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Matthias Schlitte (rechts) hat aufgrund eines Gendefekts einen stärkeren Arm. Beim Wrestling wird stehend gekämpft.

© Patrick Runte

Armwrestling: Kampfname "Hellboy"

Matthias Schlitte zieht die stärksten Männer der Welt über den Tisch. Sein Vorteil: ein Gendefekt und eine Mission.

Dann reißt der Bizeps. Eine halbe Minute lang haben ein kahlköpfiger Holländer, Typ Popeye, und der Deutsche Matthias Schlitte, Kampfname „Hellboy“, miteinander gerungen. Versucht, den Handrücken des jeweils anderen auf ein kleines Kissen zu drücken, das in den Armwrestling-Tisch eingelassen ist. Sanft sah das aus, fast gemütlich. Das Wanken, das Hin und Her der Arme, hat etwas Meditatives. Bis der Bizeps reißt.

„Krankenwagen, Krankenwagen“, ruft der kahlköpfige Holländer immerfort. Kein Krankenwagen weit und breit, nicht einmal ein Sanitäter. Stattdessen bringt ihm jemand in Küchenhandtücher gewickelte Eiswürfel.

„Scheiße. Habe ich sofort gespürt“, sagt Matthias Schlitte, 31 Jahre, 185 Zentimeter, 70 Kilogramm. Siebenfacher Deutscher Meister, Vizeweltmeister 2013. So was kommt, genau wie Armbrüche, immer mal wieder vor. Schlittes rechter Arm – dick wie ein Panzerrohr, 44 Zentimeter Umfang. Links zum Vergleich: 28 Zentimeter. Seine rechte Hand – groß wie ein Baseballhandschuh. Dafür verantwortlich ist ein Gendefekt, das Klippel-Trénaunay-Weber-Syndrom, auch angiektatischer Riesenwuchs genannt. Ein angeborenes, nur selten auftretendes Fehlbildungssyndrom der Gefäße, mit weltweit etwas mehr als 3000 Betroffenen.

Alles andere an Schlitte wirkt normal bis schlank. Die Konkurrenz hingegen beim „Stärksten Arm von Drenthe“, wie der Wettkampf in Anlehnung an den Namen der Provinz im Nordosten der Niederlande offiziell heißt, sieht nach viel Eisen aus, nach Jahreskarte Fitnessstudio. Sollte unter den drei anwesenden Zuschauern jemand auf der Suche nach einem Türsteher sein, hier wäre er an der richtigen Adresse.

„Wenn ich mich noch mal verletze, dann war es das“

Verloren wirken die Sportler in der Gemeindehalle der Ortschaft Pesse, in der das Turnier an diesem Abend stattfindet. Hier vermutet man kein Armwrestling. Einfach, weil man hier gar nichts vermutet. 150 Quadratmeter groß ist der Saal. Die Decke ist zaghaft mit Styropor-Ornamenten verziert. In der Ecke ein mächtiger Tresen aus Eiche, rustikal, eine Zapfanlage. Zwei Kronleuchter, ein Beamer, ein Schild neben der Ausgangstür, auf dem steht: „Have Fun“. Unklar, ob das denen gilt, die diesen Saal nutzen, oder jenen, die ihn verlassen.

Das holländische Fernsehen ist da. Ohne Kameras. Eine Abordnung nur, die erkunden will, ob Armwrestling das nächste große Ding, das nächste Darts sein könnte. Eine Sportart, die es aus der Hobbyecke, aus dunklen Kneipen, auf die große Bühne geschafft hat. Deren Stars längst Superstars und Multimillionäre sind. Die Veranstalterin des „Stärksten Arms von Drenthe“, eine drahtige Frau in Ballonseide, der man ansieht, dass sie schon jetzt zu viel geraucht hat in ihrem Leben, stellt vor: „My goal is to make armwrestling huge.“

Auch Matthias Schlitte trägt missionarischen Eifer in sich: „Wenn ich mich noch mal verletze, dann war es das.“ Jahrelang hatte er mit starken Schmerzen in seiner rechten Hand zu kämpfen, teilweise konnte er nicht einmal mehr den Schaltknauf seines Autos bewegen. Zwei Knochen klebten aneinander, die nicht aneinanderkleben sollen. Eine Operation sagte Schlitte kurz vor dem Termin ab. Das Risiko, nie wieder drücken zu können, war einfach zu groß. Sollte die aktive Zeit enden, will er nur noch als Promoter unterwegs sein. Schon jetzt plant er eine Veranstaltung in einem Einkaufszentrum. Da kommen die Leute schließlich von ganz allein. Für das im September stattfindende „Over the Top“-Turnier in Wolfsburg, ausgerichtet vom örtlichen VfL, von seinem VfL, der neben Armwrestling auch Bundesliga-Fußball im Programm hat, wirbt er ohnehin. Drückt allen einen Zettel in die Hand, auf dem in großen Lettern „Announcement“ geschrieben steht und auch die Startgebühr: „1 Arm 20,00 €“.

