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Deutsche Sozialdemokraten auf einer Anti-Kriegskundgebung im Juli 1914 in Frankreich.

© Ullstein

Arbeiterbewegung vorm Ersten Weltkrieg: Die Umfaller

Als im Juli 1914 Krieg droht, sind sich Europas Arbeiterparteien einig: nicht mit uns! Anfang August stimmt die SPD dann doch Kriegskrediten zu. Was ist da passiert?

Das Zentrum Berlins gleicht einem Hexenkessel. Überall versammeln sich Menschen, warten auf die neuesten Extraausgaben der Nachrichtenblätter. In einem Gebäude Unter den Linden, Hausnummer 3, befindet sich der Depeschensaal des „Berliner Lokalanzeigers“, wo Bilder zu aktuellen Meldungen ausgehängt werden. Als die demonstrierenden Arbeiter trotz der polizeilichen Straßensperren dort ankommen, treffen sie auf Gegendemonstranten. Während die einen „Hoch lebe die Sozialdemokratie“ und „Nieder mit dem Krieg“ rufen, stimmen die anderen die „Wacht am Rhein“ und „Heil dir im Siegerkranz“ an.

Nach zeitgenössischen Berichten sind die Arbeitermassen bei diesem „Sängerkrieg Unter den Linden“ sogar vorübergehend in der Überzahl, haben allerdings die Polizei gegen sich, die mancherorts mit gezücktem Säbel in die Menge reitet, was von den dicht besetzten Balkons der umliegenden Caféhäuser mit stürmischem Beifall begrüßt wird. Auch in Stuttgart gibt es an diesem 28. Juli 1914 „wüste Schlägereien“ zwischen 6000 sozialdemokratischen Arbeitern, die gegen den Krieg demonstrieren, und „nationalen“ Demonstranten, wie das „Berliner Tageblatt“ meldet.

Drei Tage zuvor hat der Parteivorstand der SPD einen Aufruf publiziert, in dem die österreichische Kriegsprovokation gegenüber den Serben scharf verurteilt wird. Unmissverständlich heißt es dort: „Kein Tropfen Blut eines deutschen Soldaten darf dem Machtkitzel der österreichischen Gewalthaber, den imperialistischen Profitinteressen geopfert werden.“ Für den 28. Juli ruft die Berliner SPD zu 32 Protestversammlungen in allen Bezirken der Stadt und den damals noch selbstständigen Vorstädten auf: „Tagesordnung: Gegen den Krieg“. Trotz des Verbots durch Polizeipräsident Traugott von Jagow beteiligen sich in Berlin mehr als 100 000 Menschen an diesen Versammlungen, in ganz Deutschland sind es über 750 000.

Am 29. Juli 1914 kommt das Exekutivkomitee der Sozialistischen Internationale in Brüssel zu einer Sondersitzung zusammen. Aus Deutschland, Österreich, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Italien, Russland und weiteren Ländern sind prominent besetzte Delegationen angereist. Die „Delegierten aller vom Weltkrieg bedrohten Nationen“ verabschieden dort einstimmig eine Resolution, in der sie die „Proletarier aller betroffenen Länder“ zu verstärkten Demonstrationen gegen den Krieg verpflichten. „Die deutschen und französischen Proletarier sollen stärker denn je Druck auf ihre Regierungen ausüben“, heißt es darin, „...damit Deutschland auf Österreich mäßigend einwirkt und Frankreich Russland dazu bringt, sich nicht in den Konflikt einzumischen“. Die Arbeiter Großbritanniens und Italiens würden diese Bemühungen mit aller Kraft unterstützen. „Der dringlich nach Paris einberufene Kongress wird diesen pazifistischen Willen kraftvoll zum Ausdruck bringen.“

Victor Adler, Begründer und Vorsitzender der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs, erklärt in den Beratungen, die Kriegsbereitschaft der österreichischen Regierung habe seine Partei völlig unvorbereitet getroffen. Die antiserbische Stimmung in Wien sei gewaltig, „die Partei ist wehrlos“. Adler schließt mit den Worten, er hoffe dennoch, dass sich der drohende Krieg vermeiden lasse: „Daran glauben, heißt vielleicht an ein Wunder glauben, trotz allem hoffen wir.“

„Ich kenne keine Parteien mehr", sagt der Kaiser

Deutsche Sozialdemokraten auf einer Anti-Kriegskundgebung im Juli 1914 in Frankreich.
Deutsche Sozialdemokraten auf einer Anti-Kriegskundgebung im Juli 1914 in Frankreich.

© Ullstein

Das Wunder ist bekanntlich nicht eingetreten. Der Kongress, der den pazifistischen Willen des Proletariats zum Ausdruck bringen soll, findet nicht statt. Die sozialdemokratischen Parteien der verschiedenen Länder, die in den Jahren zuvor versucht haben, den Krieg zu verhindern, folgen nun dem Kurs ihrer nationalen Regierungen, das Exekutivkomitee der Sozialistischen Internationale wird nie wieder zusammentreten. Die Idee grenzüberschreitender Solidarität der Arbeiterklasse scheitert an der harten Realität des Krieges.

