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Einige versuchen mit Munitionsresten zu handeln.

© AFP

Assads Armee könnte Idlib einnehmen: Die vielleicht letzte, blutige Schlacht nach zehn Jahren Horror

Vier Millionen Syrer leben in Idlib. Die Armee von Diktator Baschar al Assad könnte die Enklave vollends einnehmen und eine neue Flüchtlingsbewegung in Gang setzen.

Wenn die Truppen des syrischen Regimes in den nächsten Tagen auf Idlib vorrücken sollten, wenn in dieser Enklave im Nordwesten des zerrissenen Syriens das Essen, Unterkünfte, Medikamente immer knapper werden, wenn dort dann noch Islamisten eigenen Terror auf den Straßen intensivieren, dann wird das in Deutschland wohl wenige interessieren. Dabei droht eine Flüchtlingsbewegung, wie sie selbst aus Syrien lange nicht mehr gekommen ist.

Nach zehn Jahren Krieg, Hunderttausenden Toten und Millionen Vertriebenen, zeichnet sich in Idlib der Sieg der Zentralregierung ab – jener Macht, die im Westen als illegitime Herrschaft mit Sanktionen gebrandmarkt, dann von der Öffentlichkeit weitgehend vergessen wurde.

Das Gouvernement ist eine der letzten Hochburgen der Aufständischen, in dem – es gibt nur vage Schätzungen – bis zu vier Millionen Syrer leben. In vielen Orten herrschen Islamisten, anderswo säkulare Oppositionelle. Eingekeilt zwischen Truppen des Regimes und türkischer Grenze, an der sich seit Monaten viele Flüchtlinge drängen.

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Am Freitagabend verlängerte der UN-Sicherheitsrat gerade noch rechtzeitig vor Auslaufen der bestehenden Regelung die Nutzung des einzigen Korridors nach draußen: Den Grenzübergang bei Bab al-Hawa in die Türkei wollte die syrische Regierung mit Unterstützung Russlands und vielleicht auch Chinas künftig auch für Hilfstransporte geschlossen haben.

Die aktuelle, nun zunächst um sechs Monate verlängerte Regelung, die US-Präsident Joe Biden und Russlands Präsident Wladimir Putin bei einem Telefonat als Kompromiss vereinbarten, erlaubt internationalen Helfern, Güter über die Türkei in Rebellengebiete zu transportieren. Bislang sorgten die Vereinten Nationen und Sozialverbände dafür, dass jeden Monat circa 1000 Lastwagen den Korridor unter UN-Schutz passierten.

Syriens Präsident Baschar al Assad möchte solche Lieferungen nur noch über die Hauptstadt Damaskus organisieren – seine Armee könnte damit zugleich den Ring um Idlib enger ziehen.

Jacqueline Flory denkt ständig an Idlib. Die Arabisch-Übersetzerin aus München hilft geflohenen Syrern – und jenen, die in der Enklave ausharren, wobei auch dort massenhaft Flüchtlinge leben, die einst aus anderen Gegenden Syriens kamen. Flory erfährt täglich, zuweilen stündlich wie sich die Lage entwickelt. „Unsere Leute vor Ort sind in größter Sorge“, sagt Flory. „Hunger, Chaos, Gewalt werden eskalieren.“

„Es herrscht Verzweiflung, weil unklar ist, was nun passiert“

Jacqueline Flory hat mit lokalen Helfern in Idlib zehn provisorische Schulen einrichten lassen, die meisten davon in Zelten – auch ihr Verein, der mit Spenden arbeitet, heißt so: „Zeltschule“. Mit den in Idlib tätigen Lehrern spricht sie regelmäßig. Videokonferenzen über Zoom, Teams oder Facetime, wie das bei Gruppengesprächen in Deutschland heute üblich ist, funktionieren oft nicht. Der Netzempfang in Idlib sei nicht stark genug, sagt Flory, für Whatsapp-Telefonate ohne Videofunktion reicht es.

