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Blumen und Beileidsbekundungen vor dem Oberlinhaus in Potsdam. In der diakonischen Einrichtung starben am 28. April vier Menschen mit Behinderungen.

© Soeren Stache/dpa

Auftakt zum Oberlinhaus-Prozess: „Wir müssen auch über die Opfer sprechen – Menschen mit Behinderungen“

Die Europa-Abgeordnete Katrin Langensiepen kritisiert, dass institutionelle Gewalt noch immer ein Tabuthema ist. Der Fall im Oberlinhaus zeigt das deutlich.

„Menschen mit Behinderungen haben ein höheres Risiko, Opfer von Gewalt und Missbrauch in ihrer häuslichen Umgebung oder in einer Einrichtung zu werden“, sagt die Europäische Kommission. Anfang März dieses Jahres wurde die neue „Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2021-2030“ vorgelegt.

Die Strategie soll unter anderem die gleichberechtigte Teilhabe und Nichtdiskriminierung fördern, um Menschen mit Behinderungen das Recht auf Chancengleichheit und auf ein Leben ohne Diskriminierung und Gewalt zu sichern.

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Nur acht Wochen später, am 28. April, ersticht eine Pflegekraft vier behinderte Menschen in einer Pflegeeinrichtung in Potsdam. Bundesweit hatte der gewaltsame Tod der vier Wehrlosen in einem Behindertenwohnheim für Entsetzen gesorgt.

Am Dienstag begann der Prozessauftakt um die Gewalttat im Oberlinhaus, in dem die Staatsanwaltschaft in der Anklage erschreckende Details nannte. Für die Europa-Abgeordnete Katrin Langensiepen, die einzige weibliche Abgeordnete mit Behinderung, ein wichtiger Tag.

Ein System geprägt von Stigmatisierung und Machtausübung

Ein Tag, den man zum Anlass nehmen solle, um „über den Pflegenotstand in Deutschland zu sprechen, aber vor allem auch über die Opfer, die bei dieser grausamen Tat ermordet wurden: Menschen mit Behinderungen“, so die Vize-Vorsitzende der Interparlamentarischen Gruppe von Menschen mit Behinderungen.

Es sei scheinbar politischer Konsens, das selbstständige Leben von Menschen mit Behinderung in den unterschiedlichsten Facetten zu fördern. Doch getan werde dafür zu wenig, sagt Langensiepen. „Hoher bürokratischer Aufwand, ein System das nicht ausreichend finanziert ist und der immer noch in unseren Köpfen steckende Gedanke, dass Menschen mit Behinderung doch auch eine große Last seien.“ All das fördere keine Inklusion, sondern verschleppe sie nur.

Übrig bleibt im Ergebnis „ein System, das immer noch auf Stigmatisierung und Machtausübung fußt“, so Langensiepen. Ein System, was auch in den Morden im Potsdamer Pflegeheim Oberlinhaus sichtbar wird. Nach Darstellung der Staatsanwaltschaft war die Angeklagte am Abend des Verbrechens sehr planvoll und heimtückisch vorgegangen.

Die 52-Jährige sei in zwei Zimmer geschlichen und habe zunächst versucht, zwei Bewohner zu erwürgen. Als sich dies als zu anstrengend erwiesen habe, habe die Angeklagte mit einem Messer zwei Männer und zwei Frauen im Alter zwischen 31 und 56 Jahren mit Schnitten in den Hals getötet. Eine 43 Jahre alte Bewohnerin überlebte einen weiteren Messerangriff schwer verletzt.

Schlüssel zur Gewaltprävention

Bei den Taten ging es der Angeklagten offenbar um reine Machtausübung, laut Staatsanwältin sei ihr bewusst gewesen, „dass es sich bei den fünf Geschädigten um schwerstbehinderte Menschen handelte, die nicht in der Lage waren, sich zu wehren oder Hilfe zu rufen“. Diese Wehrlosigkeit habe die Angeklagte ausgenutzt.

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Katrin Langensiepen spricht davon, dass institutionelle Gewalt nach wie vor ein Tabuthema sei, das in den EU-Mitgliedstaaten immer noch viel zu stark ignoriert werde, obwohl es ein enormes Problem darstelle. „Frauen mit Behinderungen sind vier bis fünfmal häufiger von (sexualisierter) Gewalt betroffen als Frauen ohne Behinderungen“, betont Langensiepen.

Sich aus Abhängigkeitsverhältnissen zu lösen, selbständiges Leben und persönliche Assistenz zu fördern, seien laut der Grünen-Politikerin Schlüssel zur Gewaltprävention. „Die Mitgliedstaaten müssen sich endlich damit auseinandersetzen, wo hier aktiv unterstützt werden kann. So fordert es auch die neue EU Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen 2021-2030.“ (mit dpa)

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