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Erst eine Reise durchs Outback, dann der erzwungene Stopp: Kathrin Galanopoulus und ihr Freund vor dem Ayers Rock.

© privat

Backpacker in Australien: Wie eine Facebookseite gestrandeten Reisenden hilft

Ihr Traum: Eine Auszeit in Australien. Dann kommt Corona, und sie sitzen fest. Jetzt bemüht sich eine lokale Initiative um Hilfe für Backpacker.

Kathrin Galanopoulus hatte einen Traum. Nach dem Referendariat aus dem Alltag in Bayern ausbrechen, mit einem Working-Holiday-Visum eine Auszeit in Australien nehmen und von einem anderen Leben kosten, bevor es mit dem Lehrerberuf richtig losgeht. „In Sydney ankommen, Auto kaufen und raus“, sagt die 29-Jährige.

Im September 2019 kommen sie und ihr Freund Holger in Down Under an. Sie kaufen für 4500 Australische Dollar (etwa 2700 Euro) einen gebrauchten Hyundai Santa Fe, Baujahr 2004, mit einem Dachzelt oben drauf. Blue Mountains, Melbourne, Tasmanien, zum Jahreswechsel landen sie in Kingston an der Südküste, wo sie einen Monat lang in einem Imbiss arbeiten, sie in der Küche, er an der Bar.

Danach folgt eine Tour durch das Outback, durch menschenleere Wüste und funklochreiche Ortschaften, hinauf in den Norden zum Ningaloo-Riff. Im Frühjahr wollen sie noch in Western Australia jobben, wo das Riff liegt. Doch daraus wird nichts.

Emotionaler Abschied

Mitte März, sechs Monate nach ihrer Ankunft passiert, womit niemand in Zeiten der Globalisierung rechnet: dass Länder ihre Grenzen schließen, dass Hotels und Hostels dichtmachen, dass Touristen Schwierigkeiten haben, eine Bleibe zu finden. Corona legt die Welt lahm.

„Fahrt nach Perth!“ Die Frau in der Touristeninformation am Riff fleht die beiden Deutschen beinahe an. Es gibt keinen Arzt im Ort, Kranke behandelt der Royal Flying Doctor Service. Perth ist die nächstgelegene Großstadt, 1200 Kilometer entfernt. In Ningaloo tauchen Touristen sonst mit riesigen Walhaien, jetzt ängstigen sie sich vor winzigen Viren.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]

Zur selben Zeit sitzt Nikki de Weerd in Perth und ist frustriert. Die 24-jährige Holländerin ist ebenfalls mit einem Working-Holiday-Visum im Land, sie hat ihre Arbeit verloren. Einer Freundin von ihr passiert dasselbe, sie muss sogar nach Europa zurück, weil sie keine Geldreserven mehr hat. Für sie ist der Traum vorzeitig beendet.

„Ein sehr emotionaler Abschied“, sagt Nikki de Weerd. Sie setzt sich danach mit ihrem Freund zusammen, Miguel Fuentes, ein 34-jähriger Krankenpfleger aus Perth, mit dem sie seit ein paar Monaten liiert ist. Sie sagt: „Wir müssen etwas tun.“ Er fragt: Wie wäre es mit einer Gruppe auf Facebook? Einer lokalen Initiative, die Gestrandeten hilft. Sie spinnen weiter, nennen ihre Gruppe „Adopt a Backpacker“. Sie soll Reisende mit Australiern verknüpfen, die Unterkünfte haben und Arbeitskräfte brauchen. Eine Hilfsgemeinschaft in den sozialen Medien, Jobbörse und Infokanal in einem.

Begehrtes Visum

Backpacker sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Australien. Das Land gehört zu den wohlhabendsten und teuersten der Welt. Da es jedoch eine strenge Einwanderungspolitik betreibt, kommen kaum billige Arbeitskräfte ins Land – die auf Farmen, in Gastronomie und Hotelgewerbe oft nötig sind. Junge Menschen bis 30 Jahre, die aus 44 meist reichen Ländern kommen, haben die Möglichkeit, ein Working-Holiday-Visum zu beantragen, sich damit ein Jahr lang in Australien aufhalten und dort arbeiten zu dürfen.