Assad-Anhänger mit Fingern in den Farben der syrischen Flagge vor einem Plakat des Herrschers (Archivbild)
Assad-Anhänger mit Fingern in den Farben der syrischen Flagge vor einem Plakat des Herrschers (Archivbild)

© AFP/Anwar Amro

„Es herrscht Verzweiflung, weil unklar ist, was nun passiert“, sagt sie nach solchen Telefonaten dann. „Selbst das Elend dort könnte noch schlimmer werden.“ Schon heute werden in Idlib von der Weltgesundheitsorganisation gelieferte Lebensmittel auf dem Schwarzmarkt gehandelt. Wird der Grenzübergang geschlossen, steigen die Preise, eskalieren Verteilungskämpfe in Idlib selbst, werden Raub und Diebstahl zunehmen. Für Assad wird Idlib von Terroristen beherrscht, er sieht sich als Garant eines geeinten Syriens, das sonst in ethno-religiöse Fragmente zerfiele. Assad hatte immer davon gesprochen, dass seine Regierung das volle Territorium einnehmen und alle Landesgrenzen mit ihren Soldaten kontrollieren werde.

Putin unterstützt das Regime in Damaskus

Wird der Grenzübergang geschlossen, sind die Aufständischen von Nachschub abgeschnitten, Assads Truppen könnten vorrücken. Wladimir Putin unterstützt das Damaszener Regime, dem sonst nur von Irans Mullahs geholfen wird, weil Moskau in der Region keine Verbündeten hat – zumindest keine so engen, dass sie ihm eine Militärbasis zur Verfügung stellen. Auch Putin spricht von Terroristen, die in Idlib herrschten.

Unterrichtet wird in provisorischen Zelten.
Unterrichtet wird in provisorischen Zelten.

© AFP

Wer genau das Sagen hat, ist unklar. Eine der mächtigsten Gruppen in Idlib ist derzeit Hayat Tahrir al Scham. Der meist HTS abgekürzten Islamistenmiliz gehören Al-Kaida-Anhänger aus der ganzen Region an, sie ist für eine Vielzahl schwerster Verbrechen verantwortlich. Was tun die HTS-Dschihadisten, wenn der Druck auf die Enklave steigt?

Flory sagt, sie selbst sei auch schon vor Ort gewesen. Über Details dazu spricht sie nicht: Idlib ist völkerrechtlich eben Staatsgebiet Syriens, dessen Regierung in Damaskus sitzt, auch wenn Assad die Region schon seit 2011 nicht mehr kontrolliert – aus Sicht des Regimes sind solche Besuche illegale Grenzübertritte.

Schulen wurden in Zelten errichtet

Öfter ist Flory im Libanon, 1,5 Millionen Syrer flohen in das Nachbarland. In Libanons riesigen Flüchtlingslagern hat ihr Verein 17 Zeltschulen aufgebaut. Wie in Idlib auch, sagt die Übersetzerin, seien syrische Pädagogen vor Ort die entscheidenden Helfer. Die syrischen Flüchtlinge, sowohl im nordsyrischen Idlib als auch im südlibanesischen Bekaa-Tal, stammten aus allen Schichten der Gesellschaft: „Wir haben Ärzte und Analphabeten.“ Islamisten seien selten dabei, die Angst vor Dschihadisten und Assad gleichermaßen ausgeprägt.

Das Curriculum in den Zeltschulen orientiere sich am syrischen Vorkriegslehrplan, ohne Koran- und Sportunterricht. Derzeit gingen 7000 Jungen und Mädchen zwischen fünf und 14 Jahren in den Unterricht der Zeltschulen, davon 1500 Kinder in Idlib. Deutschlands Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) forderte Russland nun auf, den offenen Verkehr durch Bab al-Hawa zu gewährleisten. Die Europäische Union drängt die Regierungen im UN-Sicherheitsrat zur Verlängerung der Resolution. Und der für Krisenhilfe zuständige EU-Kommissar Janez Lenarcic sagte bei einem Besuch nahe der türkisch-syrischen Grenze: „Das ist eine Frage von Leben und Tod.“

Hilfslieferungen über den letzten verbliebenen Grenzübergang könnten zum Erliegen kommen.
Hilfslieferungen über den letzten verbliebenen Grenzübergang könnten zum Erliegen kommen.

© AFP

Während sich Deutschland mit möglichen Kanzlerqualitäten und ärgerlichen Corona-Maßnahmen beschäftigt, tragen Nichtregierungsorganisationen der internationalen Gemeinschaft ein paar Minimalforderungen vor: UN-Korridor offenhalten, Lebensmitteltransporte sicherstellen, Waffenstillstand vermitteln. Darüber hinaus, sagt Flory am Telefon, sehe sie mittelfristig kaum eine Lösung: Es werde absehbar kein Syrien geben, in dem sich alle politischen Lager, alle Konfessionen, alle Ethnien arrangieren.

