zum Hauptinhalt
Kanzlerin Merkel erklärt US-Präsident Obama 2015 in Elmau die Welt.

© Michael Kappeler/AFP

G-20-Gipfel: Merkels Welt

Große Gipfel haben ihre eigenen Gesetze: Es geht um Macht und Interessen, aber auch um Eitelkeit und Ehrpusselei. Niemand weiß das besser für sich zu nutzen als die Kanzlerin.

Von Robert Birnbaum

Manche Mythen sind partout nicht auszurotten. „In ihren späten Jahren interessieren sich Bundeskanzler nur noch für die Außenpolitik“ – der Satz rutscht sogar Leuten leichthin auf die Tastatur, die es besser wissen müssten. Die Geschichte erzählt sich einfach so schön von der Nummer eins im Kanzleramt, die, vom Zwergenzank um Umsatzsteuersätze und Wohnbauförderungsrichtlinien angeödet, lieber durch die Welt gondelt. Und die bunten Bilder in der „Tagesschau“ illustrieren sie hübsch augenfällig. Man sah in letzter Zeit viele davon – Kanzlerin mit saudischen Scheichs, Kanzlerin mit Donald Trump, Kanzlerin mit Wladimir Putin. Trotzdem ist die Geschichte falsch. Kanzler flüchten sich nicht in die Außenpolitik. Sie kommt mit Macht zu ihnen.

Am 15. Januar 1998 gibt Angela Merkel im Bonner Bundestag ihre erste weltpolitische Regierungserklärung ab. Helmut Kohls Umweltministerin erstattet Bericht vom Klimagipfel im japanischen Kyoto. Das Drama jener Nacht vom 10. auf den 11. Dezember 1997 hat sie nie vergessen, inklusive des Tricks, mit dem die 150 Staatenvertreter das erste verbindliche Weltklimaprotokoll vor dem formalen Scheitern retteten: Um die Frist einzuhalten, stoppten sie die Uhr. Erst als im Morgengrauen alles vereinbart war, schoben sie die Zeiger über die Zwölf.

Globalisierung war bis vor kurzem noch ein Fremdwort

Interessanterweise fielen schon bei Merkels weltpolitischer Premiere die Stichworte, die bis heute den Rahmen deutscher Außenpolitik markieren: die Europäische Union als kleinste weltpolitisch wirksame Einheit, die Umweltpolitik als Musterfall eines Problems, das für jeden Nationalstaat zu groß ist, die Globalisierung als Herausforderung.

Beim Thema Europa konnte die Polit- Elevin aus der DDR an den Ziehvater anknüpfen. Auch dass sich Treibhausgase nicht um Grenzen scheren, hatte sich herumgesprochen. Aber Globalisierung war vor zwei Jahrzehnten ein junges Fremdwort. Wenn Kohl damals für eine ganze Woche nach Indien, Indonesien, Singapur, Japan und Südkorea reiste, hieß das „Asienoffensive“ und trug noch den behäbigen Charakter einer Handlungsreise: Deutsche Wertarbeit gefällig? Erst in Merkels Amtszeit fällt die Revolution der Datentechnik, die die alten Staaten endgültig ignoriert und ein weltweites Netz der Abhängigkeiten spinnt.

Was das für die deutsche Rolle bedeutet, sehen die draußen meist klarer. Als das „Time“-Magazin Merkel zur „Person des Jahres“ 2015 ernannte, löste das hierzulande teils Belustigung aus und teils Ärger, je nachdem, was man vom Agieren der Kanzlerin in der Finanz-, der Euro-, der Ukraine- oder der Flüchtlingskrise hielt. Die Redaktion in New York dachte aber in größeren Linien. Die Kanzlerin, hieß es in der Begründung, habe Deutschlands „große Stärke“ zum Bewahren eingesetzt, nicht zum Zerstören.

Von großer Stärke wollen die Deutschen nichts wissen

Von großer Stärke wollen viele Deutsche nach wie vor nichts wissen. Dabei liegt sie auf der Hand. Am Exportweltmeister kommt keiner vorbei, umgekehrt kann dem Exportland nicht egal sein, was in Japan, China oder auf den Rohstoffmärkten Afrikas passiert. Die Bundeswehr stellt aus der Außenansicht eine beachtliche Armee dar. Kurz: Wer die Zentralmacht des Kontinents regiert, ist für den Rest der Welt automatisch erster Ansprechpartner in Europa. Außenpolitik ist Kanzlerschicksal.

Das kann durchaus Spaß machen. Am Himmelfahrtstag war das zuletzt zu besichtigen vor dem Brandenburger Tor. Barack Obama musste nun wirklich nicht zum evangelischen Kirchentag kommen; aber seiner alten Freundin, „einer meiner liebsten Partner“, tat er gerne den Gefallen. Seit im Weißen Haus ein anderer regiert, wissen beide erst recht, was sie – nach rumpeligem Anfang – aneinander hatten. Merkel erlebte direkt danach in Brüssel und Taormina den Kontrast handgreiflich. Auch Obama hat mehr Geld von der Nato verlangt. Aber er hat keinen zur Seite gerempelt, er hat nicht rumgeprahlt, und er hat zugehört.