Im zweiten Halbjahr 2019 vergab das Innenministerium knapp 105 000 dieser Visa. So wichtig sind dem Land die Zeitarbeiter, dass das Tourismusbüro vergangenes Jahr mit einer Image-Kampagne die Zahl der Holiday-Worker ankurbeln wollte.

Es sind nicht die klassischen Backpacker, die man aus dem Roman „Der Strand“ von Alex Garland kennt. Keine Hippies mit Isomatte und Joint im Gepäck. Für das Visum muss man etwa 300 Euro zahlen, eine gültige Kreditkarte und finanzielle Reserven von 3000 Euro vorweisen.

Wer durch den fünften Kontinent reist, braucht ein Auto. Es gibt kaum Zugverbindungen, Australier fliegen von einer Ecke des Landes in die andere. Von Perth nach Sydney sitzt man vier Stunden im Flieger, in derselben Zeit könnte man von Berlin aus Tel Aviv erreichen.

Am 25. März geht die Facebookgruppe von Nikki und Miguel online. „Am ersten Tag mussten wir alle paar Minuten ein neues Mitglied akzeptieren“, erzählt de Weerd. 500 Mitglieder verzeichnete die Gruppe nach 24 Stunden, doppelt so viele einen Tag später. Nach einer Woche berichtet das Fernsehen über die Initiative, kurze Zeit später gründen Menschen in den anderen Bundesstaaten Untergruppen. „Adopt a Backpacker“ wird zum landesweiten Phänomen.

Mit dem Hyundai fuhr das deutsche Pärchen durch ganz Australien.
Mit dem Hyundai fuhr das deutsche Pärchen durch ganz Australien.

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Am 30. März müssen sich Kathrin und Holger entscheiden. Sie sind auf der Straße nach Perth unterwegs. Als sie den Strand am Riff verlassen haben, stellte die Polizei hinter ihnen Straßensperren auf. Die Deutschen beschließen, lieber außerhalb der Millionenmetropole die Krise abzuwarten und in Geraldton, nach 700 Kilometern und acht Stunden Fahrt, Halt zu machen. „Aldi, Woolworth, Strand, mitten in der Pampa“, so beschreibt Kathrin die Kleinstadt.

Bei der Polizei wollen sie sich nach neuen Regeln erkundigen. Vorher postet Kathrin eine Anfrage in die Facebookgruppe von Nikki und Miguel. Sie hat in den sozialen Medien davon erfahren und sich angemeldet. „Es wirkte noch nicht, als würde jeder in der Gruppe einen Platz zum Übernachten finden“, sagt sie.

Die Anzeige lautet: „Paar (29), Geraldton, sucht nach einem Platz zum Campen im Austausch für Arbeit. Wir sind hier seit September 2019. Hatten kaum Kontakt zu anderen, da wir durch die wunderschöne Natur Australiens gereist sind. Wir sind gesund und tun alles, damit das so bleibt. Wir können im Haushalt/Garten/auf der Farm helfen oder Kinder betreuen, da wir beide Lehrer sind.“

Fünf Nachrichten am selben Tag

Sie gehen auf die Polizeiwache. Als Kathrin danach ihr Smartphone checkt, hat sie bereits fünf Antworten. Eine stammt von Andrew Stewart, einem Australier in den Fünfzigern. Er ist mit seiner Partnerin auf einem Campingplatz gestrandet, ein „grey nomad“, wie er sich nennt – ein Pensionär, der das ganze Jahr über mit Zelt oder Wohnwagen unterwegs ist.

