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Ein Prösterchen auf den Feierabend - und dann langsam zur Ruhe kommen. Aber was ist mit denen, die keinen Alkohol mögen?

© Bernd Weißbrod/dpa

Alkohol in Deutschland: Eine diverse Gesellschaft braucht mehr als ein Rauschmittel

Nicht alle mögen es, wenn Alkohol ihre Sinne vernebelt. Sie würden sich lieber anders anheitern. Aber "anders" ist illegal. Ist das noch tragbar? Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Ariane Bemmer

Am Bahnhof Berlin-Südkreuz liegt ein Mann auf dem Vorplatz. Rechts von ihm trinken Reisende Kaffee, links halten Fernbusse. Er merkt davon nichts. Er ist betrunken und schläfrig. Was er merkt, ist, dass er ein Bedürfnis hat. Im Liegen öffnet er den Reißverschluss und erleichtert sich, es rinnt über Hand und Hose. Ein Reisender zückt sein Handy und filmt die Szene mit angeekeltem Gesicht.

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Im Zug ein paar Tage später. Durch die Lautsprecher im Fernzug von Berlin nach irgendwo wird zum Besuch des Bord-Restaurants eingeladen: Vielleicht hätten die Reisenden Appetit auf ein Abendessen oder Lust auf ein Feierabendbier.

Alkoholkonsum hat eine akzeptierte, sogar erwünschte Erscheinungsform, und eine völlig unakzeptierte. Mit Blick auf den ruinierten Mann vorm Bahnhofsvorplatz sollte man meinen, es wäre besser, Alkohol zu verbieten. Weil so entsetzlich ist, wo der einen hinführen kann.

Überall wird für Alkohol geworben - ohne Rücksicht auf die Alkoholkranken

Bei einer Radiodebatte malte unlängst Berlins CDU-Fraktionsvorsitzender Burkard Dregger das große Elend aus, das am Ende einer Drogenkarriere stehen könne, die mit Marihuana angefangen habe. Das ist ein verständlicher wie üblicher Ansatz der Drogenliberalisierungsgegner. Aber Leben ruinieren kann eben auch Alkohol, für dessen Konsum auf Plakaten im Straßenbild, im Fernsehen oder eben in der Deutschen Bahn geworben wird. Letztlich also überall – und damit können davon auch Menschen angesprochen werden, die sich gerade bereits aus ihrer Alkoholsucht rauskämpfen.

[Lesen Sie hier bei T-Plus: Alkoholkonsum einschränken? Was Verkaufsverbote und andere Maßnahmen bringen.]

Suchtforscher kritisieren immer wieder und auch unlängst in ihrem Alternativen Drogenbericht die ihrer Meinung nach zu industriefreundliche und zu wenig gesundheitspolitische Ausrichtung der deutschen Alkohol- und Tabakstrategie. Die Prävention dort stagniere auf niedrigem Niveau, was eine Fahrlässigkeit sei angesichts der hohen sozialen Kosten – siehe Verkehrsunfälle oder Gewalttaten unter Alkoholeinfluss.

Aber die Klagen nützen nichts. Hierzulande zieht man es vor, auf die harmlose Seite des Alkohols zu fokussieren: die Erfrischung nach dem Sport, das Anstoßen beim Geburtstag, die heitere Ausgelassenheit auf der Party, die Kennermiene der Whiskeygenießer am Kamin.

Mehr Herkünfte, mehr Hautfarben, mehr Konsumdiversität

Vielleicht käme die Dauerdebatte über eine adäquate Drogenpolitik mal vom Fleck, wenn sich die Akteure diese Willkür eingestehen würden, statt dauernd mit Gewissheiten über vermeintliche Gefährlich- oder Harmlosigkeiten zu hantieren. Nötig ist das, denn die Drogenpolitik kann nicht bleiben, wie sie ist.

Die Gesellschaft wird diverser. Das betrifft nicht nur Herkünfte, Hautfarben, Religionen, Traditionen, Genderfragen, das betrifft natürlich auch Konsumgewohnheiten, und zu denen gehören auch Rauschmittelvorlieben. Nicht alle mögen es, wenn ihnen Alkohol die Sinne vernebelt. Manche rauchen lieber Joints.

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Sollte man wirklich alle Menschen in ein und dasselbe Rauschmittel drängen? Ist das nicht eigentlich ein ziemlich verrückter Ansatz?

Diese anstrengende Gesellschaft ist rausch-affin. Menschen brauchen Auszeiten – und weil sie wenig Zeit haben, greifen sie zu Abschalt-Beschleunigern: Feierabendbier ist ein gutes Wort dafür. Es wäre jederzeit möglich, Feierabendjoint für genauso gut zu halten. Man müsste nur ein paar ideologische Hürden überwinden. Und erkennen, dass Drogentote ein ganz anderes Problem sind – wie auch der arme Mann vom Bahnhof Südkreuz.

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