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Sigmar Gabriel kennt die Vorbehalte, er weiß um alle Risiken – für sich und seine Partei.

© Nietfeld/dpa

Geheimtreffen in Düsseldorf: Wird Sigmar Gabriel der SPD-Kanzlerkandidat?

Er sagt es selbst: Die einen finden ihn toll, die anderen fürchterlich. Dazwischen gibt es nichts. Am Dienstag steht SPD-Chef Sigmar Gabriel vor der schwersten Entscheidung seines Lebens.

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Eine Kämpfernatur, durchsetzungsstark und risikofreudig. Ein politisches Tier, ausgestattet mit einem untrüglichen Instinkt für Themen und die Schwächen des Gegners. Einer, dessen Herz für die kleinen Leute schlägt, auch wenn er selbst in höchsten Ämtern angekommen ist. Der jeden im Saal mitreißen kann, eine Sprache spricht, die viele sofort verstehen. Das größte politische Talent seiner Generation.

Ein Mann, der vielen vieles verspricht und damit viele enttäuscht. Einer, der die Linie nicht halten kann, ständig neue Ideen in die Welt setzt und später von seinen Lieblingsprojekten nichts mehr wissen will. Der für Mitarbeiter eine Zumutung ist, weil er launisch und ruppig sein kann. Und den viele für nicht verlässlich halten, auch wenn sie ihn nur aus dem Fernsehen kennen.

Sigmar Hartmut Gabriel, Wirtschaftsminister, SPD-Vorsitzender, Vizekanzler. Vor allem aber: ein Mann der Widersprüche. Einer, an dem sich die Geister scheiden, wie er selbst vor wenigen Wochen gesagt hat: „Wenn man zehn Leute fragt, dann sagen fünf Leute: ein Supertyp. Und fünf Leute sagen: ein Riesenarschloch. Ich scheine zu polarisieren. Entweder Leute finden mich gut oder richtig fürchterlich. Daran hat sich eigentlich in den letzten zehn Jahren nichts geändert.

„Supertyp“ - oder „Riesenarschloch“

Der „Supertyp“, das „Riesenarschloch“, die Kämpfernatur oder der unsichere Kantonist – wie auch immer man zu Sigmar Gabriel steht: Er wird womöglich schon bald Spitzenkandidat der SPD für die Bundestagswahl. Das Kanzleramt als Sozialdemokrat führen. Nach Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder, um nichts weniger geht es.

Die Entscheidung könnte schon am Dienstag fallen, wenn sich die engere SPD-Führung in Düsseldorf trifft, um streng vertraulich über die Aufstellung der Partei im Wahljahr zu beraten. Offiziell gekürt werden soll der Kandidat erst Ende Januar bei einer Klausurtagung des Vorstandes.

Die Frage ist nur, ob Sigmar Gabriel diese Herausforderung wirklich will. Der Mann, der die SPD länger führt als jeder andere Vorsitzende nach Willy Brandt, steht vor der schwersten Entscheidung seines politischen Lebens. Gabriel weiß: Bei Umfragewerten von wenig mehr als 20 Prozent für die SPD kann die Kanzlerkandidatur für ihn in einem Desaster enden. Er liefe Gefahr, am Ende nicht als Bundeskanzler gefeiert zu werden, sondern als Verantwortlicher für eine historische Niederlage abtreten zu müssen.

Andererseits: Hat Gabriel überhaupt eine Wahl?

Um zu verstehen, unter welchem Druck der 57-Jährige steht, muss man wissen, wie sehr er am Amt des Parteivorsitzenden hängt. Die SPD war für Gabriel nie nur ein Vehikel seines Aufstiegs- und Machtwillens. Wenn er über die älteste deutsche Partei spricht, geht es schnell um ganz große Gefühle. Dann wird deutlich, wie stolz er ist, die Sozialdemokratie zu führen. Und wie sehr er zugleich unter der SPD leidet.

