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Begegnungszentrum. Das Stephanusstift in Berlin-Weißensee war lange Zeit ein Ort von Jahrestreffen der Aktion Sühnezeichen, auch anno 1969.

© ASF-Bildarchiv

60 Jahre Aktion Sühnezeichen: Der Wiedergeborene: Lothar Kreyssigs erstaunliche Wandlung

Als Burschenschaftler denkt er national, später zeigt er als Richter die Nazis an – wegen Mordes. Doch das war nicht genug, findet Lothar Kreyssig und gründet 1958 die Aktion Sühnezeichen.

Am Nachmittag des 30. April 1958 tritt ein nervöser Herr im dunklen Dreiteiler vor die Vertreter der Evangelischen Kirche Deutschlands. Die Stimmung im Raum ist gereizt. Den ganzen Tag schon haben die Teilnehmer der Synode im Spandauer Johannesstift über die einen Monat zuvor beschlossene Entscheidung der Regierung gestritten, die Bundeswehr mit Trägersystemen für Atomraketen auszurüsten. 18 Redner haben gesprochen, der Synode drohte die Spaltung. Die Kirchenmänner sind müde, manche frustriert, kurz: Der Zeitpunkt für das, was Lothar Kreyssig vorschwebt, ist alles andere als ideal.

Wieder mal. Bereits vor vier Jahren hatte der Präses seine Rede in Leipzig halten wollen, war dann aber doch wieder davon abgekommen. Der Moment schien nicht passend. Auch diesmal hat er lange gezögert. „Erst am Vorabend der Synode wurde ich, so wie man es nur selten erlebt, gewiss, dass es jetzt geschehen müsse“, schreibt er später in einem Brief. Dass die Welt gerade mal 13 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg erneut am Abgrund steht und die Grenze zwischen den Machtblöcken durch Deutschland lief, hat ihn in einen Zustand „getroster Verzweiflung“ gestürzt.

„Wir bitten um Frieden“

Kreyssig geht es an jenem Mittwoch um ein „Versöhnungszeichen“. Ein Friedensprojekt. Ein Wagnis, denn dass sein Vorhaben im Wirtschaftswunderland, das damals gern einen Schlussstrich unter die Nazizeit gezogen hätte, wohlwollend aufgenommen wird, ist alles andere als gewiss.

Zivilcourage. 1940 erfährt Kreyssig von den Euthanasiemorden – und zeigt den Chef der Reichskanzlei an.
Zivilcourage. 1940 erfährt Kreyssig von den Euthanasiemorden – und zeigt den Chef der Reichskanzlei an.

© bpk / Friedrich Franz Bauer

Also tut er etwas, was er selten tut. Er fasst sich kurz. Gerade einmal vier Minuten dauert die Ansprache, die die Geburtsstunde der Aktion Sühnezeichen markiert.

„Wir bitten um Frieden“, beginnt er. Ein demütiger Einstieg in eine Rede, die schnell einen kämpferischen Ton annimmt. Kreyssig erinnert an den Holocaust und das Leid, das die Deutschen über die Welt gebracht hatten, um sodann sich selbst und seine Mitbürger hart anzugehen. „Wer von uns Überlebenden das nicht gewollt hat, der hat nicht genug getan, es zu verhindern.“

Ein Schlussstrich kommt für ihn nicht infrage. Genau das wäre der falsche Weg. Der desolate Zustand der Gegenwart liege auch an dem Umgang mit dem Gewesenen. „Wir haben vornehmlich darum noch keinen Frieden, weil zu wenig Versöhnung ist“, argumentiert er. 13 Jahre seien erst in dumpfer Betäubung, dann in neuer angstvoller Selbstbehauptung vergangen. Er warnt: „Es droht zu spät zu werden.“ Bitterkeit und Hass könne aber nur begegnet werden, wenn „wir selbst wirklich vergeben, Vergebung erbitten und diese Gesinnung praktizieren“.

79 von 120 Synodalen unterzeichnen

Ein Ausweg könnte so aussehen: Kreyssig bittet die Länder, die unter den Verbrechen der Nazis gelitten haben, den Deutschen zu erlauben, mit ihren Händen und ihrem Geld Gutes zu tun: gemeinnützige Arbeit verrichten, in Krankenhäusern helfen, beim Wiederaufbau anpacken.

79 von 120 Synodalen unterzeichnen den Aufruf zur Aktion Sühnezeichen schließlich. Heute unterhält die Organisation Büros in 13 Ländern und hat in den vergangenen 60 Jahren mehr als 10 000 Freiwilligen einen Einsatz ermöglicht.

