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So voll wie 2019 soll es auch dieses Jahr beim Londoner Gay Pride werden.

© IMAGO/Zoonar

48 Stunden stolzes London: Wo Dragqueens den ersten Pride in Europa feiern

Die „Pride“ am 2. Juli feiert 50 Jahre queere Sichtbarkeit. Ein Vorab-Stadtrundgang mit Dragqueens, Bloody Mary und viel Popmusik.

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Am 1. Juli 1972 erregte eine Parade von etwa 700 Männern und Frauen die Aufmerksamkeit der Londoner Öffentlichkeit. Der Zug bewegte sich vom Hyde Park zum Trafalgar Square, wurde von Passanten beworfen und von der Polizei notdürftig geschützt. Es war die erste Pride-Parade auf dem europäischen Kontinent, in Erinnerung an die Polizeirazzia in der New Yorker Schwulenbar Stonewall Inn drei Jahre zuvor.

In diesem Sommer jährt sich das Ereignis zum 50. Mal und der London Pride am 2. Juli wird in Gedenken an die erste Demonstration deren damals gewählte Route nehmen. Einfach mal vorher den zwei Kilometer kurzen Weg entlang gehen, am Hotel Ritz vorbei, der Royal Academy of Arts und dem Piccadilly Circus – und sich vorstellen, eine Stunde lang diese Strecke unter den Augen einer im besten Fall ignorierenden Gesellschaft entlangzumarschieren. Zum Glück hat sich die Situation der LGBTQI-Community in Europa verbessert, dieses Jahr werden zur Pride-Feier in London rund eine Million Teilnehmer erwartet.

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Im Januar 1979 wurde zwischen dem British Museum und dem Fernbahnhof King’s Cross der erste Homo-Buchladen des Landes gegründet. „Gay’s The Word“ (66 Marchmont Street) war auch als Treffpunkt für hauptsächlich linke Gruppen gedacht, die „Lesbians and Gays Support the Miners“ trafen sich beispielsweise in den Räumen – auf Zelluloid verewigt im britischen Drama „Pride“.

Das kleine Geschäft ist schnell ausgemacht, über dem Eingang markieren zwei rosa Winkel den Schriftzug – das Zeichen homosexueller KZ-Gefangener. Von Beginn an wollten die Ladengründer Sichtbarkeit fördern und präsentierten in den Schaufenstern Bücher, die manch Kleingeist als anstößig empfand. Über die Jahre hinweg wurde das Glas mehrmals eingeschlagen. „Gay’s The Word“ ist einer der wenigen queeren Buchläden, die in Großbritannien überlebt haben, und verkauft nach wie vor nur Spartenliteratur.

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Allerdings ist das Sortiment inzwischen weniger polarisierend. Romane von Douglas Stuart oder Bernardine Evaristo haben inzwischen Mainstream-Preise gewonnen, die „Heartstopper“-Comics von Alice Oseman hat gerade Netflix adaptiert. Stöbern, lesen und ruhig vom hervorragend geschulten Verkaufsteam beratschlagen lassen.

Endlich hat die queere Community ein eigenes kleines Museum bekommen.
Endlich hat die queere Community ein eigenes kleines Museum bekommen.

© Ulf Lippitz

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Hinter dem gründlich renovierten Bahnhof King’s Cross befindet sich seit kurzem das erste Museum der Queer-Bewegung. Vielleicht ist der Begriff Museum etwas zu monumental für die drei Ausstellungsräume plus Shop, aber die Außenwirkung von Queer Britain (2 Granary Square) kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Seit 2018 hat sich die Initiative um einen Standort bemüht. Bis zum Juli werden Fotografien aus der Nachkriegszeit gezeigt, danach präsentiert das Haus Artefakte der schwul-lesbischen Geschichte.

Hunger bekommen? Neben dem renovierten Backsteinbau hat der Canopy Markt geöffnet. Was darf es sein: Austern, sizilianische Canolli oder gleich ein Glas Naturwein?

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Soho gilt seit Jahrzehnten als Ausgehviertel der Schwulen. Zum einen, weil die Theater des West End genau daran grenzen und die Branche, nun ja, nicht gerade den heterosexuellsten Ruf hat. Zum anderen, weil im einstigen Rotlichtviertel so manches vermeintliche Laster blühte. Nach wie vor befinden sich um die Old Compton Street viele Bars und Cafés auf engem Raum. Der erste Besuch gilt jedoch dem Soho Square, gleich hinter der neuen U-Bahnstation Tottenham Court Road. Auf dem Platz trifft sich die Metropole. Junge Pärchen, Touristen, Mittagstrinker, Tischtennis-Cracks – und der eine oder andere Flirtexperte.

