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Eine neue Studie von Sportmedizinern aus Deutschland und Südafrika belegt: Barfußlaufen ist gesund.

© pa/Jörg Carstensen/dpa

Barfuß durch die Stadt: Der Boden unter meinen Füßen

Die Sorge ihrer Kindheit: auf eine Biene zu treten. Jetzt startet unsere Autorin einen neuen Versuch im Barfußlaufen. Lässt sich die Leidenschaft für nackte Haut auf nassem Asphalt in Berlin wiederentdecken?

Endlich ist er da, der Tag der Freiheit, denke ich, als ich aus dem Haus trete. Ich fühle es schon. Den kalten Stein der Terrasse. Die Oberfläche ist rau, nicht so, dass sie meine nackten Füße zu sehr pikst, sondern so, dass man wunderbar die Ferse daran kratzen kann, wenn sie juckt, oder sich ganz übel den Zeh aufschürfen, wenn man zu schnell läuft und die Füße nicht ordentlich hebt. Mein Nachbar wartet auf der Straße vor dem Haus. Wir wollen zum Hügel laufen, auf dem der Wasserturm steht. Zwischen uns der Vorplatz voller Kies. Das tut jetzt gleich weh. Das ist es wert. Salzburg, irgendein Jahr, jedes Jahr Ende der 90er.

Die Monate, die ich damals nur mit Schuhen herumlaufen konnte, haben meine Haut empfindlich gemacht. Ich traue mich erst nicht, mit voller Wucht auf den Asphalt zu treten. Nach wenigen Minuten legt sich das. Die Füße klatschen auf die Straße. Es ist der erste warme Tag im Mai, und das heißt endlich wieder barfuß laufen.

Meine Mutter hat eine einfache Regel aufgestellt, wann genau weiß ich nicht: Barfuß dürfen wir Kinder nur in Monaten ohne den Buchstaben R im Namen laufen. Also von Mai bis August. Hin und wieder hat sie die Regel durch eine andere, ausgetauscht: Barfuß wird erst gelaufen, wenn kein Schnee mehr von den Bergen schaut. Das kann in den österreichischen Alpen allerdings länger dauern als bis zum ersten Monat ohne R. Diese Richtlinie hat sie benutzt, wenn es im Mai noch zu kühl war. Also wenn sie es noch für zu kühl hielt. Ich hätte meine Schuhe gern schon stehen gelassen, sobald ich keinen Schal mehr brauchte.

Converse oder Timberland? Hoch oder flach?

Das erste Mal barfuß laufen hieß für mich, Frühling und Sonne und Wärme und endlich wieder lange draußen bleiben, weil es lange hell ist. So wie sich die Berliner traditionell an den ersten frühlingshaften Tagen an Kanäle und in Parks setzen, haben meine Freunde und ich unsere Schuhe in die Schränke geräumt. Es waren Zeiten, als unsere größte Sorge war, auf eine Biene zu treten.

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal ohne Schuhe aus dem Haus gegangen bin. Die Vorfreude auf das Verschwinden des Buchstaben R aus den Monatsnamen ist ein sehr fernes Gefühl. Ich weiß nicht, wann ich aufgehört habe, dem entgegenzufiebern. Vielleicht als ich ins Gymnasium kam und nachmittags Hausaufgaben machen musste, anstatt mit meinen Freunden Glassteine, Überbleibsel einer Fabrik in unserem Ortsteil, suchen zu gehen.

Oder es war die Pubertät, als Schuhe plötzlich kein lästiges Accessoire mehr waren, sondern ein Statement. Converse oder Timberland? Hoch oder flach? Keine Schuhe zu tragen, wurde mit jedem Jahr, das ich älter wurde, unangebrachter, genauso wie nur eine Badehose ohne Oberteil zu tragen. Ich kann mir heute überhaupt nicht vorstellen, mit meinen nackten Füßen öffentlichen Grund zu betreten. Meine Mutter macht mir keine Vorgaben mehr, ich könnte immer und überall barfuß laufen. Uns trennen Hunderte Kilometer, sie würde es nie erfahren, höre ich mein Grundschul-Ich kichern. Aber es ist auch nicht Ende der 90er in Salzburg. Es ist 2018 in Berlin.

Die soziale Revolution hat dreckige Sohlen

Will sie möglicherweise nur wiederentdeckt werden, die Leidenschaft für nackte Haut auf nassem Asphalt, auf Gras, Kies, auf erdigem, kühlem Waldboden, auf Pflasterstein? Nicht immer nur Badezimmerfliesen und Parkett. Ich spüre die Welt unter meinen Füßen nicht mehr, bin entfremdet vom Boden, auf dem ich laufe. Man stelle sich vor, wir würden dauernd dicke Handschuhe tragen und wüssten gar nicht, wie sich Seide im Vergleich zu Stahlwolle anfühlt. Ich bin nicht die Einzige, die diese Unfreiheit stört, die ihre Füße als eingehegt, betäubt empfindet. Peter Griffin, der eigenartige Vater aus der TV-Serie „Family Guy“, nennt Schuhe „Fuß-Gefängnisse“, und Irene Davis, Professorin an der Harvard Medical School, bezeichnet sie als „Sarg“ für die Füße. Wie recht sie hat, denke ich mir, als ich mir vorstelle, wie meine nicht schwitzenden, dafür leicht dreckigen Zehen versuchen, einen kleinen Kiesel zu umschließen und aufzuheben.