Doch wie kommt ein ehemals national gesinnter Jurist, der die Weimarer Republik „mit angestrengter Verachtung“ betrachtete, der freiwillig im Ersten Weltkrieg kämpfte, der 1920 im Kapp-Putsch mit der Waffe in der Hand aufständischen Arbeitern entgegentrat, dazu, so eine Rede zu halten? Kreyssigs Geschichte ist die einer erstaunlichen Wandlung.

Über seine Kindheit schweigt er hartnäckig

Willkommen. Premierminister David Ben-Gurion (links) empfängt 1963 Deutsche in Israel.
Willkommen. Premierminister David Ben-Gurion (links) empfängt 1963 Deutsche in Israel.

© ASF-Bildarchiv

Vorgezeichnet ist ihm der Weg zum „Prophet der Versöhnung“, wie sein Biograf Konrad Weiß ihn nennt, wahrlich nicht: Lothar Ernst Paul Kreyssig wird am 30. Oktober 1898, einem Sonntag, in Flöha nahe Chemnitz geboren. Sein Vater Paul Ferdinand ist Getreidegroßhändler, die Familie wohlhabend, der Sohn schreibt Gedichte, spielt Geige.

Viel mehr ist über seine Kindheit und Jugend nicht bekannt. Kreyssig schweigt später hartnäckig. Vielleicht, weil er keine besonders schönen Erinnerungen an seinen mitunter cholerischen und gewalttätigen Vater hat. Wohl eher aber, weil er jenem Lebensabschnitt so wenig Bedeutung wie möglich beimessen will. Als „vorgeburtliche Existenz“ bezeichnet er die ersten 30 Jahre seines Lebens. In seiner ob ihrer barocken Ausführungen und weit ausholenden Reflexionen selbst von Freunden als unleserlich bezeichneten Autobiografie widmet er ihnen gerade mal zwei Seiten.

Unstrittig ist: Kreyssig meldet sich 1916 freiwillig zum Kriegsdienst, 1917 wird er zur Artillerie eingezogen. Was er an der Front erlebte, behält er für sich. Wieder zurück, schreibt er sich in Leipzig für Jura ein, tritt der schlagenden Verbindung „Grimensia“ bei und ist „bei jedem nationalen Krawall dabei“. 1922, ein Jahr vor seiner Promotion, heiratet er. Kreyssig gilt als begabter Jurist. 1926 geht er ans Landgericht Chemnitz, 1928 wird er Richter. Sein Arbeitspensum und -eifer ist enorm. Seine Söhne sehen ihn selten.

Nach dem Tod seines Vaters studiert er die Bibel

So hätte es weitergehen können. Im selben Jahr jedoch beginnt Kreyssigs „Verwandlung“, wie er diese Phase selbst nennt. Die Bibel und das Gebet hatten in seinem Elternhaus keine Rolle gespielt. Am Totenbett seines Vaters überrollen ihn jedoch plötzlich Fragen nach dem Sinn des Lebens. Er denkt an Gott. Kreyssig beginnt das Bibelstudium. Mit dem Feuereifer, mit dem er sich in alle neuen Aufgaben wirft. Seine Frau Johanna betrachtet den Glauben wohl zunächst als neuerliche Schwärmerei, doch Kreyssig meint es ernst und spätestens 1933 ist aus dem einstigen NSDAP-Wähler ein überzeugter Christ und auch Demokrat geworden. 1934 tritt er der oppositionellen Bekennenden Kirche bei. Ein Jahr später wird er Präses der Synode in Sachsen.

Wiederholt eckt Kreyssig mit seinen Ansichten und Einwürfen an. Immer wieder soll er aus dem Richteramt entfernt werden. Dass er nie im Lager landet, bezeichnet er später als Wunder.

1937 lässt sich Kreyssig nach Brandenburg an der Havel versetzen. Dort hat er einen Hof gekauft, den er nach biologischem Modell bewirtschaften will. Das Gehöft ist in einem erbärmlichen Zustand, vier Pferde, sechs Kühe, ein paar Schweine, zwei Gänse. „Bruderhof“ tauft er ihn. Ausgelastet scheint Kreyssig jedoch nicht. Parallel arbeitet er als Laienpastor und Richter am örtlichen Amtsgericht.