Die türkische Armee besetzt viele Orten der Autonomieregion

Um Idlib gibt es schon heute ständig Gefechte: Pro-Assad-Milizen und Regierungstruppen gegen Islamisten und andere Oppositionelle, zuweilen auch gegen protürkische Kämpfer, die vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan aufgerüstet wurden. Erdogan stärkte die militanten Muslimbrüder und turkmenische Nationalisten nicht nur in Syrien, bekämpft dort mit ihrer Hilfe aber besonders intensiv die kurdische Autonomiebewegung.

Zusammen mit Islamisten hat die türkische Armee viele Orte in der Rojava genannten Autonomieregion der Kurden besetzt. Immer wieder wehren sich die Einheiten der dortigen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien nicht nur gegen Zellen des „Islamischen Staates“ und Provokationen der Assad-Truppen, sondern auch gegen türkische Angriffe.

Große Teile der Infrastruktur in Idlib sind bereits zerstört.
Große Teile der Infrastruktur in Idlib sind bereits zerstört.

© AFP

Erdogan will verhindern, dass sich die Kurden grenzübergreifend, also auch im Südosten seiner Türkei erheben. Die von der säkularen Partei PYD geführten Kurden Syriens werden von den USA unterstützt – allerdings abnehmend, weshalb Assad betont, auch Rojava in den Zentralstaat zurückführen zu wollen.

Auch der Iran unterstützt mit Milizen

Womöglich plant das Regime diesen Schritt, wenn es die Aufständischen in Idlib besiegt hat. Jedenfalls ging es mit Assads Truppen, so muss man es wohl sagen, zuletzt voran. Im Februar brachten sie erstmals nach 2015 wieder die Autobahn M 5 unter ihre Kontrolle, die Damaskus mit dem Handelszentrum Aleppo verbindet. Auch aus dem Iran gesteuerte Milizen helfen dem Regime dabei.

Wenn nun der Übergang in Bab al-Hawa geschlossen würde, sagte Mohamed Altwaish, ein Arzt aus Idlib, vor einigen Tagen, dann befänden sich Millionen Syrer „in der Hand von Assad, Russland und Iran“. Die Infrastruktur vor Ort sei durch Luftangriffe oft schon zerstört.

Die Not ist so groß, dass eine enorme Fluchtbewegung befürchtet wird.
Die Not ist so groß, dass eine enorme Fluchtbewegung befürchtet wird.

© AFP

Noch ist da der türkische Staatschef Erdogan, der zwar die Aufständischen, unter ihnen Islamisten, über Jahre ausrüstete. Der aber auch Putin vergangenes Jahr von einem Waffenstillstand überzeugte, zumindest davon, von einer Großoffensive auf Idlib besser abzusehen. Längst wird nicht nur in Nordsyriens türkischen Besatzungszonen, sondern auch in Idlib seltener mit syrischem Pfund als vielmehr mit türkischer Lira bezahlt. Und Erdogan will verhindern, dass Millionen Flüchtlinge aus Idlib zur Grenze drängen. Hört Putin auf ihn?

Hunger gibt es nicht nur in Idlib, sondern auch im von Assad kontrollierten Zentralsyrien. Eine Dürre plagt das Land, das UN-Landwirtschaftsbüro FAO rechnet 2021 mit Ernteausfällen, zwölf der 17 Millionen Syrer hätten nicht genug Essen. Und auch die kurdische Selbstverwaltung teilte mit, auf den einst fruchtbaren Feldern im Osten des Landes breche die Weizen-Produktion ein.

Volksgruppen werden gegeneinander aufgehetzt

Die Kurden beobachten die Lage in Idlib aufmerksam. Bei aller Feindschaft zu den dort herrschenden arabischen Islamisten wissen sie, dass sich in Idlib womöglich abzeichnet, was auch ihnen droht. Das Regime habe in den letzten Wochen wiederholt versucht, sagen Lokalpolitiker aus Rojava, die Volksgruppen gegeneinander aufzuhetzen.

Der multiethnische, also nicht nur kurdische Exekutivrat der Autonomieverwaltung teilte dieser Tage mit: „Die Regierung in Damaskus akzeptiert keine Vorschläge zur Lösung der Syrien-Krise. Es geht ihr allein um den Machterhalt und darum, Syrien wie vor 2011 zu regieren.“ Das hört sich danach an, als stehe eine Katastrophe bevor.

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