Er befindet sich zehn Minuten entfernt von Geraldton. Kathrin und ihr Freund fahren hin, man schüttelt keine Hände, Stewart trägt trotz des warmen Wetters Bauarbeiterschuhe und bezahlt sofort für eine Woche den Stellplatz der Deutschen. „Keine Widerrede“, sagt er. Er hat gelesen, dass in manchen Städten Australiens Backpackern „Go Home!“ hinterhergerufen wird. Er will etwas gutmachen.

Kathrin Galanopoulus fragt bei der Campingplatzbetreiberin nach Arbeit. Kochen, putzen, im Büro aushelfen. Es gibt keinen Job. Die Deutschen dürfen trotzdem bleiben, in der zweiten Woche erhalten sie einen Discount, sie unternehmen lange Strandspaziergänge, lesen Fantasyromane auf dem Kindle und unterhalten sich mit Andrew über ihre Reisen – „natürlich auf Abstand“.

Wenn sie sich bei der Rezeption aufhalten, wählen sie sich ins W-Lan ein, telefonieren nach Hause und beraten sich. Dann erreicht sie eine Nachricht der Fluggesellschaft: Ihr Flug wird auf Ende April vorverlegt. Zurückfahren oder ausharren?

Miguel Fuentes und Nikki de Weerd gründeten die Facebookseite "Adopt a Backpacker".
Miguel Fuentes und Nikki de Weerd gründeten die Facebookseite "Adopt a Backpacker".

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João de Sousa und Inês Barbosa stellen sich diese Frage nicht. Die jungen Portugiesen haben dieses eine Jahr und wollen es nutzen. Seit Mitte November arbeiten sie in Cairns in Nordaustralien, die 26-Jährige verkauft Touren in einem Reisebüro, der 30-Jährige repariert Fahrräder für einen Verleih. João hat eine Stelle als Barkeeper in Aussicht, als Corona den Kontinent erreicht. Von einem auf den anderen Tag verlieren sie ihre Arbeit, können langfristig nicht mehr die Miete für die kleine Wohnung bezahlen.

Von ihren Ersparnissen kaufen sie einen Van, taufen ihn Roger und bauen ihn aus. Neuer Bodenbelag rein, eine Matratze zum Schlafen – und sie brechen nach Süden auf, die Küste des Bundesstaats Queensland hinunter. Freunde erzählen ihnen von „Adopt a Backpacker“. Versucht euer Glück! Am 1. April schicken sie eine Nachricht ab, listen ihre Fertigkeiten auf: „Traubenpflücken, Tischlern, Kinderbetreuung“. Noch am selben Tag haben sie ein digitales Vorstellungsgespräch mit einer Familie, die Hilfe auf ihrer Farm benötigt.

Graben, schwitzen, kochen

In Porto haben sie Landschaftsarchitektur studiert, in Queensland heben sie nun metertiefe Gräben aus, um die Weide einzuzäunen. Sie kümmern sich um Rinder und Schafe, manchmal kochen sie für die Familie mit den zwei Töchtern, die Mutter stellt sich mit einem Drink zu ihnen in die Küche und erzählt von ihren Träumen als junges Mädchen, die Welt zu bereisen. Wer hilft hier wem?

Die Portugiesen posten Bilder und Videos von sich, João im weißen Unterhemd, Inês lehnt fotogen an einem Bulldozer. Nikki de Weerd hängt inzwischen acht Stunden pro Tag vor dem Laptop, sortiert negative Kommentare aus und stiftet Frieden: Wenn ein Farmer mehr Stunden Arbeit verlangt, als er ursprünglich vereinbart hat. Wenn Backpacker Eigentum der Gastgeber demolieren.

Inês Barbosa auf der Farm in Queensland.
Inês Barbosa auf der Farm in Queensland.

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In der Gruppe wimmelt es nun von Argentiniern, Briten, Franzosen, alle finden Unterschlupf. Man postet Fotos mit den neuen Familien, gelegentlich eine Warnung, an welchem Strand ein großes Salzwasserkrokodil gesichtet wurde – und Danksagungen über die unerwarteten Begegnungen.