Die Partei der kleinen Leute, dieser zentralen Idee ist Gabriel immer treu geblieben. Für diese Idee steht er, sie ist sein politischer Kern. Gabriel glaubt, dass die SPD sich überflüssig macht, wenn ihre Funktionäre Verständnis und Empathie für Arbeiter, Handwerker und Angestellte verlieren – eine Entwicklung, die der Vorsitzende seit Jahren beklagt. Die Flüchtlingskrise hat er früh als Gefahr für die Sozialdemokraten begriffen. Mit Solidaritätsbekundungen allein, das ahnte er, würde sich die Partei von Teilen ihrer Anhänger entfernen.

Martin Schulz umarmt Sigmar Gabriel. Streng vertraulich will die SPD-Führung am Dienstag über ihren Kanzlerkandidaten beraten.
Martin Schulz umarmt Sigmar Gabriel. Streng vertraulich will die SPD-Führung am Dienstag über ihren Kanzlerkandidaten beraten.

© Bensch/Reuters

Ganz gezielt benutzt Gabriel deshalb scharfe Begriffe, die für eine Begrenzung von Zuwanderung und für Härte gegenüber dem Missbrauch von Gastfreundschaft stehen – etwa wenn er wie nun im „Spiegel“ fordert, salafistische Moscheen zu schließen und Hassprediger auszuweisen. Ein Teil der SPD- Funktionäre hält solche Töne für Populismus und wittert Verrat an sozialdemokratischen Werten.

Gabriel und seine SPD – das ist eine Beziehung voller Konflikte und gegenseitiger Kränkungen. Aber der Mann aus Goslar hat sein ganzes politisches Leben in die Sozialdemokratie investiert. Sie ist seine Heimat. Kann er sie aufgeben?

Weigert Gabriel sich, kommen Schulz oder Scholz

Das macht ihm die Entscheidung so schwer. Seine Karriere wäre über Nacht beendet, wenn er verzichten würde. Dass der Vorsitzende nach Peer Steinbrück bei der Bundestagswahl 2013 nun zum zweiten Mal einen anderen Kandidaten vorschiebt, würde ihm die SPD nicht durchgehen lassen. Den Parteivorsitz müsste der Verweigerer abgeben – an einen Kanzlerkandidaten Martin Schulz oder Olaf Scholz. Das hat ihm die Parteispitze klar- gemacht. „Er weiß, wenn er jetzt zurückzieht, ist er weg“, sagt ein einflussreicher Sozialdemokrat.

Dass Gabriel diesen Preis zu zahlen bereit ist, um der Kanzlerkandidatur auszuweichen – in der SPD-Führung glauben das wenige. Immer lauter ist in den vergangenen Wochen der Chor der Sozialdemokraten geworden, die ihn als den richtigen Kanzlerkandidaten und Wahlkämpfer preisen. Darunter Hannelore Kraft aus Nordrhein-Westfalen und etliche andere Ministerpräsidenten, DGB-Chef Rainer Hoffmann und der frühere SPD-Vorsitzende Franz Müntefering. Auch Altkanzler Gerhard Schröder hat Gabriel intern zur Kandidatur gedrängt. So mächtig ist die Gruppe der Fürsprecher, dass Gabriels Kandidatur unausweichlich erscheint. Und doch stellen Genossen bis in die Parteispitze hinein alles unter den „Gabriel-Vorbehalt“: „Vieles spricht dafür, dass er es macht. Aber hundertprozentig kann man es bei ihm nicht wissen.“

Gabriel und die K-Frage – das war und ist eine Geschichte voller Selbstzweifel, eine Geschichte des Zögerns und Zauderns. Immer wieder hat der Parteichef zuletzt Rat außerhalb der Partei gesucht. Auf seine Gesprächspartner machte er dabei nicht den Eindruck, als würde er die Kandidatur als Chance begreifen – im Gegenteil. Eingeweihte zeichnen das Bild eines Menschen, der mit einer Kandidatur hadert, sie im Grunde für aussichtslos hält und deshalb gar nicht antreten will. Eines Spitzenpolitikers, der sich nach außen kämpferisch gibt, aber insgeheim nach einem gesichtswahrenden Ausstieg sucht. Der seine Partei deshalb im Ungewissen lässt, seine Entscheidung ein ums andere Mal vertagt.

