ist das Schöne. Das Streben nach Perfektion, das das Scheitern miteinschließt.

Gescheitert sind Sie nicht, 1991 kamen Sie an die Lindenoper. Wie war das?

Ich war damals, kurz nach der Wende, nicht nur die erste weibliche Hornistin, ich war auch die erste aus dem Westen. Geholfen hat mir, dass ich durch meine fünf Jahre Moskau Russisch konnte und mit der Mentalität vertraut war. Am Wochenende fuhren alle in ihre Datschen zum Grillen, und wenn wir auswärts waren, hat man das Essen mitgenommen, anstatt welches zu kaufen. Die Instrumentenkisten, die wir auf einer Japantournee dabeihatten, waren voller Büchsen mit Salami.

Bei den Philharmonikern sind Sie die erste Frau bei den Blechbläsern, einer absoluten Männerdomäne.

Ich war vielleicht die erste Frau, aber ich bin auf keinen Fall die letzte. Es hat sich alles unheimlich geändert. Gerade hatte ich eine Masterclass in Taipeh, da haben nur Hornistinnen vorgespielt. Auch habe ich nie schlechte Erfahrungen gemacht oder sexistische Sprüche abbekommen.

Die Hornistin Marie-Luise Neunecker sagte über ihren Berufseinstieg: „Erst kam der deutsche Mann in der Hierarchie, dann der ausländische Kollege, dann die deutsche Frau, dann die ausländische.“

Früher war es so, ja. An der Staatsoper musste ich kämpfen. Ich musste beweisen, dass ich nicht nur eine gute Musikerin, sondern auch eine gute Kollegin bin. Als ich mich 2001 bei den Berliner Philharmonikern bewarb und beim Probespiel gegen einen Deutschen antrat, war ich mir sicher, der kriegt die Stelle. Warum sollten die eine englische Frau nehmen, wenn es einen deutschen Mann gibt? Als ich rausging, habe ich ihm gratuliert. Doch es kam anders.

Die Nacktheit der Anne-Sophie Mutter

Sarah Willis, Hornistin der Berliner Philharmoniker.
Sarah Willis, Hornistin der Berliner Philharmoniker.

© Illustration: Lena Petersen

Orchester sind keine familienfreundlichen Arbeitsplätze. Wie machen das die Frauen mit Kindern?

Ich selbst habe keine Kinder. Ich hätte es damals vielleicht auch gar nicht in dieses Orchester geschafft, wenn ich Mutter gewesen wäre. Aber viele meiner Kolleginnen sind Mütter, und ich bewundere es, wie sie das auf die Reihe kriegen, das viele Üben, die Konzerte und die Reisen. Die Frauen heute sind zahlenmäßig mehr geworden und unterstützen sich gegenseitig. Das ist schön und freut mich.

Die Geigerin Anne-Sophie Mutter kleidet sich körperbetont, zeigt ihre nackten Schultern. Muss man sich als Frau in der klassischen Musik so inszenieren?

Anne-Sophie Mutter ist eine Ausnahmegeigerin und eine attraktive Frau. Warum soll sie sich verstecken? Ich trage auch gerne schöne Kleider, kleide mich aber bei Auftritten mit dem Orchester dezent und bequem. Das ist als Hornistin nicht unwichtig, weil ich viel Luft holen muss.

Wie ist es mit dem Alter? Ältere Frauen sieht man in Orchestern noch seltener als Blechbläserinnen.

Abwarten, bis ich mit meiner Lesebrille unter lauter jungen Frauen sitze. Ich werde aufhören, wenn ich merke, es geht nicht mehr. Mein Nachteil ist, dass es nicht viele alte Hornistinnen gibt, die mir sagen können, wie das ist.

Sie twittern, betreiben eine Horn-Community auf Facebook, interviewen auf Google Hangouts andere Musiker. Muss man sich als Orchestermusikerin heutzutage selbst vermarkten?

Ich sehe das nicht als Selbstvermarktung, sondern als Mission, etwas für klassische Musik zu tun. Wie erreicht man Leute, die Berührungsängste haben, oder die Jungen? Das geht sehr gut online. Ich hatte so schöne Erlebnisse, wenn mir Leute sagten, dass sie online Videos gesehen oder ein Abonnement für die Digital Concerthall der Philharmoniker gekauft haben.

2011 spielten Sie im Youtube Symphony Orchestra, einem Orchester, in dem internationale Musiker online Konzerte gaben. Ist das die Zukunft der Klassik?

Musik ist am besten, wenn sie ein Live-Erlebnis ist. Andererseits kamen die Musiker im Youtube Symphony Orchestra von überall, aus Asien, aus Südamerika. Ich habe gemeinsam mit Kollegen moderiert, wir hatten online über 30 Millionen Zuschauer. Das größte Klassikkonzert der Welt. Ein einmaliges Erlebnis. Viele hatten und haben nicht die Möglichkeit, gute Lehrer zu bezahlen, in die Philharmonie zu gehen. Die brauchen das Netz, um ihre Leidenschaft zu pflegen. Ich fand das toll von Youtube und Google, in klassische Musik zu investieren.

Können Sie sich vorstellen, auch mal Popmusik zu spielen, so wie der Geiger David Garrett?

Kommt auf die Musik an. Ich kenne beispielsweise die Musiker von Rammstein, wenn ich dort mal mitspielen soll, warum nicht? Horn ist allerdings eher ein Filmmusik-Instrument. „Star Wars“, „E. T.“, „James Bond“ – überall Hörner. Wenn die Helden kommen, wenn die Bösen kommen. Auch wenn man verliebt ist, ist immer ein Horn zur Stelle, in „Titanic“ zum Beispiel.

Das Horn ist zudem ein Ständchen-Instrument. Für wen würden Sie gerne eines spielen?

Für die Queen! Oder im Weltall, wenn einmal ein Musiker hochgeschossen wird.

Haben Sie ein Lieblingsstück?

Nein. Wie alle Hornisten mag ich Bruckner und Strauss, da sind wir die Helden und Liebhaber. Bei Mahler gibt es in den Partituren sogar Sätze wie: „Alle Hörner stehen auf“. Allerdings hast du da nicht nur Angst vor den Kieksern, sondern auch davor, dass du die Einzige bist, die aufsteht. Man sieht das immer im Konzert. Drei Takte bevor es losgeht, gucken sich alle hektisch an.

Klingt wie ein Versagensalbtraum.

Einmal ist es mir passiert, da war ich die Einzige, die stand. Die Kollegen haben das absichtlich gemacht, zum Glück nur in der Probe. Aber was das Lieblingsstück betrifft: Der Geiger Ivry Gitlis sagte einmal zu mir, er könne mir keines nennen. Aber er habe einen Lieblingsmoment in der Musik. Und das ist die Millisekunde, bevor ein Konzert losgeht. Und er hat recht, das ist wirklich etwas Besonderes. Dieser winzige Moment vor dem Anfangen.

Zur Startseite