Das Gelenk des Gegners zu öffnen ist das Hauptziel

Arme, Leute, Sport. Mit dem Kultfilm „Over the Top“ mit Sylvester Stallone wurde Armwrestling weltweit bekannt.
Arme, Leute, Sport. Mit dem Kultfilm „Over the Top“ mit Sylvester Stallone wurde Armwrestling weltweit bekannt.

© mauritius images

Over the Top. So wie der gleichnamige Hollywood-Film aus dem Jahr 1987. Die Handlung: Truck-Fahrer Lincoln Hawk, gespielt von Sylvester Stallone, verdient sich mit Armwrestling ein wenig Geld dazu. Die Beziehung zu seinem Sohn ist gestört, die Frau schwer krank, er gewinnt die Weltmeisterschaft in Las Vegas, viel Geld und einen Lkw. Vater und Sohn kommen sich näher. Die Kritiken waren durchwachsen damals. Das Einspielergebnis auch. Der Film wurde Kult.

Und sorgte weltweit für einen Armwrestling-Boom. Damit die Szenen vom großen Finale in Las Vegas auch authentisch wirken, beschloss die Produktionsfirma, tatsächlich einen großen Wettkampf auszutragen. Eigens für den Film wurden weltweit Qualifikationsturniere veranstaltet. So kam das Armwrestling nach Deutschland.

Matthias Schlitte findet über seine Mutter zum Sport. Die sieht einen Aushang in seiner Heimatstadt Haldensleben, Sachsen-Anhalt. Gesucht wird der stärkste Armwrestler der Region. Schlitte ist 16 und gewinnt aus dem Stand heraus. Mit den Jahren wird er immer erfolgreicher.

Menschen aus aller Welt bedanken sich bei ihm

Denen, die sagen, das sei angesichts seines Gendefekts, angesichts dieses riesigen Armes, dieser riesigen Hand, ein Leichtes, entgegnet er: Ein Basketballspieler ist nicht automatisch gut, nur weil er mehr als zwei Meter groß ist. Seine Konstitution sei eine „solide Basis, nur für die absolute Spitze reicht kein starker Arm allein“.

Aber er hilft. Schlitte verfügt über einen mächtigen Hebel, vor allem aber die riesige Pranke, seine rechte Hand, ist eine echte Waffe. Er sagt: „Das Handgelenk ist mit die wichtigste Muskelpartie. Das Gelenk des Gegners zu öffnen ist das Hauptziel der Armwrestler. Bei mir ist das natürlich schwieriger, da finden die Gegner weniger leicht einen Angriffspunkt.“

Sportarten, die wachsen wollen, brauchen Gesichter und Geschichten. Schlitte bietet beides. „Vielleicht sagt in 60 Jahren, wenn ich zu Staub zerfallen bin, mal einer, der auch so einen Wuchs hat: macht nichts. So wie bei diesem deutschen Armwrestler damals, bei diesem Matthias Schlitte.“ Immer wieder erreichen ihn Mails aus aller Welt. Von Menschen, die sich bedanken. Dafür, in ihm eine Inspiration gefunden zu haben. Dafür, dass sie durch ihn ein Stück besser mit sich selbst klarkommen. Seine Bestätigung.

Die paar Hänseleien – erwischt jeden

Er hatte nie ein Problem damit, anders zu sein. Die paar Hänseleien – na und? Erwischt jeden. Und morgen einen anderen. Das lag zum einen an den „ziemlich großartigen Eltern“, sagt Schlitte. „Wenn jemand fragt, erklärst du es ihm“, haben sie ihm gesagt. Außerdem sei es gar nicht immer aufgefallen. Sobald er einen etwas weiteren Pullover trage, sei kaum noch etwas zu bemerken. Mit spätestens 16, mit dem Beginn seiner Karriere, war ohnehin alles klar: „Ah, der Armwrestler“, hieß es dann nur noch bei „Stern TV“, „Galileo“ oder „TV Total“.