Die Zweifel treiben Gabriel nicht alleine um. Der öffentliche Zuspruch sozialdemokratischer Würdenträger passt schlecht zu den düsteren Prognosen, die in Partei und Bundestagsfraktion für den Fall abgegeben werden, dass der Parteichef tatsächlich antritt. Die Mutigeren unter den SPD-Granden haben es Gabriel auch mehr oder weniger deutlich gesagt: dass sie nicht glauben, dass er der Richtige sei, weil ihm die Glaubwürdigkeit fehle. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil brachte seine Bedenken ebenso zur Sprache wie Parteivize Thorsten Schäfer-Gümbel.

20-Prozent-Hürde für die SPD

In der Bundestagsfraktion bangen viele Abgeordnete um ihre Wiederwahl. Ihre Befürchtung: Mit Gabriel an der Spitze werde die SPD nicht über 20 Prozent hinauskommen, womöglich sogar darunter bleiben. Unter den Abgeordneten macht das Wort vom „Gabriel-Malus“ die Runde. Gemeint sind die schlechten Umfragewerte für Gabriel als Person.

Bei einer Direktwahl, so haben die Demoskopen ermittelt, würde Gabriel weit abgeschlagen hinter Bundeskanzlerin Angela Merkel landen. Nur 19 Prozent würden sich für den SPD-Chef entscheiden, 57 Prozent für Merkel, ergab der ARD-Deutschlandtrend im Dezember. Besonders bitter für Gabriel: In den Monaten zuvor hatte er fulminante Erfolge eingefahren, vom europäisch-kanadischen Handelsabkommen CETA über die Durchsetzung Frank-Walter Steinmeiers als Bundespräsidenten-Kandidat bis zur Rettung tausender Jobs bei Kaiser's Tengelmann.

Und dennoch blieb die Anerkennung aus. Im Dezember-Deutschlandtrend verlor Gabriel acht Prozentpunkte. Kann einer Kanzler werden, dem nur wenige das Amt anvertrauen wollen?

Gabriel wird, sollte er denn antreten, seiner Partei eine Antwort geben müssen, wie er Angela Merkel trotz aller Zweifel besiegen will. Und das in einer Zeit, in der die Persönlichkeit der Politiker für den Wahlausgang immer bestimmender wird. Über erste Ansätze hat Gabriel schon gesprochen, ohne sich damit auf die Kandidatur festzulegen. Er forderte eine Kampagne, bei der Inhalte und nicht Personen im Vordergrund stehen sollen. Ein „sichereres und gerechtes“ Deutschland sollen die Sozialdemokraten versprechen – und dafür Konzepte vorlegen. Und dann ist da natürlich noch Gabriels größtes Plus: seine Fähigkeit und sein Wille, zu kämpfen, wenn er sich einmal entschlossen hat.

Viel Zeit bleibt ihm nicht, auch wenn sein Plan die offizielle Kür erst für den 29. Januar vorsieht. Lange wollen sich die Genossen nicht mehr hinhalten lassen. Wenn sich die Spitze um Gabriel am Dienstag in einem Düsseldorfer Hotel trifft, müsse endlich klarwerden, was der Parteichef wirklich wolle, heißt es aus der SPD-Führung. Auch in der Fraktion wünschen sich viele Abgeordnete „genervt“ eine zügige Entscheidung. „Das Ganze hat uns lange genug geschadet“, sagt einer von ihnen.

In dieser Situation wird alles, was Gabriel bei der Sitzung in Düsseldorf sagt, tut oder unterlässt zur Botschaft. Zwar werde es dann noch keine klare Ansage geben, versichern Gabriels Vertraute im Willy-Brandt-Haus. Die Zusammenkunft diene alleine der Vorbereitung des Wahlkampfs und der Vorstandsklausur knapp drei Wochen später. Dennoch bieten sich Gabriel Möglichkeiten, die K-Frage indirekt zu beantworten. Tritt der Parteichef selbstbewusst auf, gibt Themen und Wahlkampfkonzepte vor, ohne Widerstand zu provozieren, werden das seine Gesprächspartner als Ankündigung verstehen.

