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Schriftsteller Volker Kutscher.

© Thilo Rückeis

Babylon-Berlin-Autor Volker Kutscher: „Ich sehe mich nicht als Geschichtslehrer“

Der Krimi-Autor Volker Kutscher und die Berliner Vergangenheit: das Kottbusser Tor, der Rüdesheimer Platz und das Ende der Gereon-Rath-Romane.

Von

Herr Kutscher, Sie tragen eine 20er-Jahre-Bauhausuhr?

Nee, nee. Das Design ist dem Bauhaus nachempfunden, die Uhr ist neu.

Ihre Bücher um den Kommissar Gereon Rath sind Bestseller, die Verfilmung von Tom Tykwer verkauft sich in alle Welt. Wäre da nicht ein Original drin gewesen?

Ich kann Ihnen versichern, die 40 Millionen Euro für die Verfilmung von „Babylon Berlin“ sind nicht für die Rechte ausgegeben worden.

Sie kommen immer mal wieder aus Köln nach Berlin, um zu recherchieren. Finden Sie hier überhaupt noch authentische Orte?

Wo einmal die „Rote Burg“, das Polizeihauptquartier stand, befindet sich heute das Alexa. Orte wie das „Femina“, einst Berlins modernster Tanzpalast, gibt es nicht mehr. Wenigstens ist die geschwungene Fassade in der Nürnberger Straße noch erhalten geblieben. Für mein jüngstes Buch habe ich mich vom Rüdesheimer Platz und vom Rheingauviertel mit seinen Vorbauten inspirieren lassen. Ich würde mir wünschen, dass man lieber einmal zu viel drüber nachdenkt, was man abreißt. Heute würde man sich freuen, wenn es am Kottbusser Tor anders aussehen würde. Als ich in den 80er Jahren das erste Mal nach Berlin kam, war das einfacher, sich in frühere Zeiten zu versetzen. Da brauchte ich nur nach Ost-Berlin zu fahren. Da waren die Fassaden noch genauso grau oder braun wie damals.

Das klingt, als würden Sie bedauern, dass Sie nie selbst im Aschinger, dem Fast-Food-Tempel der 20er Jahre, werden Buletten essen können.

Grundsätzlich würde ich das alles schon gerne mal sehen. Wenn Sie allerdings mit dem Wissen von heute ins Damals reisen, müssten Sie eigentlich alles daran setzen, Adolf Hitler umzubringen, um moralisch integer zu bleiben. Ich weiß nur nicht, ob ich der Richtige dafür gewesen wäre.

Sie sind moralisch nicht integer genug?

Natürlich ist es verlockend, auch mal tough zu sein wie Gereon Rath und jemandem, der es verdient hat, einfach eine auf die Schnauze zu hauen. Aber diese Aggression auszuleben, dafür bin ich viel zu zivilisiert. Nein, ich wäre kein guter Attentäter. Ich beneide die Menschen der Generation Kästner nicht.

Erich Kästner war Jahrgang 1899, genau wie Ihr Protagonist Gereon Rath.

Die bekamen alles ab. Den Ersten Weltkrieg hinter sich, wussten gar nicht, dass sie noch einen vor sich haben. Die haben wirklich die Arschkarte gezogen. Ich ärgere mich deshalb auch über Spätgeborene, die im Nachhinein sagen, sie wären auf jeden Fall im Widerstand gewesen. Egal ob 68er, 78er, 58er oder 98er. Das halte ich für überheblich und selbstgerecht. Leute, die nicht mal ein bisschen zweifeln, ob ihr Standpunkt der richtige ist, die sind genauso gestrickt, dass sie damals gefährdet gewesen wären, zum Mitläufer zu werden.

Trotz des Übels jener Jahre sind die 20er gerade sehr angesagt. In Cocktailbars werden wieder „Aviations“ oder „Sidecars“ aus der Prohibitionszeit getrunken, Lars Eidinger spielt den jungen Brecht, Partyreihen zitieren das ausschweifende Nachtleben von damals.

Auch wenn das nicht immer so ausschweifend war, wie Tom Tykwer es in „Babylon Berlin“ zeigt. Bei dem ist das Moka Efti ja das Berghain von damals.

Die Wilden 20er waren gar nicht so wild?