Am 14. April schreibt Andrew Stewart vom Campingplatz in Geraldton eine Nachricht: „An unsere neuen deutschen Freunde Holga & Kathrin. Es war uns ein ehrliches Vergnügen, dass ihr am selben Ort auf das Meer geguckt habt wie Kerry & ich.“ Das bayrische Paar ist nun auf dem Weg nach Perth. Über die Gruppe haben sie eine Unterkunft für eine Woche in der Stadt gefunden. Sie wollen kein Risiko eingehen, falls der Flug nach vorne verschoben wird.

Der Highway ist kaum befahren, kurz vor der Stadtgrenze passieren sie eine Polizeisperre. Soldaten patrouillieren mit Gewehren. „Wir hatten ein bisschen Schiss“, sagt Kathrin Galanopoulus. Würde man sie hineinlassen? Die Polizistin beäugt misstrauisch ihre Papiere, lässt den Van erst durch, als sie eine Adresse in Perth angeben können.

Kurz den Glockenturm sehen

In der Nähe des berühmten Scarborough Beach, wo sich der weiße Sand kilometerlang in den Ozean ergießt, gewährt ihnen ein Familienvater mit zwei Kindern Obdach. Ins Viertel Karrinyup kommt kaum ein Tourist. Die Anwohner leben in Eigenheimen, viele haben einen Pool im Garten, alle ein Auto in der Garage. Am Sonntag nimmt der Vater sie auf seinem Boot mit, sie fahren über die Mündung des Swan River nach Perth. Kathrin und Holger sehen die Wolkenkratzer, den Glockenturm am Pier, aber kaum Menschen auf der Straße.

Abends kochen sie Hackfleischklößchen mit Feta. Sie schaffen es, ihren Hyundai für 3000 Dollar zu verkaufen, und als die Lehrer am 23. April ins Flugzeug nach Doha steigen, „kleinere Maschine als üblich, relativ voll“, hat Galanopoulus ein komisches Gefühl: „Ich hätte noch länger bleiben können.“

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Eine Woche später feiern João de Sousa und Inês Barbosa auf der Farm den Anzac Day – an dem Australien der Toten der Weltkriege gedenkt – und wissen schon, dass sie bald in den Süden aufbrechen. Tränen fließen, als sie die Familie verlassen. Über die Gruppe haben sie eine leer stehende Ferienwohnung in Airlee Beach bekommen, eine Bucht, von der Touristen zu den beliebten Whitsunday Islands aufbrechen.

Blaues Wasser, bewaldete Hügel, die Sicht vom Balkon ist traumhaft. Als Gegenleistung befreien sie das Poolgelände von Gestrüpp und legen eine Terrasse an. Jeden Tag gibt es ein neues Abenteuer. „Mit dem Vorschlaghammer arbeiten“, sagt João. „Beton anmischen“, ergänzt Inês. Sie lacht, als sie das auf Skype erzählt. Morgens leihen sie sich das Kanu der Besitzer aus, paddeln aufs Meer und gucken ins Wasser. „Gerade ziehen Stachelrochen vorbei“, sagt João, lieber nicht reinspringen.

Salatschüssel zu Waschbecken

Am Abend grillen sie Schweinesteaks auf dem Balkon, in Gedanken sind sie schon bei der nächsten Etappe. Ab dem 12. Juni werden die Grenzen zwischen den Bundesstaaten geöffnet. Dann will das Paar nach Sydney aufbrechen. João hat Roger, den Van, schon einmal auf Vordermann gebracht, er hat die Windschutzscheibe stärker isoliert. Aber am besten, sagt Inês: „Er hat aus einer Salatschüssel für acht Dollar ein tolles Waschbecken gezaubert.“

Wenn der Lockdown vorübergeht, sollen die Facebookgruppen erhalten bleiben. „Sie vermitteln ein authentisches Lebensgefühl“, sagt Inês. Dicht dran an einem Australien, das man als Tourist sonst kaum kennenlernt. „Ich glaube, die Seite verändert die Art und Weise, wie die Leute in Zukunft reisen werden.“

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