Die heutigen Schuhe dienten ohnehin nicht dem Schutz des Fußes, sondern der Klassentrennung, behauptet Elizabeth Semmelhack, Kuratorin des Bata-Schuhmuseums in Toronto. Die beiden Frauen sprechen in einer Folge der Radiosendung „Freakonomics“ über die Vor- und Nachteile moderner Fußbekleidung. Es gehe darum, festzulegen, „wer du bist, welches Geschlecht du hast und welchen Status“, sagt Semmelhack. Auch dagegen protestierte Julia Roberts, als sie 2016 barfuß über den roten Teppich in Cannes lief. Nieder mit dem Schuhdiktat! Die soziale Revolution hat dreckige Sohlen.

Also mal wieder die Schuhe stehen lassen. Nach Jahren. Doch was damals ein wenige Meter breites Kiesbett war, das es zu überwinden galt, sind heute soziale Normen. „In Berlin kannst du rumlaufen, wie du willst“, sagen alle. Zieht mal die Schuhe aus, und ihr werdet sie sehen, die Blicke! Menschen ohne Schuhe sind verwirrt. Menschen ohne Schuhe wissen nicht, was sie tun. Sollte man jemanden rufen, der der armen Frau hilft? Womöglich ist es der Ekel vor dem Berliner Boden, der aus ihnen spricht. Verständlich.

Als wären Zehen etwas Intimes ...

Vor zwei Jahren ging Julia Roberts zur Premiere ihres Films "Money Monster" in Cannes barfuß über den roten Teppich.
Vor zwei Jahren ging Julia Roberts zur Premiere ihres Films "Money Monster" in Cannes barfuß über den roten Teppich.

© pa/Andreas Rentz

Als ich ohne Schuhe aus der Haustür trete, im letzten Monat mit R vor dem Sommer, ist das Erste, was ich sehe, eine zerbrochene Bierflasche. Vorsichtig zwischen den Scherben durch.

Eventuell hätte ich mir lieber Barfußschuhe zulegen sollen. Barfußschuhe. Ein schönes Oxymoron. In den letzten zehn Jahren waren sie immer mal wieder im Trend – vor allem bei Läufern. Sie sind nicht gepolstert, haben nur eine dünne, leicht biegsame Sohle, oft ist jeder Zeh getrennt umschlossen. Wie bei Fingerlingen. Sie zwingen einen, „richtig“ zu laufen, mit dem Ballen zuerst am Boden aufzusetzen, nicht mit der Ferse. Dadurch soll es weniger Verletzungen etwa an Knien, Hüfte, Wirbelsäule und Nacken geben. Und sie bieten trotzdem Schutz, wie eben vor den zerdepperten braunen Resten eines Sternis auf dem Gehweg.

Da ich keine solchen Schuhe besitze, starre ich ständig argwöhnisch auf die Straße. Die Menschen vor mir starren auf mich. Es fühlt sich anfangs nicht befreit an und nicht schön. Nur anstrengend. Und mir ist noch nie aufgefallen, wie viele Zigarettenstummel hier rumliegen.

Barfußlaufen ist gesund, sagen Experten

„Nicht mehr barfuß sollst du traben, Deutsche Freiheit, durch die Sümpfe / Endlich kommst du auf die Strümpfe / Und auch Stiefeln sollst du haben!“, schrieb Heinrich Heine 1844. Fußbekleidung als etwas, das Fortschritt bringt. In einem anderen Gedicht von Heine geht Kaiser Heinrich barfuß umher, auf dem Schlosshof zu Canossa, und büßt. Rückständige Sünderin soll ich also sein.

Dabei belegt eine neue Studie von Sportmedizinern aus Deutschland und Südafrika, dass Barfußlaufen gesund ist. Kinder, die häufig auf Schuhe verzichten, haben seltener Plattfüße, sind besser beim Balancieren und können weiter springen.

Ein Auto wird langsamer, alle Aufmerksamkeit gilt meinen nackten Füßen. Menschen gucken verschämt zur Seite, grinsen, schütteln den Kopf. Vielleicht hat Heine ja doch recht, und es ist kein Schritt Richtung Freiheit, die Schuhe auszuziehen, sondern ein Schritt zurück. Ballen voraus in dunklere Zeiten.

Der Anblick nackter Füße ist für manche unangenehm

Aber nach zwei Straßenecken vergesse ich die Blicke, angenehm, wie die Sohlen über den Boden reiben, große und kleine Pflastersteine spüren, warme und kalte, und den ein oder anderen Kiesel. Glasscherben kommen mir keine mehr unter. Der Schritt über die Gehsteigkante auf die Straße wirkt schwerer als zuvor, als wär’ ich plötzlich kleiner, meine Beine kürzer. Ich bin es einfach nicht gewohnt, nicht nur zu sehen, wie ich den Gehweg verlasse und auf die Fahrbahn trete, sondern auch zu spüren, wie sich der Boden verändert.

Es fühlt sich an, als würde ich fester stehen als zuvor, sicherer. Für meine Mitmenschen ist es trotzdem befremdlich, meine Füße zu sehen, sind sie doch die meiste Zeit verborgen. Es irritiert sie. Als wären Zehen etwas Intimes, das man nicht zur Schau stellen sollte. Durchsichtige Schuhe sind neuerdings in Mode. Eine Chance, uns wieder an den Anblick zu gewöhnen.

Ich jedenfalls würde gern barfuß durch Sümpfe traben. Egal, wie toll Heinrich Heine Stiefel findet.

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