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Einmal rund um die Dominsel: Brandenburg an der Havel:

© Kitty Kleist-Heinrich

48 Stunden Brandenburg: Reichen 100 Euro für ein Wochenende in der kleinen Havelstadt?

Warm strahlen Kirchen und Gassen, als wandelte man durch einen Adventskalender. Die Pfannkuchen sind noch selbst gemacht und trotzdem ein Schnäppchen.

Kurzstrecke in die Kindheit

Wahnsinn. Andere steigen ins Flugzeug, um eine andere Welt zu erleben. Ich schaffe das per Kurzstrecke, in 40 Minuten vom Bahnhof Zoo nach Brandenburg an der Havel, für 10,40 Euro hin und zurück. So reise ich in eine ruhigere Welt und, völlig unerwartet, in meine Kindheit zurück. Die ich 458 Kilometer westlich, im Ruhrgebiet, verbrachte.

Sehnsucht nach Weideochsen

Ich hatte mich gerüstet für das schmale Reisebudget. Mit Zwerg-Cabanossi, Lakritz und Stullen. Walnussbrot mit Rügener Leberwurst, sparen heißt nicht darben. Am Ende wird sich herausstellen, dass ich zu knausrig gelebt habe. Ich hätte gut noch ein Fischbrötchen in der Bude am Mühlendamm essen oder in der Teestube vis-à-vis ein paar Pralinchen knabbern können. Macht nichts, ich hab mich dort auch so vergnügt, beim Rumstöbern in dem Lädchen mit all den Kännchen und Schälchen. Konsumfasten tut mal ganz gut.

Nur einmal, beim Blick durch die Fenster des Inspektorenhauses am Altstädtischen Rathaus ins behaglich moderne Innere hatte ich das Gefühl, ich muss mir was verkneifen. Zu gern hätte ich dort die geschmorten Brandenburger Weideochsenbäckchen auf Karottenschnee verspeist. 23,90 Euro. Nächstes Mal.

Romantisch im Dunkeln

Stattdessen rieselt jetzt echter Schnee vom Himmel. Eisig ist’s. Zum Aufwärmen gehe ich in die große Stadtbücherei nebenan, labe mich im Sessel an geistigem Futter. Kostnix. So lese ich von Walter Benjamins Liebe zum Bratapfel, den er als kleiner Junge zum Frühstück bekam. Allein der Gedanke an den schaumigen Duft transportierte ihn in seine Kindheit zurück. Im Bratapfel, der den Knaben mit dem Winter und dem frühen Aufstehen versöhnte, schmeckte er „die Geborgenheit der Wohnung, den Geruch der Schubladen und der Kommoden, meine Kinderstube, die Wärme des Ofens“. Das alles erfahre ich aus der Zeitschrift „Sinn und Form“. Die steht hier neben der „Super Illu“ und über der „Tina“.

Die meisten Berliner kennen das Städtchen an der Havel nur von sommerlichen Ausflügen, meist per Fahrrad oder Boot. Schön dumm. Im Winter muss man die Stadt nicht mit Touristenhorden teilen, und dass es so früh dunkel wird, macht gar nichts, es erhöht nur den Charme. Die alten Häuser und Gassen, die Kirchen und Promenaden, ja selbst die weniger ansehnlichen Ecken wirken noch romantischer im sanften Licht der Laternen. Es ist, als würde man durch einen Adventskalender wandeln. Oder durch eine Filmkulisse, der das Kulissenhafte fehlt, denn im ganzen Zentrum leben Menschen. Und der rote Backstein verleiht dem Ort selbst bei Tiefkühltemperaturen etwas Warmes.

Fremdenfreundlich

Es ist mein zweiter Besuch in der Stadt, der erste liegt knapp 30 Jahre zurück. Ein Tagesausflug im Sommer 1989, alle Details vergessen. Nur daran erinnere ich mich: dass man trotz des Verfalls erkennen konnte, was für ein schöner Ort es war. Und dass das Gasthaus garstig war, in puncto Atmosphäre und Angebot.

