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Asil Imre lernt schreiben.

© privat

Aufbruch in Anatolien: Die Tigermutter

Asil Imre aus der bitterarmen türkischen Provinz Van ließ ihre zehn Kinder studieren. Jetzt lernt die 60-Jährige selbst lesen und schreiben.

Das Leben hielt bescheidene Karten für Asli Imre bereit, als sie vor 60 Jahren im bitterarmen Osten der Türkei zur Welt kam. Gerne wäre sie zur Schule gegangen, doch eine Schule gab es in ihrem Dorf am Van-See nicht, und schon gar nicht für junge Mädchen. Mit 16 Jahren wurde Asli verheiratet, und dann kam der Nachwuchs. Zehn Kinder gebar Asli Imre mit den Jahren, fünf Jungen und fünf Mädchen; doch ihren Traum von der Bildung gab sie nie auf. Drei Ärzte, vier Lehrerinnen, eine Krankenschwester und einen Ingenieur hat die kurdische Frau eines Bauarbeiters in Ostanatolien aufgezogen; der jüngste Sohn ist noch am Gymnasium. Und jetzt erfüllt sich die Mutter einen Lebenstraum: Sie lernt lesen und schreiben.

Von ihrer Enkelin Zeynep lässt Asli Imre sich unterrichten und schreibt sorgfältig ihre Übungen in ein Schulheft. „Die Buchstaben kannte unsere Mutter aus unseren Hausaufgaben und Schularbeiten, aber sie konnte sie nicht zu Wörtern und Sätzen zusammenfügen“, erzählt ihr Sohn Gürkan Imre. „Sie hatte einfach keine Zeit für sich, weil sie sich immer um uns gekümmert hat.“ Der 40-Jährige ist der dritte Sohn der Familie und heute Kardiologe am Forschungskrankenhaus in Van; einer seiner Brüder ist Psychiater und ein anderer Hausarzt. „Wir Geschwister sind alle unsagbar stolz auf unsere Mutter – und auf unseren Vater“, sagte er dem Tagesspiegel. „Sie haben sich gemeinsam zum Lebensziel gesetzt, uns allen eine gute Bildung zu verschaffen – und das haben sie geschafft.“

Disziplin, Anstand und Glauben

Stolz sind auch die Eltern auf ihre Lebensleistung. Celal Imre, der Vater, war selbst erst 18 Jahre alt, als das Paar verheiratet wurde, und arbeitete bereits auf dem Bau; als er zum Wehrdienst eingezogen wurde, hatten sie schon drei Kinder. Als Junge hatte Celal immerhin die fünfjährige Grundschule besucht und konnte sich auf Türkisch verständigen – der Amtssprache des Landes auch im kurdisch besiedelten Osten. Seine Braut konnte das nicht, denn daheim im Dorf wurde Kurdisch gesprochen. „Wenn ich zum Arzt ging, konnte ich ihm nicht erklären, welche Beschwerden ich habe“, erzählte sie jetzt im Gespräch mit einem türkischen Reporter. Um ihre Kinder ordentlich aufziehen zu können, habe sie zunächst Türkisch gelernt – daheim und auf eigene Faust.

In der Erziehung hielten Asli Imre und ihr Mann auf Disziplin, Anstand und Glauben – beide seien tiefgläubige Menschen, sagt Gürkan. „Nicht rauchen und nicht herumhängen“ durften ihre Kinder, erzählt die Mutter. Um den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen, mussten die Jungen in den Ferien mit dem Vater auf dem Bau schuften. „Während sich andere Kinder auf die Ferien freuten, haben wir sie gefürchtet und uns auf den Schulbeginn gefreut“, erzählt Gürkan. Später wendete sich das Blatt, denn nach der Grundschule war das Vergnügen für die anderen Kinder im Dorf vorbei. „Sie sind alle Bauarbeiter geworden, wie das in unserem Dorf üblich war“, sagt Gürkan. Nur er und seine Geschwister konnten weiterführende Schulen besuchen; er selbst bekam ein Stipendium für ein Internat, die anderen Geschwister pendelten in die nächste Stadt – „teils mit dem Bus und teils zu Fuß“.

Die Familie der 60-Jährigen.
Die Familie der 60-Jährigen.

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Bis auf das Nesthäkchen am Gymnasium stehen alle Kinder nun auf eigenen Beinen, und jetzt macht Asli Imre ihre eigenen Hausaufgaben. Selbstverständlich ist das für Landfrauen in der Osttürkei noch immer nicht, auch wenn die Türkei in den letzten Jahrzehnten gewaltige Fortschritte bei der Alphabetisierung gemacht hat: Konnten vor 30 Jahren noch rund ein Drittel aller türkischen Frauen nicht lesen oder schreiben, liegt dieser Anteil heute noch um die sechs Prozent – die meisten, so wie Asli Imre, ältere Frauen auf dem Land im unterentwickelten Osten. Einsam sei es, nicht lesen und schreiben zu können, erzählt Asli Imre, weil man sich nicht mit der Außenwelt austauschen könne. Deshalb habe sie sich entschlossen, das nachzuholen. Zu spät zum Lernen, sagt sie, sei es schließlich nie.

Tausende gingen als Gastarbeiter in den Westen

Asli und Celal Imre leben in einem Dorf außerhalb der Kleinstadt Edremit in der Provinz Van, die an Iran und Irak grenzt. Mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von 1400 Euro im Jahr ist Van die zweitärmste der 81 türkischen Provinzen. Das ist zum einen der geographischen Lage geschuldet: Wegen der internationalen Sanktionen gegen den benachbarten Iran und der geschlossenen Grenze zu Armenien liegt die Provinz quasi am Ende einer langen Sackgasse, 1500 Kilometer von Istanbul entfernt – weder Handel noch Industrie können hier gedeihen. Ackerbau verbietet sich wegen der schroffen Gebirgslandschaft, und die traditionell starke Viehzucht wurde durch den jahrzehntelangen PKK-Krieg geschwächt, weil die Hochweiden in den Bergen jahrelang vom Militär gesperrt waren.

Van hält zwar noch immer den landesweiten Rekord an Kleinvieh: 2,6 Millionen Schafe und Ziegen leben nach Zählung der Handelskammer von Van in der Provinz; das sind mehr als doppelt so viele Tiere wie Menschen und mehr als in jeder anderen Provinz. Doch die Arbeitslosigkeit in Van liegt schon in der amtlichen Statistik bei mehr als 26 Prozent. Um ihre Familien zu ernähren, verdingen sich tausende Männer aus Van als Bauarbeiter im wohlhabenderen Westen des Landes. In seinem Dorf habe es immer nur zwei Laufbahnen gegeben, die junge Menschen einschlagen konnten, erinnert sich Vater Celal: Viehhirte oder Bauarbeiter. Die Bildung habe seinen Kindern einen Ausweg eröffnet.

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