Es gab definitiv eine ganze Menge auch verbotener Dinge, die auf offener Bühne dargeboten wurden. In der schwulen Szene galt Berlin schon damals als Ziel. Das echte Moka Efti war vergleichsweise bieder. Aber das ist okay. Der Film versucht ebenso wie ich die historische Barriere von bald 90 Jahren zwischen uns und den Ereignissen damals zu überwinden. Dafür muss man Wege finden. Ich tue das zum Beispiel, indem ich vertraute Marken einbaue. Overstolz, Odol, Sinalco … Wenn Sie sich im Urwald verlaufen haben und finden eine Flasche Coca-Cola, fühlen sie sich gleich weniger verloren.

Der Potsdamer Historiker Hanno Hochmuth erklärt die heutige Faszination für die 1920er unter anderem damit, dass den Menschen der Fortschrittsglaube abhandengekommen ist.

Da ist was dran. Vielleicht waren die 70er das letzte selbstbewusste Jahrzehnt, das noch eine eigene Kultur hervorgebracht hat. Die Hippiebewegung, Swinging London, wir machen alles neu und sehr viel bunter. Als in den 80ern der Punk kam, hieß die Parole schon „No Future“. Und von den 90ern an waren die Zeiten definitiv rückwärtsgewandt. Seitdem bedienen wir uns im Gestern. Der Wunsch, alles ein wenig vertrauter zu haben, überschaubarer, wie es vermeintlich eben früher war, mag daran liegen, dass die Veränderungen immer schneller kommen. Wir leben in der Zeit einer neuen Industriellen Revolution, nämlich der digitalen.

Der Erste Weltkrieg brachte für die Zeitgenossen schon ungeheure Umwälzungen mit sich. Technische Revolutionen an allen Ecken, eine alte Welt brach komplett zusammen.

Genau genommen endete das 19. Jahrhundert erst mit diesem Krieg. Natürlich brachte die Industrielle Revolution ebenfalls gravierende Veränderungen mit sich. Denken Sie an das Schicksal der Weber, wie Hauptmann sie schildert, an die Zerstörung des Handwerks, an Hungerlöhne und Kinderarbeit. Dagegen regte sich Widerstand bis hin zum revolutionären Aufruhr.

Ähnliches steht uns erneut bevor?

Möglicherweise. Die Frage ist, wie kriegen wir es hin, diesen an sich positiven Prozess, dass immer mehr Arbeit von Maschinen übernommen wird, einigermaßen friedlich zu regeln? Nach unserem jetzigen Modell führt das in die Arbeits- und Chancenlosigkeit. Das bedingungslose Grundeinkommen könnte eine Möglichkeit sein; jedenfalls brauchen wir da neue Denkansätze. Wir leben in Zeiten des Umbruchs, und ich glaube schon, dass eine Folge davon Eskapismus ist. Manche flüchten sich in Comicwelten und ziehen sich Fantasiekostüme an. In Köln wird der Karneval jetzt schon bis in den Sommer ausgedehnt. Andere werden eben nostalgisch.

Sie tragen selbst manchmal Hut, wie die Männer früher.

Ich besitze sogar mehrere, darunter einen von Diefenthal, einer Kölner Traditionsmarke.

Das ist keine Nostalgie?

Vielleicht. Aber Hüte helfen auch gegen schlechtes Wetter. Ich bin nicht der Typ, der sich schreibend in eine Fantasy-Welt flüchtet.

Wann haben Sie die 20er entdeckt?

Erich Kästner und sein Zeichner Walter Trier haben das bei mir schon in meiner frühen Jugend ausgelöst. Über die Kinderbücher kam ich zu „Fabian“, über Kästner bin ich bei Alfred Döblin gelandet. Später habe ich mir den Fritz-Lang-Film „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ besorgt, da ist schon alles dabei, die Ringvereine, ein Kommissar, der dem echten Ernst Gennat ähnelt …

… dem Erfinder der Berliner Mordkommission …

… der Buddha vom Alexanderplatz, der auch in meinen Rath-Romanen auftritt. Die Initialzündung war dann der Film „Road to Perdition“, ein Gangsterfilm mit Tom Hanks. Die Bilder vermischten sich bei mir im Kopf. Ich fing an, Stoff zu sammeln. Da lernt man schnell, dass die Welt damals nicht nur mondän und schillernd war, sondern auch viele Probleme hatte.