Am 1. August 1914 erklärt das Deutsche Reich Russland den Krieg. Am Tag darauf besetzen Teile des VIII. Armee-Korps das kleine, wegen seiner Eisenbahnverbindungen strategisch wichtige Großherzogtum Luxemburg. Am Morgen des 4. August marschieren die deutschen Truppenverbände auch in Belgien ein. An diesem Tag versammelt Kaiser Wilhelm II. die Mitglieder des Reichstags im Berliner Stadtschloss zu einer Thronrede, in der er erklärt, der nun ausgebrochene Krieg sei ein Verteidigungskrieg, „das Ergebnis eines seit langen Jahren tätigen Übelwollens gegen Macht und Gedeihen des Deutschen Reichs“. Es folgen die später meistzitierten Sätze dieser Rede: „Ich kenne keine Parteien mehr. Ich kenne nur Deutsche.“

Dies ist die verkürzte Wiederholung des Aufrufs zur inneren Einheit, den der Kaiser bereits drei Tage zuvor an die Menschenmenge auf dem Schlossplatz gerichtet hat. Der Appell hat eine starke Wirkung entfaltet, weshalb Wilhelm II. ihn jetzt, obwohl er nicht im Manuskript seiner Rede steht, noch einmal wiederholt. Diesmal zielen die Sätze vor allem auf die sozialdemokratischen Mitglieder des Reichstags. Das Protokoll verzeichnet „lang anhaltendes brausendes Bravo“.

Die SPD ist bei den Reichstagswahlen 1912 mit 34,8 Prozent der Stimmen die mit Abstand stärkste Partei geworden und verfügt, trotz erheblicher Benachteiligung durch das geltende Wahlrecht, mit 111 von 417 Abgeordneten über die stärkste Fraktion. Die SPD ist zugleich die einzige Partei, die in grundsätzlicher Opposition zum semiabsolutistischen System des wilhelminischen Obrigkeitsstaats steht. Sie kämpft gegen Klassenherrschaft und Monarchie, gegen die kapitalistische Produktionsweise und das Privateigentum an Produktionsmitteln. „Dem System keinen Mann und keinen Pfennig“, lautet die berühmte Parole, die Wilhelm Liebknecht auf dem Berliner Parteitag 1892 erstmals propagiert hat. Im Reichstag und in den Landesparlamenten haben die Sozialdemokraten stets gegen den Etat und gegen alle Militärvorlagen gestimmt. Von der Obrigkeit werden sie dafür als „vaterlandslose Gesellen“ diffamiert. Bismarck hat sie zu inneren Reichsfeinden gezählt.

Als oberster Kriegsherr kann Wilhelm II. den Krieg erklären. Das tut er am 1. August. Doch zur Finanzierung braucht er den Reichstag, dessen wichtigstes Recht das Budgetrecht ist. Am 4. August kommt das Parlament zusammen, um erstmals über Kriegskredite abzustimmen. Zudem braucht der Kaiser, will er die deutschen Armeen mit Aussicht auf Erfolg in einen Krieg schicken, das Millionenheer der sozialdemokratischen Arbeiter. Deshalb kommt dem nationalen Schulterschluss, dem sogenannten Burgfrieden, enorme Bedeutung zu.

Am 3. August, nur wenige Tage nach den machtvollen Antikriegsdemonstrationen in vielen deutschen Städten, berät die sozialdemokratische Reichstagsfraktion über die Zustimmung zu den Kriegskrediten. Eine deutliche Mehrheit von 78 gegen 14 Abgeordnete spricht sich dafür aus. Anschließend wird bei 24 Gegenstimmen außerdem Fraktionszwang beschlossen. So geschieht es, dass am Tag darauf dem Partei- und Fraktionsvorsitzenden Hugo Haase, der als Pazifist zur überstimmten Minderheit gehört, die Aufgabe zufällt, die Erklärung seiner Fraktion vorzutragen.

Karl Liebknecht bleibt der Abstimmung fern

Deutsche Sozialdemokraten auf einer Anti-Kriegskundgebung im Juli 1914 in Frankreich.
Deutsche Sozialdemokraten auf einer Anti-Kriegskundgebung im Juli 1914 in Frankreich.