Er redet gern, dieser Hellboy – benannt nach der Comicfigur mit der Pranke. Immer freundlich. Immer direkt. „Der hat mich schon zweimal geschlagen. Den Sieg jetzt wollte ich auch. So ist das natürlich scheiße. Aber kann ich ja nix für“, sagt er über seinen Gegner, den holländischen Popeye, dessen Bizeps gerissen ist. Oder zum Thema Doping: „Muss man sich erst mal leisten können. Wenn du 20 Jahre alles gewinnst, machst du vielleicht 100 000 Euro. Aber davon musst du ja auch alles bezahlen, die Reisen und die Bowle, also das Doping. Und dann mit 42 im Rollstuhl, und die Eier fallen raus? Na danke!“

Warum nimmt er all das auf sich?

Matthias Schlitte (rechts) will seine Leidenschaft auch in Deutschland groß machen.
Matthias Schlitte (rechts) will seine Leidenschaft auch in Deutschland groß machen.

© Patrick Runte

100 000 Euro. Für seinen zweiten Platz bei der Weltmeisterschaft erhielt Schlitte 500 Dollar. Beim „Over the Top“-Turnier in Wolfsburg gibt es 250 Euro für den Titel. Ein paar Sponsoren hat er. Deren Unterstützung variiert von Jahr zu Jahr. Manche stellen einfach nur ihre Produkte zur Verfügung. Es ist ein Zuschussgeschäft. Aber wenn eine WM in Brasilien stattfindet, wie 2012 in São Paulo, dann will er so oder so „vier Scheine durchladen“, sagt Schlitte, meint 4000 Euro, und dass er dann eben nicht allein für den Wettkampf hinfährt, sondern auch, um Urlaub zu machen, Land und Leute kennenzulernen.

Er mag das Reisen, ist schon in 40 Ländern gewesen. Dabei „öfter in Japan als in Österreich“. Die Asiaten lieben ihn, immer wieder fliegen sie Schlitte für TV-Shows ein. Ob es ihn stört, die moderne Form einer Jahrmarktsensation zu sein? Er sieht den Gegenwert, die Trips, die Erfahrung. Fünf Fremdsprachen spricht er. Englisch und Spanisch fließend, Schwedisch und Russisch ganz okay, ein bisschen Französisch. Er hat einen Bachelor in Linguistik, einen Master in Human Resources. Seit Anfang April arbeitet er als Sachgebietsleiter für frühkindliche Bildung und Jugendarbeit.

Training hingegen mag er überhaupt nicht. Und davon gibt es reichlich. Vor Welt- oder Europameisterschaften sind es fünf bis sechs Tage in der Woche, an denen er sich seinem Sport widmet; jeweils ein, zwei Stunden. Allgemeines Krafttraining im Fitnessstudio, Technikübungen am Tisch, Sparring. Warum nimmt er all das auf sich? Die 800 Kilometer Fahrt nach Holland und zurück, die Kosten für Hotel und Benzin, die geraubte Zeit? „Keine Ahnung“, sagt er, „ich mag Menschen. Und ich trage Armwrestling gern weiter.“ Dann überlegt er kurz, ein Lächeln schiebt sich vor die Worte: „Der Botschafter des Armwrestlings, das wäre doch eine gute Überschrift für den Text.“

Arm raus, Brust raus, Lächeln an

Wie seine Botschaft aussähe? „Beim Boxen oder beim Ultimate Fighting zerbeult man sich gleich die Fresse. Das gibt es beim Armwrestling nicht. Und trotzdem ist es modernes Gladiatorentum. Das Duell Mann gegen Mann. Und die Antwort auf die ewige Frage ,Wer ist stärker?’“

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Als nun im holländischen Drenthe ein kleiner Junge an ihn herantritt, Sohn eines Konkurrenten, ganz aufgeregt, der kleine und doch auch schon starke Mensch, weiß Schlitte sofort, was zu tun ist – Arm raus, Brust raus, Lächeln an. Und hinterher ein guter Rat: „Schau mal, ob das Foto auch wirklich was geworden ist.“

Für ihn ist der Abend auf jeden Fall was geworden. Schlitte holt den ersten Platz in der Kategorie bis 80 Kilogramm Körpergewicht, den zweiten Platz in der Kategorie bis 90 Kilogramm. Insgesamt bestreitet er an diesem Abend zehn Kämpfe. Am Sonntag nach dem Turnier wird er müde und kaputt sein, sagt er. Ab Montag dann gehen die Schmerzen los. Immerhin, der Bizeps hat gehalten.

Ilja Behnisch

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