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Das Maggie’s Centre in Glasgow von Rem Koolhaas ist um den Garten herum angelegt.

© Nick Turner

Atmosphäre in der Architektur: Innere Werte

Architektur ist sehr viel mehr als nur die schöne Fassade zum Angucken: Erst durch Licht, Räumlichkeit, Farbe und Material entsteht Atmosphäre. Ein Plädoyer für den Mut zur Sinnlichkeit beim Bauen.

Der erste Eindruck ist ein Schock. Fast schießen mir Tränen in die Augen beim Betreten des Glasgower Krebszentrums. Weil es so schön ist. So freundlich. So hell. So modern.

Dabei hätte der Taxifahrer das versteckte „Maggie’s Centre“ beinahe gar nicht gefunden. Erst mal irrt er herum auf dem Krankenhausgelände: dort ein dunkler viktorianischer Kasten, verlassen vor sich hin bröselnd, hier die unwirtlich-beklemmenden Bettenhochhäuser der 70er Jahre, dazwischen riesige Parkplätze.

Es ist schon komisch. In dem Moment, wo der Mensch besonders bedürftig ist, wird ihm in der Regel etwas serviert, was eher krank als gesund macht – in der Architektur ebenso wie bei der Kost. Da gibt’s bestenfalls abgepacktes Graubrot.

Das musste auch Maggie Keswick Jencks erleben, als sie an Brustkrebs erkrankte. Sie ließ sich behandeln und vergaß das Ganze, so schnell es ging. Dann kehrte der Krebs zurück, mit voller Wucht und jeder Menge Metastasen, drei Monate gaben die Ärzte ihr. Die anderthalb Jahre, die sie dann doch noch lebte, arbeitete die britische Architektin und Gartenexpertin mit Hochdruck an ihrer Idee: Krebszentren zu schaffen, die Unterstützung und Beratung jenseits der medizinischen Behandlung bieten. Die den Kranken darin stärken, nicht nur behandelter Patient zu sein, sondern selber Handelnder, und Lebensfreude vermitteln – nicht zuletzt durch entsprechende Architektur.

1996, ein Jahr nach dem Tod der lebenslustigen Schottin, wurde das erste „Maggie’s Centre“ in Edinburgh eingeweiht. Inzwischen gibt es 17 Zentren in Großbritannien, die von einer Stiftung getragen und in immer kürzeren Abständen eröffnet werden. Der Bedarf ist gewaltig. Entworfen werden sie von hochkarätigen Architekten, darunter Stars wie Frank Gehry (ein Freund von Maggie und ihrem Mann, dem amerikanischen Architekten Charles Jencks), Richard Rogers, Norman Foster, Zaha Hadid.

Von Rem Koolhaas stammt das „Maggie’s“ in Glasgow, ein gläserner Pavillon, von Silberbirken und Büschen geschützt. Wer reinkommt, landet schnell in der offenen Küche, dem Herzen des Zentrums. Die wohnlichen Räume, behaglich-modern möbliert, reihen sich um einen kleinen Garten, sind offen oder geschlossen, je nach Bedarf. Schiebetüren machen’s möglich. Im „Maggie’s“ ist jeder willkommen, Patienten ebenso wie ihre „Kümmerer“, Freunde und Verwandte, die kaum weniger belastet sind. Sie können Yoga- und Schreibworkshops besuchen, lernen, wie man sich nach der Chemo schminkt oder sich einfach einen Tee machen, reden, lesen.

Natürlich hatte ich Fotos vom „Maggie’s“ gesehen, gelesen vom Konzept, deswegen war ich ja hier. Und doch war ich nicht vorbereitet auf die Wucht der ersten Gefühle angesichts der heiter-entspannten Stimmung, in die ich wie in eine andere Welt trat.

„Atmosphären sind etwas Räumliches, und sie werden erfahren, indem man sich in sie hineinbegibt“, schreibt der Philosoph Gernot Böhme in seinem Buch über „Architektur und Atmosphäre“. Das klingt ziemlich banal. Und doch wird selbst im Studium gerade dieser fundamentale Aspekt oft missachtet, haben sich erst in letzter Zeit Ausstellungen, Bücher, Tagungen und Auszeichnungen intensiver damit beschäftigt.

Denn traditionell stehen Form, Funktion und Finanzen im Mittelpunkt der Diskussion über Architektur, über die oft gesprochen wird, als sei sie eine rein visuelle Kunst. In Berlin hatte das nach der Wende besonders eklatante Folgen: Im Mittelpunkt standen Traufhöhen und steinerne Fassaden, eine aufs Äußere fixierte Debatte. Eklatantestes Beispiel dieser Kulissenarchitektur: das Schloss.