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Die Sonne scheint auf den Soho Square. Letitia Delish ist nicht glücklich. Die Dragqueen aus East London sagt: „Mein Make-up verschwimmt gleich!“ Sie führt Gruppen zwischen vier und 30 Pesonen durch Soho, erzählt die Geschichte von den Anfängen als Jagdgrund für Heinrich den Achten bis hin zum gentrifizierten Tummelplatz des 21. Jahrhunderts.

Heute trägt sie grauen Glitzerbody, lila Perücke und ein weiß geschminktes X auf der Nase. Die Blicke der Passanten ignoriert sie kühl. Die Idee zu den Motto-Touren von Dragged Around London (grob übersetzt: umhergeschleift in London) kam einem Freund, den die gesamte Welt nur DJ nennt und der nach Aufenthalten in Singapur, Neuseeland und Brunei den Einfall hatte, Dragqueen-Touren an der Themse anzubieten.

Sex Education mit George Michael

Er ist heute auch dabei, schleppt einen bunten Hackenporsche hinter Letitia her, stellt die Musik an, und als Madonna „Material Girl“ singt, erklärt Letitia, wie sich die Schwulen in Soho mit einer eigenen Sprache verständigten, dem sogenannten Polari. „A friend of Brenda“ stand für einen Zivilpolizisten, „I’ve nanti dinarly“ hieß: Sorry, habe kein Geld.

Letitia bleibt vor einem Pub in der Broadwick Street stehen: „Was ist hier der bedeutendste Ort schwuler Subkultur?“ George Michael sei Dank ist die Antwort eindeutig: die öffentliche Toilette auf der gegenüberliegenden Seite. Der Popstar wurde 1998 in einem Klo festgenommen (allerdings in L.A.), als er darin Sex mit einem Mann haben wollte. Cottaging heißt diese Praxis – und war jahrzehntelang der einzige Weg für Schwule, sich auszuleben.

Wolken ziehen am Himmel auf, Letitia kriegt richtig gute Laune. „Endlich Dragqueen-Wetter!“

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Letitia verabschiedet sich vor dem Pub Admiral Duncan in der Old Compton Street. Eine Plakette erinnert an den Anschlag 1999, als ein Neonazi in dem Lokal eine Nagelbombe zündete und drei Menschen getötet wurden. Ein Türsteher wacht heute über die Menschen, die hineingehen. Ist das Leben freier geworden? Ja, meint Letitia, aber trotzdem stünden viele Treffpunkte der Community immer noch unter besonderer Beobachtung der Polizei. „Nach dem Lockdown wurden proportional mehr LGBT-Bars kontrolliert, ob sie die Regeln einhalten“, sagt sie.

21 UHR
Nun aber rüber ins East End. Dort hat sich in den vergangenen 15 Jahren eine eigene queere Szene etabliert. Die U-Bahn nach Bethnal Green nehmen und dort in den Pub Queen Adelaide einkehren. Am Wochenende mischen sich oben am Tresen lesbische Pärchen und schwule Party People, auf dem Sofa neben dem Eingang knutschen gerade vier Männer in ständig wechselnden Konstellationen miteinander. Im kleinen Club unten darf zu Popmusik getanzt werden, die anderswo als unernst gilt. Die Spice Girls und Bananarama genießen hier Held:innenstatus.

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Letzte Station an einem Samstagabend: das Glory in Hackney (218 Kingsland Road). Der Pub hat sich in den vergangenen Jahren einen exzellenten Ruf als Partyort erworben. Zehn Pfund Eintritt für zwei Tanzflächen, auf beide passen höchstens 80 Menschen, oben an der Bar spielen die DJs Klassiker aus den 80er Jahren, unten tanzen junge Menschen zu Elektro. Eben noch Bartender, jetzt schmettert die bärtige Lady Songs auf der Bühne. Alles hier versprüht die Energie eines niemals zu Ende gehenden Kindergeburtstags: Bunte Wimpelketten durchziehen den Raum, ein Pfeiler ist zu einer Disco-Palme umdekoriert, die Besucher tragen schillerndes Make-up. „Another pint?“, fragt der Barmann um eins. Ach, ja, läuft doch gerade „Blue Monday“ in der Maxiversion.

Im Dalston Superstore kann man nachts super tanzen und morgens super brunchen.
Im Dalston Superstore kann man nachts super tanzen und morgens super brunchen.

