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Wellensittichschwarm in einer Wohnung: Bei der Tiersammelsucht werden etliche Tiere unkontrolliert gehalten. (Symbolbild)

© imago/blickwinkel

Animal Hoarding: Warum sammeln Menschen krankhaft Tiere?

215 Kanarienvögel oder 57 Katzen in einer Wohnung: Warum sammeln Menschen Tiere? Und wo liegt die Grenze zwischen Tierliebe und krankhaftem Horten?

Die Zahlen haben verblüfft. Der Deutsche Tierschutzbund machte zuletzt 59 Fälle von Tiersammelsucht öffentlich – mehr als 3600 Tiere waren betroffen. Die Dunkelziffer könnte noch weitaus höher liegen. Im Schnitt befinden sich 62 Tiere, meist Katzen oder Hunde, in den Wohnungen der Tiersammler. Aber was treibt Menschen dazu, sich so viele Tiere anzuschaffen? Wo hört Tierliebe auf und wo fängt krankhaftes Horten an? 

„Man kann schlecht eine Anzahl an Tieren nennen“, sagt Sarah Ross von der Tierschutzorganisation Vier Pfoten. Ausschlaggebend sei der Zustand, in dem die Tiere sich befinden. Laut Ross würden es Tierhorter versäumen, auch nur minimale Standards für Ernährung, Hygiene, Unterbringung und tierärztliche Versorgung einzuhalten. 

Diese Vernachlässigungen würden dann oft zu Krankheit und Tod durch Verhungern, Verbreitung von Infektionskrankheiten und unbehandelten Verletzungen oder Erkrankungen führen. Der Unfähigkeit der Versorgung seien sich die Tierhorter jedoch nicht bewusst und hielten trotz des Versagens zwanghaft am Sammeln fest, so Ross weiter. 

Animal Hoarding als Ausdruck einer psychischen Störung 

Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, beschreibt Animal Hoarding als ein Symptom einer psychischen Erkrankung. „Es geht um Kontrollverlust, oft leiden die Betroffenen auch an Selbstvernachlässigung, was ein Ausdruck einer Depression sein kann. Hinzu kommt der Zwang des Sammelns – nicht nur von Tieren. All das ist dann ein Ausdruck einer psychischen Störung.“ 

Oft ginge das Horten von Tieren auch mit einem sogenannten Messie-Syndrom einher. Das Sammeln von Dingen gerät außer Kontrolle, betroffene Wohnungen oder Häuser sind nahezu unbewohnbar. Ein Unterschied zwischen dem Messie-Syndrom und Animal Hoarding sei jedoch, dass im letzteren Fall aufgrund des Tierschutzes unbedingt interveniert werden müsse, so Munz.

Animal Hoarding geht oft mit einem Messie-Syndrom einher, bei dem Betroffene ihre Wohnungen verwahrlosen lassen.
Animal Hoarding geht oft mit einem Messie-Syndrom einher, bei dem Betroffene ihre Wohnungen verwahrlosen lassen.

© imago stock&people

„Tiere, die von Tiersammlern gehalten werden, sterben häufig vorzeitig“, sagt Sarah Ross. Zum Teil würden die Körper dieser Tiere dann nicht entfernt und  in der Wohnung verwesen, inmitten der lebenden Tiere, die sich mitunter von den toten Tieren ernähren würden. „Der Gesamtzustand mündet in völliger Verwahrlosung von Tieren, Menschen, Wohnung, Haus, Grundstück.“ 

Tierhorter  würden fatalerweise weder die Notwendigkeit erkennen, die Anzahl der Tiere auf ein normales Maß zu reduzieren, noch würden sie ein Bewusstsein für ihre eigene Unfähigkeit zeigen, die Tiere angemessen zu versorgen. Der letzte Ausweg sei ein Eingreifen der Behörden.  

Corona verstärkt das Problem 

In ihren Fallsammlungen zählten die Tierschützer seit 2012 mehr als 26.000 betroffene Tiere. Die Dunkelziffer könnte vor allem seit der Corona-Pandemie weitaus höher liegen. Lockdown und soziale Isolation haben seit 2020 zu einer zunehmenden Anschaffung von Haustieren geführt, der Welpenhandel boomt.

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„Auch wenn an den Zahlen nicht direkt auszumachen ist, ob und wie die Corona-Pandemie das Problem beeinflusst, könnte die verstärkte Isolation der Menschen langfristig zu vermehrten Fällen von Animal Hoarding führen", sagt Moira Gerlach, Fachreferentin für Heimtiere beim Deutschen Tierschutzbund. 