Die Nazis töten bis 1945 mehr als 70 000 Behinderte

Generationen. Freiwillige arbeiten heute wie in Tel Aviv oft mit Senioren.
Generationen. Freiwillige arbeiten heute wie in Tel Aviv oft mit Senioren.

© ASF-Bildarchiv

Hier ereignet sich der nächste große Wendepunkt in seinem Leben. Im Frühsommer 1940 landen auf Kreyssigs Schreibtisch mehrere annähernd gleichlautende Dokumente, aus denen Vormünder und Pfleger überraschend vom Tod ihrer geistig behinderten Mündel erfahren. Kreyssig kommt die Sache verdächtig vor, es kursieren bereits Gerüchte, dass die Nazis psychisch Kranke umbringen. Er beschwert sich, wird vom Staatssekretär des Justizministeriums einbestellt und erfährt: Tatsächlich wurden im ersten Halbjahr 1940 rund 9000 Behinderte systematisch ermordet. Allein im Juni waren es 5000.

Kreyssig protestiert – theologisch und juristisch. „Ein Führerwort schafft kein Recht“, sagt er und zeigt, nachdem ihm barsch mitgeteilt wurde, in Deutschland gebe es 1400 Vormundschaftsrichter und er sei der einzige, der ein Problem sehe, den zuständigen Chef der Reichskanzlei, Philipp Bouhler, wegen Mordes an. Den Anstaltsleitern in seinem Zuständigkeitsbereich untersagt er fortan, Patienten ohne seine Zustimmung zu verlegen.

Den Nazis reicht es. Kreyssig wird erst beurlaubt, 1942 dann endgültig in den Ruhestand geschickt. Das Morden geht weiter, bis 1945 fallen der „Aktion T4“ mehr als 70 000 Menschen zum Opfer.

Den Rest des Krieges verbringt Kreyssig auf seinem Gut, wo er zwei Jüdinnen versteckt und – obwohl die Nazis biologisch-dynamische Landwirtschaft inzwischen verboten haben – Rekordernten einfährt.

Kreyssig wollte nie eine Ehrendoktorwürde annehmen

Nach 1945 widmet er sich der kirchlichen Arbeit und bekleidet mehrere leitende Ämter. Die karitative Tätigkeit steht dabei immer im Vordergrund. 1957 ruft er beispielsweise zur Aktionsgemeinschaft für die Hungernden auf. Trotz des Mauerbaus arbeitet die Aktion Sühnezeichen in beiden deutschen Staaten weiter, Kreyssig leitet die Arbeit in der DDR, die Stasi überwacht ihn. 1971 dann siedeln er und seine Frau über nach West-Berlin.

Für Dagmar Pruin, eine der zwei aktuellen Geschäftsführerinnen von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, kurz ASF, wie der Verein seit 1968 heißt, ist Kreyssigs Akt der Zivilcourage bis heute ein Leitgedanke. „Seine Anklage widerlegt das Narrativ, es sei damals nicht möglich gewesen, etwas zu tun“, sagt sie. Von dem Büro in Mitte aus steuert die 47-Jährige die Tätigkeiten in der Welt. „Sühnezeichen ist dorthin gegangen, wo Partner mit uns zusammenarbeiten wollten.“

Bildung. Andere organisieren Ausstellungen in Frankreich.
Bildung. Andere organisieren Ausstellungen in Frankreich.

© ASF-Bildarchiv

Momentan sind das unter anderem Israel, Polen, Belgien, Norwegen oder Russland. In Tschechien organisieren einige der jährlich 180 jugendlichen Freiwilligen seit Längerem das deutschsprachige Bildungsprogramm im ehemaligen Konzentrationslager Theresienstadt. In London arbeiten Freiwillige mit Senioren im Jewish Refugee Center, in Washington, D.C., im Holocaustmuseum. In Deutschland engagiert man sich unter anderem für Flüchtlinge und gegen Rassismus. „Wir treten ein für eine starke inklusive Zivilgesellschaft“, sagt Pruin.

Lothar Kreyssig stirbt am 5. Juli 1986 im Alter von 87 Jahren in Bergisch-Gladbach. Seine Geschichte ist heute gemessen an seinem Lebenswerk vergleichsweise unbekannt. Vielleicht liegt das auch an ihm. So prinzipientreu und sperrig er gewesen sein mag, eitel war er nicht. 14 Mal wird ihm im Laufe seines Lebens von internationalen Universitäten eine Ehrendoktorwürde angetragen. Angenommen hat er keine.

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