Umso fremdenfreundlicher gibt sich Brandenburg heute. Das beginnt mit den Schildern, die die Richtung zu den Highlights weisen samt der Minuten, die man als Fußgänger dorthin braucht. Es geht weiter mit anschaulichen Stadtplänen, auf denen Spielplätze eingezeichnet sind, und hört mit den Öffnungszeiten der Touristeninfo noch nicht auf: werktags bis 20 Uhr.

Hier kriegt man für 8,50 Euro die 48 Stunden gültige Tourist Card, mit der das Sparen zum Vergnügen wird. Damit spaziert man zum Beispiel, ohne Eintritt zu zahlen, im Archäologischen Landesmuseum durch 130 000 Jahre Kulturgeschichte, was sich allein wegen des Ortes, des Pauli-Klosters lohnt. Der Mann an der Kasse ist so begeistert von den bebilderten Eintrittskarten, dass er mir noch ein paar als Lesezeichen schenkt.

Kino ohne Werbung

Dank der Tourist Card kann ich auch hemmungslos mit der Tram in der Stadt herumfahren und mich dabei aufwärmen. Oder von anderen Vergünstigungen profitieren. So bekomme ich auf die 6,45 Euro für die Kartoffelpuffer mit Apfelmus im gemütlichen „Kartoffelkäfer“ noch zehn Prozent Rabatt. Danach zahle ich im mehrfach ausgezeichneten Programmkino des Fontane-Kultur-Klubs dank der Card nur vier statt der üblichen fünf Euro. Vier Euro! Um in einem roten Sessel zu versinken und den wackeren Landrat im Spielfilm „Wackersdorf“ zu bewundern. Sogar ohne vorher Werbung über mich ergehen zu lassen.

Drei Mal Altstadt

Beschwingt schlendere ich übers Kopfsteinpflaster in besagtem romantischen Licht nach Hause, vorbei an Renaissance, Barock und Mittelalter, schnuppere in einige der vielen Höfe hinein. Berlin wäre ja schon froh, wenn es eine echte Altstadt hätte. In Brandenburg an der Havel haben sie gleich drei: Neustadt, Altstadt und Dominsel, ursprünglich jede eine Gemeinde für sich. Und während sie in Berlin die neuen Fassaden auf historisch trimmen, sind die Häuser hier oft noch ein paar Jahrhunderte älter, als sie von außen erscheinen. 18. Jahrhundert? Nee, Mittelalter. Brandenburg hatte Glück. Im Krieg kaum zerstört, ließ die DDR die Altbauten zwar verfallen, aber riss wenig ab; und nach der Wende wurde der Ort ein Modellprojekt der Sanierung.

Am Backstein-Rathaus mit seinem riesigen Roland vorbei – reinstes 15. Jahrhundert – gelange ich zur ruhigen Altstadt-Pension. Fast dachte ich, dass diese Form der Herberge vor lauter Hostels und Airbnb schon ausgestorben sei. Doch in Brandenburg findet man noch Pensionen im Dutzend, die Namen wie Birnbaum, Neue Mühle und Alter Speicher tragen.

Das Haus links von meiner Pension steht leer. Es gibt etliche verlassene Gebäude im Zentrum, die darauf warten, reanimiert zu werden, ein ganzes Kaufhaus sogar, von einem Pelzladen ist bloß noch die schöne Schreibschrift geblieben. Mit der einstigen Industrie- und Garnisonsstadt, die nach der Wende 30 000 Einwohner verlor, ging es in den vergangenen Jahren bergauf, die Bundesgartenschau hat ihr Auftrieb verliehen und Neubauten beschert, die Stadt wurde Hochschul- und Gesundheitsstandort, die Regierung ist stabil. Aber vollendet ist der Aufschwung noch nicht. Das wird bald kommen, denke ich, als ich im Schaufenster eines Maklers die Angebote lese, die Berliner rot werden lassen vor Neid. Darunter eine historische Schule, 17 Zimmer, neun Bäder, 438 Quadratmeter, original Holzboden für 610 000 Euro. Schon jetzt pendeln 21 000 Menschen jeden Tag entweder rein oder raus. Und die Stadt hat nur 72 000 Einwohner.