„Unsere Demokratie wird von vielen Seiten bedroht“

Ernst Gennat (heller Mantel), Chef der Berliner Mordinspektion.
Ernst Gennat (heller Mantel), Chef der Berliner Mordinspektion.

© Scherl/SZ Photo/laif

Probleme, die einem heute merkwürdig bekannt vorkommen. Bernhard von Brentano schilderte sie in den 30er Jahren in seinem Buch „Der Beginn der Barbarei in Deutschland“: Den Sozialdemokraten laufen die Wähler weg, die Schere zwischen arm und reich klafft auseinander. Fallada beschreibt in „Kleiner Mann, was nun?“, wie die Wohnungsfrage zur sozialen Verelendung führte.

Sicher, doch die Probleme jener Jahre waren viel existenzieller, die Armut viel bedrohlicher. Kriegskrüppel auf den Straßen, bettelnde Kinder … Das ist mit heute nicht zu vergleichen.

Und politisch? Europaweit ist der Rechtspopulismus auf dem Vormarsch. Mit der AfD sitzt wieder eine entsprechende Partei in den Parlamenten.

Es löst keine Probleme, wenn man solche Parallelen zieht. Die AfD ist nicht die NSDAP, sie verfügt nicht über organisierte Schlägertrupps. Gleichwohl haben sich viel zu viele ihrer Mitglieder mit ihren Äußerungen weit außerhalb des demokratischen Diskurses gestellt.

Geschichte wiederholt sich nicht?

Nein, aber natürlich kann man aus ihr lernen. Geschichtsvergessenheit äußert sich ja auch darin, dass bestimmte Begriffe wieder benutzt werden. Frauke Petry fing damit an, das Wort „völkisch“ in die Debatte einzubringen und setzte es mit „national“ gleich. Das ist es aber nicht. Dahinter steckt ein ganz anderes Verständnis von Zugehörigkeit zu einem Volk, nämlich eins, das auf Blut und Rasse gründet. Wer dieses Wort benutzen will, offenbart rassistisches Denken.

„Lügenpresse“ ist noch so ein Kampfbegriff der damaligen Zeit, der ein großes Revival erlebt.

Ebenso der Begriff „System“, mit dem die Nazis gegen die Weimarer Republik wetterten. Man muss aufpassen, wenn solche Wörter wieder auftauchen. Aber man darf jetzt nicht nur auf die AfD gucken und glauben, Rechtsextremismus sei die einzige Gefahr. Unsere Demokratie wird von vielen Seiten bedroht, durch Autokraten, durch Islamisten, auch durch einen ungezügelten Kapitalismus. Wenn internationale Konzerne mächtiger sind als große Staaten – ich meine nicht nur die Internetriesen, ich meine auch die angeblich systemrelevanten Banken oder Investmentgiganten wie Blackrock – dann sind das Machtblöcke, die keiner demokratischen Kontrolle unterliegen.

„Der Rechtsstaat, fürchte ich, ist machtlos“, sagt einer Ihrer Charaktere in Ihrem jüngsten Roman.

Das Buch spielt 1935, da gab es keinen Rechtsstaat mehr. Heute schon.

An anderer Stelle schreiben Sie: „Wenn man in diesem Land Gerechtigkeit herstellen will, muss man das selbst in die Hand nehmen.“ Finden Sie selbst auch, dass es Momente gibt, in denen Selbstjustiz, in denen Gewalt legitim ist?

Das Dritte Reich war sicherlich so einer. Die entscheidende Frage ist: Wann habe ich ein Recht auf Widerstand? Ich bin ein Verfechter des Rechtsstaates, ohne den funktioniert Demokratie nicht. Daher finde ich solche Vorkommnisse wie im vergangenen Sommer in Nordrhein-Westfalen, als Politiker ein Gerichtsurteil nicht akzeptierten, sehr gefährlich. Die Abschiebung des angeblichen Bin-Laden-Leibwächters nach Tunesien, ohne rechtliche Grundlage, ist eine unglaubliche Respektlosigkeit. Es ist ein Skandal, dass die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Politiker stehen in ihren Entscheidungen nicht über dem Gesetz. Das unterscheidet den Rechtsstaat von der Willkürherrschaft.

Ihre Romanreihe beginnt 1929, inzwischen sind Sie im Jahr 1935 angekommen, und der Nationalsozialismus durchdringt den Alltag Ihrer Protagonisten.