Vor allem seien Menschen, die schon vor der Pandemie die Tendenz hatten, viele Tiere zu halten, und bei denen bereits psychische Probleme zugrunde liegen, anfällig für eine verstärkte Tierhortung.

Der Tierschutzbund fordert ein für Veterinärbehörden einsehbares übergreifendes Zentralregister von Tiersammlern und eine Heimtierschutzverordnung mit eindeutigen Vorgaben für Zucht und Haltung einzelner Tierarten. Zudem solle das Sammeln von Tieren als Krankheit anerkannt werden. Die Fälle der vergangenen Wochen zeigen, wie groß das Problem des Animal Hoarding auch 2021 wieder ist.

Wenn Tierliebe zum Problem wird: Das krankhafte Sammeln von Tieren wird Animal Hoarding genannt. (Symbolbild)
Wenn Tierliebe zum Problem wird: Das krankhafte Sammeln von Tieren wird Animal Hoarding genannt. (Symbolbild)

© picture alliance/AP Photo

Ende Juli beschlagnahmte die Polizei in Düsseldorf 18 Hunde. Am selben Tag wurden in Haßberge 27 Katzen aus einer Zweizimmerwohnung geholt. Anfang August retteten Tierschützer weitere 18 Katzen aus einem Haushalt in Bochum. Die Tiere wurden in Tierheimen untergebracht und dort versorgt. 

„Keine gesunde Tierliebe“ 

Doch wo liegt die Grenze zwischen fürsorglicher Tierliebe und krankhaftem Horten? „Der Animal Hoarder selbst hat keinen Leidensdruck. Er erlebt die Situation ohne eigenes Leiden und denkt im Gegenteil, dass er den Tieren Schutz bietet“, sagt Dietrich Munz. „Die Grenze zwischen Tierliebe und Hortung ist immer fließend.“ 

Das bestätigt auch Sarah Ross: „Animal Hoarding ist keine gesunde Tierliebe. Die Besitzer der Tiere lieben diese sehr, können die Tiere jedoch nicht mehr artgerecht versorgen. Dies führt zu sehr starkem Tierleid.“

Oft findet eine Stigmatisierung der Tierhorter statt, Munz plädiert für einen bewussten Umgang mit den Betroffenen: „Das sind Menschen mit großen psychischen Schwierigkeiten. Wichtig ist ein Angebot sozialer Hilfe, damit die Betroffenen ein Gefühl von Hilfe statt von Strafe bekommen.“ 

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Meist seien alleinstehende, geschiedene oder verwitwete Menschen über 50 oder 60 Jahren betroffen. Auffällig sei zudem die größere Anzahl an Frauen, die Tiere horten. Soziale Ängste und ein isoliertes, zurückgezogenes Leben seien typisch für Tierhorter, oft verbunden mit starken Selbstzweifeln und Angst vor Ablehnung, wie Psychotherapeut Munz erläutert.

45 Fälle allein in Berlin zwischen 2016 und 2020

Im vergangenen Jahr stellte der Berliner AfD-Abgeordnete Marc Vallendar eine parlamentarische Anfrage zur Tierhortung. Laut der vom Abgeordnetenhaus veröffentlichten Antwort der Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung im November 2020 seien seit 2016 in Berlin 45 Fälle von illegal gehorteten Tieren erfasst worden. 

Insbesondere seien vermehrt Hunde und Katzen bei sogenannten Tier-Messies gefunden worden, hieß es in der Mitteilung. Diese Daten würden sich auf Beschlagnahmungen in Fällen beziehen, bei denen viele Tiere gehalten worden seien. 

Die Größenordnungen variierten: In Friedrichshain-Kreuzberg wurden bei einem Einsatz 2018 unter anderem 215 Kanarienvögel beschlagnahmt. In einem anderen Fall wurden in Tempelhof-Schöneberg 57 Katzen in einer Wohnung entdeckt. Auch 90 Hühner (Steglitz-Zehlendorf) und 23 Schlangen (Tempelhof-Schöneberg) tauchten in der Statistik auf. 

Die Zahlen spiegeln jedoch nur einen Bruchteil der tatsächlichen Fälle wider. Viele der Bezirke würden nach Angaben der Senatsverwaltung diese Daten gar nicht erheben. Hinzu kommt die Dunkelziffer der nicht bekannten Fälle.
(mit AFP, dpa)

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