Loriot’sche Möpse

Beim Frühstück am nächsten Morgen – Sattessen auf Vorrat – wandern die Gedanken beim Aufklopfen des hartgekochten Eis unvermeidlich zu Loriot. Der gebürtige Brandenburger wurde gleich um die Ecke, in der St. Gotthardtkirche, getauft. Auf den Komiker und Ehrenbürger ist man in der Stadt mächtig stolz. Vor der Kirche sitzt einer der vielen Loriot’schen Waldmopsfiguren, die man in der ganzen Stadt entdeckt. Mal hocken sie, mal pinkeln sie.

An Gotteshäusern, deren Türen auch im Winter geöffnet sind, herrscht in Brandenburg kein Mangel. Was sie so malerisch macht, sind die Plätze, auf denen sie stehen. Umringt von historischen Häusern, wirken sie wie Enklaven. Die berühmteste ist der Dom, doch die größte, mit goldenem Kronleuchter und bemalten Decken, ist die St. Katharinenkirche. „Eine sehr schöne Kirsche“ hat ein Norweger ins Gästebuch geschrieben.

Wow! Mein Ruhrgebietsherz schlägt höher

Spaziergänger an der Jahrtausendbrücke: Die im Sommer überfüllten Treppenanlagen liegen im Winter verwaist.
Spaziergänger an der Jahrtausendbrücke: Die im Sommer überfüllten Treppenanlagen liegen im Winter verwaist.

© Kitty Kleist-Heinrich

Götterfunken

Plötzlich, mitten in der Stadt, am Mühlendamm, stehe ich an einer Art See mit Schilf. In Brandenburg führen alle Wege zum Wasser, das fast ein Fünftel der Stadtfläche bedeckt. Und das für Spaziergänger im Winter seinen eigenen stillen Reiz hat.

Verwaist liegen die im Sommer überfüllten Treppenanlagen an der Jahrtausendbrücke da, ich flüchte ins winzige Brückencafé, wo die junge Bedienung mir eine frische warme Waffel mit Kirschgrütze und Sahne serviert, während ich die Zeitung lese – gratis – und an unsere Kindheitsausflüge ins Bergische Land zurückdenke, die immer mit Waffeln endeten. Von draußen weht ein Glockenspiel herein: „Freude schöner Götterfunken“.

Pfannkuchen wie früher

Sweet memories, zum zweiten. Der Pfannkuchen in der Konditorei Rettig – „seit 1932“ –, sieht original so aus wie jene Berliner, die unsere Mutter uns zum Karneval frittierte, klein und braun, keiner wie der andere, alle mit Pflaumenmus gefüllt. Mit einer Tasse Kaffee ein 2,30-Euro-Glück. Der Zucker kracht beim Reinbeißen. Eine Frau betritt den Laden in der Bäckerstraße, holt ein Dutzend Pfannkuchen im Karton ab. Danach ein Mann: drei Pfannkuchen mit Guss. Wieder eine Frau: 16. So geht es den ganzen Tag, das ganze Jahr, erzählt die Verkäuferin, weil sich sonst niemand mehr die Mühe macht, Pfannkuchen von Hand zu backen, wie hier, in der Backstube. Für die Kollegen nehme ich noch zwei Tüten Spritzgebäck und Bärentatzen mit. Geschmack: original früher.

Häuser wie Pfannkuchen

Wieder draußen, kommen mir auch die Häuser wie Pfannkuchen vor – keins wie das andere. Altrosa oder hellgelb, zartgrün oder blau, mit Fensterläden und Gauben oder ohne, stattlich oder geduckt. Das Stadtmuseum ist in einem barocken Palais untergebracht, das Highlight dort: historisches Spielzeug, made in Brandenburg, aus Blech und Lineol. Wackelenten und Springfrösche, „Selbstfahrer-Heini“ und „Messe-Onkel“, mit kariertem Mantel, Hut und Koffer, dazu Indianer und Kamel. Ein Kindheitsparadies. Nicht nur süße Erinnerung. Mit der Spielzeugproduktion war es nach der Wende vorbei.