© mauritius images / Alamy Stock P

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Eine rosafarbene Perücke auf Beinen rauscht durch den Raum, von der Toilettentür ganz hinten bis vorne zu den Panoramafenstern an der Straße. Die Passagiere auf dem Oberdeck des 149er-Bus schauen fasziniert hinunter. Der Wirbelwind entpuppt sich als Wanda Whatever, Dragqueen mit der Aufgabe, den sonntäglichen Brunch im Dalston Superstore (117 Kingsland Road) zu unterhalten. Das Lokal ist einer der beliebtesten Clubadressen für den Abend – und eine vegane Energieaufladestation am Morgen danach.

Wanda trägt einen Nasenring, ein schwarzes Kleid und einen Fächer, für sie scheint das Berliner Wort „Trümmertranse“ eher zuzutreffen als das von einer Schönheitskönigin wie Ru Paul. Sie legt „Ring my Bell“ auf, die Gäste bestellen brasilianische Bohnenteller, frischgepresste Säfte oder einen Cocktail zum Wachwerden. „Ein paar Tropfen Bloody Mary auf der Stirn helfen auch gegen Sonnenbrand“, ermuntert Wanda ihre Gäste.

Dann geht das Programm weiter. Eine Talentshow aus dem Publikum steht an, es finden sich drei Verrückte, jede muss mit wahllos zusammengestellten Utensilien (zwei Zitronen, ein Hula-Hoop-Reifen, ein Plastikflamingo) sein Können beweisen, die Masse zu unterhalten. „I’m scared but ready“, sagt ein Mädchen mit grüngefärbten Haaren. „Schatz, das trifft auf 70 Prozent meiner Existenz zu“, gurrt Wanda zurück.

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Entgegen aller Unkenrufe: Im Sommer gibt es selbst in London einige heiße Tage. Viele schwule Männer treffen sich dann am Hampstead Heath Men’s Pond zum Abkühlen. So etwas wie der Homo-Strand von London, perfekt, um Bademoden und Trainingsfortschritt vorzuführen. Gar nicht so weit weg liegt auch die bekannteste Cruising Area der Hauptstadt, also ein Ort für sehr ungezwungene Treffen. Schon wieder kommt einem George Michael in den Sinn. Er hat in der Nähe gewohnt und in Interviews ein Loblied auf die freizügige wie klassenlose Gesellschaft unter freiem Himmel gesungen. Die Demokratie lebt – wenigstens im Gebüsch von Hampstead Heath.

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Lange gab es keinen sichereren Ort für Homosexuelle als die Welt des Theaters. Auf der Bühne war exzentrisches Auftreten geradezu erwünscht. Noch heute gehört ein Besuch in den Theatern des West Ends zu einer LGBTQI-Tour dazu. Im Shaftesbury Theater läuft derzeit „& Juliet“, eine durchgeknallte Weiterführung des Shakespeare-Stoffs mit Pop-Hits von Katy Perry und Ariana Grande. Das Garrick Theater zeigt „The Drifter Girl“, ein Musical über die Musikmanagerin Faye Treadwell.

Im The Bloomsbury Hotel gibt es zu Pride einen Brunch - und schöne Zimmer zum Übernachten.
Im The Bloomsbury Hotel gibt es zu Pride einen Brunch - und schöne Zimmer zum Übernachten.

© The Bloomsbury

22 UHR
Aufgeheizt von den Melodien für Millionen? Entweder noch in der Royal Vauxhall Tavern (372 Kennington Lane) auf einen Drink vorbeischauen oder gleich zur Horse Meat Disco weiterziehen. Auf der Party am Sonntagabend rotiert die Discokugel, zu Klassikern aus den 70er und 80er Jahren, oft gemischt mit modernen Beats, tanzen alte und junge Männer, Bierbäuchige und Marathonschmale, Muskelpakete und Bürostuhlkleber. Vier DJ-Freunde gründeten die Party 2004 im Londoner Eagle (349 Kennington Lane), einem Pub mit Tanzfläche. Inzwischen ist die Party so groß, dass sie Ableger in Berlin hat und gelegentlich auf Festivals gastiert. Pints kommen in Plastikbechern, aber sonst kann man nicht meckern. Let the music play!

Reisetipps: Mit British Airways am Tag mehrmals ab 140 Euro hin und zurück fliegen. Übernachten im The Bloomsbury, nahe des Soho Square, Doppelzimmer ab 250 Euro pro Nacht. Am 2. Juli findet im Hotel anlässlich der Pride-Parade ein Brunch mit Livemusik statt, abends ein Cabaret in der Bloomsbury Club Bar, mehr unter doylecollection.com. Die Touren von Dragged Around London kann man unter draggedaroundlondon.com buchen. Die Reise wurde unterstützt von Visit Britain.

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