Atmosphäre lässt sich nicht in Kubikmetern und Geldscheinen messen

Befördert wurde die Fokussierung aufs Optische zudem durch die Macht der Bilder, den Vormarsch der Architekturfotografie in Zeitungen, Magazinen, Büchern: Die ist nun mal von Natur aus flach. In der wirklichen Welt aber ist Architektur dreidimensional, ist nicht nur zum Gucken da, sondern zum Riechen, Hören, Fühlen. Ein sinnliches Erlebnis. Die wichtigsten Zutaten dafür sind bekannt: Raum, Licht, Materialien (und Materialität), Klang, Proportionen, der Bezug zum Ort, auch die Temperatur. Nicht zu vergessen: die Menschen. In der Architekturfotografie werden Gebäude meist als entvölkerte Objekte präsentiert.

Louisa Hutton vom Berliner Büro Sauerbruch Hutton glaubt, dass auch das inzwischen gängige Entwerfen am Computer mitverantwortlich ist für eine oft merkwürdig flache, manchmal fast tote Architektur. Zeichnen, zeichnen, zeichnen!, schärft sie Studenten und Mitarbeitern daher ein, mit der Hand. Und: lesen! Nicht nur Fachliteratur, sondern Romane, Kurzgeschichten, Gedichte, die eine große Sensibilität für Stimmungen vermitteln. Und außerdem die Sprache schärfen. Denn dass die Atmosphäre in der Architektur oft vernachlässigt wird, liegt auch daran, dass sie ähnlich schwer in Worte zu fassen ist wie Musik, mit der sie eng verwandt ist. Es ist wie der Versuch, eine Wolke mit Händen zu greifen.

„Verdruckst“ nennt der Kritiker Hanno Rauterberg die Ausdrucksweise vieler Architekten, die von „Aufenthaltsqualität“ sprechen, wenn sie ein Gefühl von Geborgenheit meinen, von „geschossweiser Differenzierung der Fensteröffnungen“ statt von Lebendigkeit. Aber um ein Projekt Bauherren und Öffentlichkeit zu vermitteln, so Louisa Hutton, braucht der Architekt eine anschauliche Sprache.

Ein anderes Problem der Atmosphäre: Sie lässt sich nicht messen. Auf jeden Fall nicht in Kubikmetern und Geldscheinen. Allenfalls am Erfolg. Wie beim Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum in Berlin. Die Bibliothek der Humboldt-Universität war auf 3000 Besucher ausgelegt, jetzt strömen jeden Tag zwei- bis dreimal so viele hinein. Und die kommen nicht wegen der Bücher – die meisten bringen ihr Arbeitsmaterial selber im Laptop mit. Sie kommen, weil sie hier so gut denken können, weil man nicht allein ist, konzentriert arbeiten, aber auch andere treffen kann. Weil der großzügige, auch dank der hochwertigen Materialien warme Raum beflügelt und inspiriert.

Max Dudlers Bibliothek ist der beste Beweis, wie wichtig die Atmosphäre gerade im digitalen Zeitalter ist. Wer den ganzen Tag vor seinem Flachbildschirm sitzt, sehnt sich nach räumlicher, sinnlicher Erfahrung, nach einer Umgebung, die größer und gehaltvoller ist als das eigene Kämmerlein, leiser als die WG.

Solche Projekte wie das Grimm-Zentrum sind Dudler die liebsten: bei denen er nicht nur die Hülle liefert, sondern das Ganze, auch das Innere gestalten kann.

Die zunehmende Effekthascherei hält der Schweizer für einen Feind atmosphärisch dichter Architektur: spektakuläre, medienwirksame Bauten, mit der sich auch die Politik gern schmückt. (Eine Effekthascherei, derer sich übrigens auch einige der „Maggie’s“-Architekten an anderen Orten schuldig gemacht haben, was daran erinnert, dass gute Bauten nicht nur gute Architekten, sondern auch gute Bauherren brauchen.) Plump gesagt: Außen hui, innen pfui. Gebäude, die mit großer Geste auftreten, erweisen sich im Inneren nicht selten als so mickrig, dass man das Gefühl hat, gleich fällt einem die Decke auf den Kopf.

„Fünf-Minuten-Aufregung“, so beschreibt Dudler das Phänomen. Aber auch Zeit prägt ja die Stimmung. Nicht zufällig sind gut gealterte Bauten mit Patina so beliebt und identitätsstiftend. Bei aller nötigen Stabilität ist Architektur ja nichts Statisches, die Atmosphäre wandelt sich unentwegt: mit der Bewegung des Menschen im Raum, mit Tages- und Jahreszeit. Bestes Beispiel: das gsw-Hochhaus von Sauerbruch Hutton, das in den verschiedensten Rottönen schimmert, je nach Sonneneinfall. Das Architektenpaar zeigt immer wieder, wie man mit Farben, die ja sofort Emotionen hervorrufen, Stimmungen, auch im Stadtraum, schafft.

Gute Architektur muss stimmen. Ob sie das tut, merkt man meist ziemlich schnell, wenn man einen Raum betritt. Atmosphäre ist das, was der Bauch fühlt, ohne dass der Kopf es begreift, ja, ohne dass er es begreifen muss, wie der finnische Architekt Juhani Pallasmaa in dem eben erschienenen, sehr anregenden Sammelband „Architectural Atmospheres“ darlegt.