© Ullstein

Zunächst betont Haase, die SPD habe die verhängnisvolle Entwicklung mit allen Mitteln bekämpft und insbesondere in „innigem Einvernehmen mit den französischen Brüdern“ versucht, den Frieden zu erhalten. Dann spricht er den entscheidenden Punkt an: „Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich. Wir fühlen uns dabei im Einklang mit der Internationale, die das Recht jedes Volkes auf nationale Selbstständigkeit und Selbstverteidigung jederzeit anerkannt hat, wie wir auch in Übereinstimmung mit ihr jeden Eroberungskrieg verurteilen.“ Seine Fraktion fordere, dass „dem Kriege, sobald das Ziel der Sicherung erreicht ist und die Gegner zum Frieden geneigt sind, ein Ende gemacht wird durch einen Frieden, der die Freundschaft mit den Nachbarvölkern ermöglicht.“

Von diesen Grundsätzen geleitet, stimmen Haase und seine Sozialdemokraten den Krediten zu. Die Abgeordneten Karl Liebknecht und Otto Rühle, die sich dazu nicht in der Lage sehen, verlassen vor der Abstimmung den Saal, um das Bild der Einstimmigkeit zu wahren. Hugo Haase fällt die Zustimmung, die seiner persönlichen Überzeugung völlig widerspricht, sichtlich schwer. Schon 1898, in seiner allerersten Reichstagsrede, hat er sich kritisch mit dem preußischen Militarismus auseinandergesetzt. In den Jahren vor Kriegsausbruch hat er bei den Debatten über Heeresvorlagen der Regierung regelmäßig seine Stimme erhoben, vor einer Eskalation des Wettrüstens gewarnt und internationale Rüstungskontrollen gefordert. Bis zuletzt hat er Antikriegskundgebungen organisiert und gemeinsam mit dem französischen Sozialistenführer Jean Jaurès nach Wegen gesucht, auf die Regierungen Deutschlands und Frankreichs mäßigend einzuwirken.

Bei der Zustimmung der Sozialdemokraten zu den Kriegskrediten spielen verschiedene Überlegungen eine Rolle: die Angst vor Repressionen wie zur Zeit der Sozialistengesetze; die Anpassung an die Volksstimmung; die Sorge um die Wahrung der – wenn auch bescheidenen – sozialpolitischen Errungenschaften sowie um den organisatorischen Bestand der Partei und der Gewerkschaften; die Hoffnung auf innenpolitische Reformen, die ein gewonnener Krieg ermöglichen würde. Ein Hauptargument aber ist zweifellos, dass der gerade begonnene Krieg ein Verteidigungskrieg sei. Ähnliches gilt natürlich für die sozialistischen Parteien in England und Frankreich, die nun ebenfalls die Kriegsanstrengungen ihrer Regierungen unterstützen. Noch schneller als die SPD befürworten die Gewerkschaften den Burgfrieden. Schon am 2. August 1914 erklärt die Generalkommission den Verzicht auf Streiks zur Durchsetzung von Lohnerhöhungen für die Dauer des Krieges. Diese Verzichtserklärung hat eine durchschlagende Wirkung. Gab es im letzten Friedensjahr 1913 noch 2173 Streiks mit mehr als 4,1 Millionen ausgefallenen Arbeitstagen, sind es 1915 nur noch 60 Streiks mit über 4000 entfallenen Arbeitstagen. Das entspricht einem Rückgang um 99,9 Prozent.

Der Kriegsausbruch löst eine Welle patriotischer Erregung aus. Doch von Anfang an gibt es neben Begeisterung auch Beklommenheit, vor allem bei der Arbeiterschaft. In großen Teilen der Landbevölkerung wiederum herrscht eine tief sitzende Skepsis gegenüber fern der Heimat unternommenen Eroberungsfeldzügen. Sieht man heute die bekannten Fotos von euphorischen jungen Männern, die ihre Hüte schwenken, sollte man sich klarmachen, dass diese Kriegsbegeisterten keineswegs repräsentativ für die Gesamtbevölkerung waren, auch wenn die staatstragenden Medien das damals suggerierten.

Im Dezember 1914 bricht mit Karl Liebknecht erstmals ein SPD-Abgeordneter aus der Fraktionsdisziplin aus, stimmt im Reichstag gegen neue Kriegskredite und gibt zur Begründung eine schriftliche Erklärung zu Protokoll: „Dieser Krieg, den keines der beteiligten Völker selbst gewollt hat, ist nicht für die Wohlfahrt des deutschen oder eines anderen Volkes entbrannt. Es handelt sich um einen imperialistischen Krieg, einen Krieg um die kapitalistische Beherrschung des Weltmarkts, um die politische Beherrschung wichtiger Siedlungsgebiete für das Industrie- und Bankkapital.“ Liebknecht stimmt allen Krediten zu, die dafür bestimmt sind, die Situation der Soldaten zu verbessern und die Not der Verwundeten und Kranken zu lindern, aber er gibt seine Stimme nicht für die Finanzierung weiterer Kampfhandlungen.

Von nun an wächst die Zahl der Dissidenten bei jeder Abstimmung über neue Kredite weiter an, bis dann im März 1916 die Einheit der Fraktion zerbricht. Im Jahr darauf gründen die Kriegsgegner eine neue Partei, die USPD.

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