Im Museum erfahre ich auch, dass es um 1800 in Brandenburg 37 Bäcker, 55 Schneider und 79 Schuster gab. Sind die Leute alle so viel zu Fuß gegangen wie ich? Jetzt nehme ich die Straßenbahn Nummer 2, fahre an dem zum Hochschulcampus umfunktionierten Kasernengelände vorbei zum Industriemuseum. 10 000 Menschen haben mal im größten Stahlwerk der DDR geschuftet, darunter Manfred Krug, der hier Schweißer gelernt hat.

1000 Grad und trotzdem kalt

Wow! Und noch mal wow. Mein Ruhrgebietsherz schlägt höher. Gewaltig, von innen wie von außen, wirkt die Industrieanlage, riesengroß und eisekalt. Der blaue Kittel, den ich beim Besuch überziehe – der dank der Tourist Card nichts extra kostet –, wärmt nicht, schützt nur vor Dreck. Im Laboratorium riecht es noch nach Arbeit, im Spind stehen Stiefel und Klopapier Marke DDR bereit. Die vielen Wannen, voll mit Schrott, wirken wie eine Kunstinstallation.

Eisig ist es hier immer gewesen. Bei 1000 Grad wurde der Stahl zwar geschmolzen, aber der Ofen strahlte keine Wärme ab, und die Tore standen immer offen, erzählt Frau Carmen. Die Besucherbetreuerin berichtet von ihrer aktiven Zeit, erst als Kranführerin („det war nich meins“), dann als Kontrolleurin im Vier-Schicht-Betrieb, von der Hetze mit dem Kind. Das unter der Woche im Werk übernachten konnte, am Wochenende musste die Familie einspringen. Mit vier blieb die Kleine schon nachts allein zu Hause, „wir hatten nette Nachbarn“.

Discounter-Charme

Mist. Die Straßenbahn fährt gerade weg, die nächste kommt erst in einer halben Stunde. An der trostlosen Haltestelle ist mir das Warten zu ungemütlich, ich suche vergeblich nach einem netten Café, tröste mich mit dem NP Discounter.

Brandenburg to go

Vor der Rückfahrt Kassensturz. Zu viel gespart. Also kaufe ich im Bahnhofsladen „Brandenburg to go“ noch ein Reclamheftchen Loriot. Erst hinterher stelle ich fest: falsch gerechnet. Ich hatte mir nämlich Tickets mit Ermäßigungstarif gezogen, wegen meiner Bahn Card. Die gilt hier aber nicht. Das war der Kindertarif. Freudscher Vertipper am Automaten. Nicht zur Nachahmung empfohlen!

Zurück im Berliner Alltag, mache ich eine merkwürdige Entdeckung: Nach Brandenburg fahren, heißt sparen! In einer Confiserie in Steglitz sehe ich 100 Gramm Spritzgebäck für 3,25 Euro, das nur halb so zart ist wie das von Norbert Rettig. Im KaDeWe stoße ich auf Deluxe-Müsli für 9,95 und Elbling von Proschwitz für 16,99 Euro – die man beide auch im Weinladen Belmondo am Neustädtischen Markt bekommt, für 6,90 bzw. 12,90 Euro. Man muss nur ein paar Einkäufe machen, schon hat man die Reisekosten raus. Und kriegt an der Kasse noch ein buttriges Karamellbonbon geschenkt.

Reisetipps für Brandenburg

Hinkommen

Am einfachsten mit der Bahn, je nach Verbindung ab Berlin Zoologischer Garten 40 oder 50 Minuten. Ohne Ermäßigung 13,80 Euro. Vom Bahnhof kann man in die Stadt laufen. Ganz Sparsame strampeln über den Havel-Radweg.

Unterkommen

Altstadtpension, Mühlentorstraße 56, Übernachtung ab 40 Euro, altstadtpension-brandenburg.de.

Rathaus-Pension 1865, Plauer Str. 13, die Nacht ab 35 Euro, rathauspension1685.de.

Rumkommen

Die 48 Stunden gültige Tourist Card für 8,50 Euro lohnt sich. Kaufen kann man sie in der Touristen-Info am Neustädtischen Markt, aber auch zum Beispiel in der Altstadtpension. erlebnis-brandenburg.de.

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