Tatsächlich spielt Persönliches in den weltweiten Beziehungen eine kaum zu überschätzende Rolle. Außenpolitik ist auch im Skype-Zeitalter eine Sache von Auge zu Auge, von Gipfel zu Gipfel: ein paar Politiker, wenige Berater, vorbereitete Papiere, in denen eckige Klammern die strittigen Worte kenntlich machen. So wird über Krieg und Frieden verhandelt oder über Fischereiquoten. Macht und Interessen stehen im Raum, aber immer auch Eitelkeit und Ehrpusselei, Ver- und Misstrauen – Menschelndes eben.

Trumps Feingefühl passt in 140 Zeichen

Merkel war auf dem Gebiet immer gut. Der Frau, die die Öffentlichkeit meist als etwas ungelenke Floskeltante erlebt, bescheinigen selbst politische Konkurrenten im kleinen Kreis Charme, Witz bis hin zur Frechheit und ein scharfes Auge für die kleinen Schwächen ihrer Gegenüber. Ihrem Dauer-Telefonpartner Wladimir Putin hat sie in der Ukraine-Krise ein persönliches Treffen erst gewährt, als der Friedensanlauf in Minsk das Entgegenkommen wert schien. Der russische Präsident ist ein kalkulierender Imperator und gerade deshalb empfänglich auch für kleine Symbole der Wertschätzung.

Donald Trumps Feingefühl passt in 140 Twitter-Zeichen zwischen „amazing“ und „bad“. Zuhören? Am liebsten sich selbst. So einen kriegt man, wenn überhaupt, nur bei seiner Gefall- und Gewinnsucht zu fassen. Merkel warf dem zur Weltmacht gekommenen Schulhofrüpel beim Antrittsbesuch in Washington ein paar strenge Gouvernantenblicke zu. Beim G-7-Gipfel hat sie versucht, ihm den Wert der weltweiten Zusammenarbeit als ökonomische Kosten-Nutzen- Rechnung schmackhaft zu machen.

Kleine Kniffe im Dienst großer Linien lernt man mit der Zeit auf internationaler Bühne – so wie die angehaltene Uhr, das Sitzfleisch, den Minutenschlaf in den Nachtsitzungen. Schwierige Entscheidungen fallen oft am Rande der Erschöpfung. Wahrscheinlich beruht mancher historische Kompromiss darauf, dass einer am Tisch endlich ins Bett wollte.

Der Gipfel gerät zum Déjà-vu

Das Hauptproblem mit der Weltpolitik ist, dass sich ihr Wert oft schwer erklären lässt. Die Steuerreform kann jeder im eigenen Portemonnaie nachzählen. Der Nutzen ziselierter Halbsätze in den Dokumenten von G-7- und G-20-Gipfeln erschließt sich nicht von selbst. Hinter Diplomatenkauderwelsch kann Fortschritt stecken oder verbrämter Fehlschlag. Außenpolitiker sind groß darin, noch im krachenden Scheitern das Fünkchen Hoffnung zu suchen für den nächsten Anlauf: Falls Trump den Weltklimavertrag kündigt – lässt sich auf dem Umweg über US-Bundesstaaten wie das Sonnenland Kalifornien manches retten?

Merkel und ihr kleiner Helferkreis beherrschen auch diese Technik längst im Schlaf. Sie dürften sie in Hamburg wieder brauchen. Für Merkel wird G 20 zum Déjà-vu. Das Thema ihres ersten Auftritts auf der Weltbühne hat sie nie losgelassen. Beim G-8-Gipfel in Heiligendamm 2007 luchste sie George W. Bush ein Grundsatzbekenntnis zum Klimaschutz ab. Beim G-7-Treffen vor zwei Jahren in Elmau unterschrieb Obama die Zielvorgabe einer Welt ohne Energie aus Kohle, Gas und Öl bis zum Jahr 2100. Diesmal geht es drei Jahrzehnte nach Kyoto wieder ganz von vorne los: Ja, Mr. President, es gibt einen Klimawandel; nein, keine Erfindung; doch, von Menschen gemacht. Weltpolitik heißt Frustration ertragen.

Merkels Macht fällt bescheiden aus

Aber aufgeben gilt nicht. Nicht für die Chefin des wichtigsten Landes in der wichtigsten Staatengemeinschaft der Gegenwart. Es steckt viel innenpolitisch motiviertes Wunschdenken darin, wenn die liberale US-Presse die Kanzlerin zum letzten Bollwerk des freien Westens erhebt. Seit ihrer Misstrauenserklärung im Bierzelt – „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei“ – wird sie in Washington, Boston und Los Angeles endgültig zur Jeanne d’Arc der eigenen Abwehrschlachten erklärt. Aber noch in der Übertreibung zeigt sich zugleich das Staunen über dieses unglaublich stabile, wohlhabende, starke Deutschland.

Merkels reale Weltmacht fällt bescheidener aus. Den Willen aufzwingen kann sie keinem. Sie kann nur so geschickt wie möglich immer neu das komplizierte Spiel der Interessen und Balancen spielen. Jeder Regierungswechsel, jede Krise, jede Erfindung verändert die Koordinaten der Welt. Merkel kennt das ja besser als fast alle. Vom ersten G-20-Gipfel auf Ebene der Staats- und Regierungschefs in Washington 2008 ist außer ihr nur noch Recep Tayyip Erdogan dabei. Der war damals ein hoffnungsvoller Ministerpräsident, der von der Türkei als Brücke zwischen Orient und Westen sprach. Heute schmust er mit Putin und dröhnt allen anderen die Ohren voll. Aber man kann sich seine Partner da draußen nicht aussuchen. Das Spiel geht weiter, mal ein Sieg, mal eine Niederlage – ohne Ende.

Zur Startseite