Gute Architektur führe Menschen zum besten Selbst, findet Wim Wenders

„Unsere Intuition weiß viel mehr als unser Gehirn“, hat Peter Zumthor im Interview erklärt. Weshalb er neue Mitarbeiter gleich abwürgt, wenn sie ihm theoretische Erklärungen für ihre Entwürfe liefern und dagegenhält: „Würde sich Ihre Mutter darin wohlfühlen?“ Der Schweizer hat 2006 einen berühmten, prägenden Vortrag über „Atmosphären“ gehalten; sein Kölner Diözesanmuseum Kolumba wurde im letzten Jahr mit dem neuen Nike-Preis für Atmosphäre des Bundes Deutscher Architekten ausgezeichnet, der gleichzeitig eine Ausgabe seiner Zeitschrift „dem gefühlten Raum“ widmete.

Ein gelungenes Gebäude ist eins, in dem der Besucher sich willkommen fühlt. Wobei die Wahrnehmung von Räumen natürlich auch subjektiv ist. Was die einen als freundlich und befreiend erleben, empfinden andere erst einmal als kühl und kahl. Nicht wenige Besucher des Glasgower Maggie’s Centre trauerten den alten viktorianischen Räumen, den Häkeldeckchen und dem Nippes nach, wo doch alles so gemütlich war.

Atmosphären werden natürlich auch geschaffen, daran erinnert der Philosoph Gernot Böhme, um zu manipulieren, ganz bestimmte Effekte zu erreichen – zu kommerziellen Zwecken, wie in Einkaufszentren, oder politischen. Die Nazis waren Weltmeister im Zelebrieren und Produzieren von Stimmungen. Da werden Menschen zu etwas gedrängt.

Aber gute Architektur zeichnet sich dadurch aus, dass sie, wie Zumthor-Freund Wim Wenders beschreibt, einen zu sich selber führt, zu seinem besten Selbst. Ob ein Mensch, als Freund oder Geliebter, gut ist für einen, so heißt es, merkt man auch daran, ob er einen zu einem besseren – gelasseneren, fröhlicheren, großzügigeren – Menschen macht oder zu einem schlechteren, gereizteren. Mit Bauten ist das nicht anders.

Japaner und Finnen sind die Meister atmosphärischer Dichte. Das erreichen sie nicht durch billige Effekte, sondern gerade durch Zurückhaltung, schlichte Entwürfe, das Einbeziehen der Natur – und Qualität. Wobei gute Atmosphäre nicht nur eine Frage des Geldes und der Größe ist. Das hat Peter Zumthor mit seiner Bruder-Klaus-Feldkapelle ebenso demonstriert wie Sauerbruch Hutton mit ihrer beeindruckenden neuen Kölner Immanuel-Kirche, bei der sie etliche Abstriche wegen des Budgets machen mussten.

Über Stimmungen zu reden, das scheint etlichen Baumeistern zu gefühlig zu sein. Kirchen bilden da die große Ausnahme. Ja, eine zu bauen ist der Traum vieler, egal, ob gläubig oder nicht. Denn in Gotteshäusern wird der Atmosphäre viel Platz eingeräumt, ist sie doch Teil der Funktion. Da dient das Licht nicht nur dazu, das Gesangbuch zu beleuchten, es darf etwas Göttliches vermitteln.

„Uplifting“: So hatte sich Maggie Jencks die Krebszentren gewünscht. Ein wunderbares Wort, für das es keine adäquate deutsche Entsprechung gibt. Wie „uplifting“ ein Ort sein kann, der von seiner Funktion her noch viel deprimierender ist als jedes Krankenhaus, haben Axel Schultes und Charlotte Frank mit ihrem Krematorium in Treptow demonstriert. Wer die riesige Eingangshalle betritt, fühlt sich berührt. Die ungeheure Höhe des (gut beheizten) Saals hat nichts Einschüchterndes, eher etwas Tröstliches. Man fühlt, dass da etwas ist, was größer ist als man selbst. Und der Blick wird automatisch nach oben gezogen, durch die schlanken Säulen, deren samtweichen feinen Beton man sofort berühren möchte – hoch zum warmen Licht.

Auch die Akustik stimmt. Vor wenigen Wochen, am Totensonntag, trat hier ein gregorianischer Chor auf, dessen Klänge durch den Raum nach oben zu schweben schienen. Dabei konnte man herumspazieren, wie durch einen lichten Birkenwald, immer wieder einen anderen Eindruck bekommen.

Natürlich kann selbst die beste Architektur keine Wunder vollbringen, Krebszellen nicht einfach wegzaubern. Da machen sich auch die Betreiber des Maggie’s Centre keine Illusionen, die sich als Ergänzung, nicht als Alternative zur Medizin verstehen. Aber Architektur kann Menschen Kraft geben, sie berühren, und, das war der lebenslustigen Maggie Jencks besonders wichtig, erfreuen.

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