Ja, und es zeigt, wie schnell das gehen kann, dass nicht nur die Demokratie außer Kraft gesetzt, sondern auch alle Werte auf den Kopf gestellt werden. Dies ist eine Warnung an uns heute. Wenn man eine Parallele sehen will, dann wohl die Erkenntnis, dass auch unsere bundesrepublikanische Demokratie mit ihrer ungleich besseren Verfassung angreifbar ist.

Da spricht der Aufklärer?

Ich sehe mich nicht als Geschichtslehrer. Ich schreibe Krimis.

Der Autor Raymond Chandler sagte, der Krimi sei die literarische Form, die unsere Welt am besten abbilde.

Steile These. Aber Fiktion erlaubt eine andere Herangehensweise als ein Sachbuch. Weil sie in die Köpfe der Zeitgenossen blicken kann. Das Zauberwort heißt Empathie. Ich beim Schreiben, Sie beim Lesen können nachempfinden, wie unterschiedlich gestrickte Menschen den Wandel der Werte ihrer Zeit erleben. Vielleicht tauchen deshalb immer mehr Figuren auf, die mit dem Krimiplot gar nichts zu tun haben.

Ihre Reihe umspannt inzwischen einen Zeitraum von sieben Jahren, das hat auch etwas von Seifenoper.

Sicher, das ist wie bei den „Sopranos“, meiner Lieblingsserie. Man wird zu einer Art Familienmitglied, wenn man das verfolgt.

Im neuen Band „Marlow“ landet Ihr Kommissar Gereon Rath sogar auf dem Nürnberger Reichsparteitag und reißt dort plötzlich den Arm hoch. Das könnte man als Relativierung und Verteidigung des Mitläufers sehen, nach dem Motto, die Zeitgenossen konnten gar nicht anders.

Ich habe die Szene gerade erst auf einer Lesung vorgetragen, und die Leute haben sich richtig erschrocken, dass ihr Gereon so etwas tut. Ich wollte damit zeigen, wie schwierig es damals war, gegen den Strom zu schwimmen, wollte dieses Phänomen der Massenpsychose vorführen. Eine Entschuldigung ist das nicht.

Was kann man den Menschen von damals vorwerfen? Duckmäusertum? Ignoranz? Naivität?

Wohl eine Mischung von all dem. Ich habe mit meiner Großmutter darüber gesprochen. Sie erzählte, wie die Gestapo einmal bei ihr vor der Tür stand und meinen Großvater mitgenommen hat, einen einfachen Schreiner. Der Grund: Sein Chef war Jude. Und meine Oma, die bestimmt keine Antisemitin war, sagte: Das haben wir ja gar nicht gewusst. Wie eine unbewusste Rechtfertigung. Der Respekt vor der Obrigkeit war enorm ausgeprägt. Viele Leute empfanden sich nicht als Teil des politischen Prozesses. Die da oben und wir kleinen Leutchen hier unten.

Ursprünglich wollten Sie die Reihe im Jahr 1936 beenden. Inzwischen haben Sie angekündigt, bis 1938 fortzufahren.

Ich hatte geplant, mit den Olympischen Spielen aufzuhören, aber das wäre das falsche Datum gewesen. Weil es zu positiv besetzt ist. Jetzt habe ich mir vorgenommen, dass mit der Pogromnacht Schluss ist. Zu diesem Zeitpunkt ist klar, worauf es hinausläuft. Der Weg führt Richtung Holocaust, es wird Krieg geben: Im Herbst 1937 wurden in Berlin Fliegeralarmübungen mit Attrappen von abgestürzten Flugzeugen in den Straßen durchgeführt, Vollverdunkelung, es brannte. Wer es wissen wollte, konnte es wissen.

Wären die Kriegsjahre nicht literarisch spannend, wenn Sie zeigen wollen, was der Nationalsozialismus mit den Leuten im Alltag macht?

Krieg ist viel zu pervers und zu sehr Ausnahmesituation. Das ist zu weit weg vom normalen Leben. Und für meinen Protagonisten Rath kommt schon 1936 der entscheidende Punkt, an dem er nicht mehr im Polizeidienst arbeiten kann, wenn nämlich nach den Olympischen Spielen Himmler Polizeichef wird. Außerdem muss irgendwann Schluss sein. Ich möchte nicht wie Donna Leon eines Tages bei Band 27 ankommen.

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