Gabriel spricht offensiv von seiner Familie in Goslar - ein Zeichen?

Am Konferenztisch in Düsseldorf werden auch zwei Sozialdemokraten sitzen, die besonders gespannt sein dürften auf Gabriels Entscheidung: Martin Schulz, der scheidende Präsident des Europaparlaments, und Olaf Scholz, Bürgermeister von Hamburg. Schulz ist der Sozialdemokrat, auf den sich die Hoffnungen vieler Genossen richten, sollte Gabriel verzichten. Ein Herzens-Europäer, der Haltung zeigt, dennoch nicht abgehoben ist und außerdem noch gute Reden hält. Und dann seine Umfragewerte: fast doppelt so gut wie die des Parteichefs. Aber auch Scholz hat Unterstützer in der Spitze der Partei. Der Hamburger verkörpert wie wenige andere Verlässlichkeit und erscheint gerade deshalb manchen als geeigneter Herausforderer von Angela Merkel.

Das alles weiß Sigmar Gabriel. Er kennt die Vorbehalte, er weiß um alle Risiken – für sich und seine Partei. Es liegt jetzt in seiner Hand. Vor Weihnachten hat sich Gabriel einer Operation unterzogen – der Diabetiker soll sich den Magen verkleinern lassen haben. Wie häufig bei Gabriel gab es zweierlei Deutungen: Die einen in der SPD werteten den Eingriff als Zeichen dafür, dass Gabriel sich fit machen wolle für einen anstrengenden Wahlkampf. Die anderen wiesen darauf hin, Gabriel könne die Kandidatur nun ohne Gesichtsverlust ausschlagen und auf eine angegriffene Gesundheit verweisen.

Das Private ist politisch – das gilt für Gabriel vielleicht in besonderer Weise. Kaum ein anderer Spitzenpolitiker spricht öffentlich so häufig und leidenschaftlich über seine Familie in Goslar. Mag sein, dass die Offenheit auch dem Wunsch geschuldet ist, seinem Image als taktierendem Machtpolitiker etwas entgegenzusetzen. Wer ihn aber jemals im heimischen Garten erlebt hat, weiß, dass ihm die Familie noch mehr bedeutet als die SPD. Im Frühjahr erwartet Ehefrau Anke die zweite gemeinsame Tochter, wie Gabriel kürzlich stolz im „Stern“ verkündete. Und wieder wurde spekuliert: Spricht der Familienzuwachs in Goslar nun für oder gegen eine Kandidatur des glücklichen Vaters? Und wieder schien beides plausibel, und wieder gab Sigmar Gabriel keine Antwort.

Gerhard Schröder: „Du musst es wollen.“

Was muss einer mitbringen, um Kanzler zu werden? Vielleicht weiß das niemand besser als Gerhard Schröder. Der Mann, der früh am Zaun des Kanzleramtes rüttelte und später als Chef der ersten rot-grünen Koalition das Land regierte, sieben Jahre lang. Sigmar Gabriel war Schröders politisches Ziehkind und sein Nachfolger als Ministerpräsident in Hannover.

Neulich nannte der Ex-Kanzler bei einer Buchvorstellung Gabriel einen „demokratischen Populisten“ – und das war als großes Kompliment gemeint. Denn auch Schröder hielt sich immer viel darauf zugute, die einfachen Leute zu verstehen und ihnen eine Stimme zu geben – gerne auch gegen den Mainstream in der eigenen Partei. Wenn Schröder also jemandem aus der Parteiführung zutraut, die SPD voranzubringen, dann Gabriel. Nur eines kann der Alte nicht verstehen: Warum Gabriel zögert. Die wichtigste Voraussetzung für die Eroberung des Kanzleramts, so sagte er kürzlich einer Genossin, sei diese: „Du musst es wollen.“

Der Satz klingt wie ein Vorwurf an den zaudernden Ziehsohn. Ob er zutrifft? Vielleicht wird Sigmar Gabriel den Alt-Kanzler eines Besseren belehren. Am Dienstag an einem Konferenztisch in Düsseldorf hat er dazu alle Möglichkeiten.

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