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Aline von Drateln, Mutter vom Kollwitzplatz.

© Christobal

Für immer die NEUE (1): Blut ist dicker als Wasser? Deshalb schwimmen wir noch lange nicht im gleichen Virenpool!

Corona ist die Zerreißprobe für jede Patchwork-Familie: Das Virus kennt keine Moral. Es zwingt Familien, Grenzen zu ziehen. Wer gehört zu wem?

Corona hat es gewagt, die unverschämte Frage zu stellen: Wo fängt Familie an und bei wem hört sie auf? Alleinerziehende, Halbgeschwister, Getrennte und Verliebte mussten sich plötzlich positionieren. Wer gehört zu wem? Die Frage ist so intim, dass viele sich nicht einmal trauen, sie sich selbst zu stellen.

Dem Virus war die Antwort egal. Es kennt keine Moral. Blut ist vielleicht dicker als Wasser, aber deshalb schwimmen wir nicht automatisch im gleichen Virenpool.

Über Wochen war Gruppenbildung verboten. Familien bildeten selbstverständlich die Ausnahme. Aber wer zu welchem „Haushalt“ zählt, hat die Gesetzgebung nicht bestimmt. Und so mussten Millionen von Patchworkfamilien plötzlich Antworten geben.

Wir sind Familie – und Du nicht

Corona ist der Täter und alle, die von grenzenlosen Liebesbeziehungen träumen, sind die Opfer. Es ist so leicht zu sagen: Wir sind alle eine große Familie. Und so schön. In der Theorie.

Aber plötzlich mussten Grenzen gezogen werden: Wir sind Familie – und Du nicht. Wer will das laut aussprechen? Der Bote wird immer geköpft. Nicht: Der letzte macht die Tür zu. Sondern: Wer die Tür zumacht, ist das Letzte. Unter Corona war die Wohnungstür härter als die Tür vom Berghain.

Du kommst hier nicht rein: Während des Lockdowns war die Wohnungstür härter als die vom Berghain.
Du kommst hier nicht rein: Während des Lockdowns war die Wohnungstür härter als die vom Berghain.

© imago/Steinach

Dass ich Teil einer Patchworkfamilie werden würde, wusste ich nicht, als ich meinen Mann kennenlernte. Es war Berlin 2000, ich war jung und verliebt und er war schon älter und auch verliebt, leider nicht nur in mich, sondern auch noch in seine Freundin, von der ich nichts wusste und die von mir nichts wusste.

Während er noch überlegte, passierte es

Denn es ist ja nunmal so, dass man nach acht Jahren Beziehung dem Partner keine SMS aus der Uni schickt: „Krass, ich glaub’ ich habe gerade die Frau fürs Leben gefunden. Muss sie aber natürlich erst mal richtig kennenlernen. Küsschensmiley!“ Und während er noch überlegte, wer besser passt, passierte es.

Dass sie schwanger ist, erzählte sie ihm an dem Tag, als er ihr sagte, dass er eine andere kennengelernt hat und sich trennen will. Dass sie sich auch trennen will, das aber ja nun nicht geht, erzählte sie daraufhin ihm. Mir erzählte er einen Tag später, dass er Vater wird. Da waren wir schon fast ein Vierteljahr zusammen. Und so kam es, dass ziemlich genau an unserem Jahrestag seine Ex-Freundin anrief und sagte: „Komm in die Klinik, unser Kind kommt.“

Ich war vor meiner Stieftochter da

Wir drei sind also zur Patchworkfamilie gekommen wie die Jungfrau zum Kinde. In die Klinik wurde ich nicht eingeladen. Genauso wenig wie zur Abifeier, die das Kind vor wenigen Wochen hatte.

Was in den 19 Jahren dazwischen passiert ist, zählt für Coronas strenge VIP-Listen nicht.

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Ich war von Anfang an im Leben meiner Stieftochter. Eine peinliche Situation, in der ich als die neue Freundin ihres Vaters vorgestellt werden musste, hatte es bei uns nicht geben müssen. Denn ich war ja schon vor ihr da. Die ersten Jahre lebte sie fast die Hälfte der Zeit bei uns, ab Beginn der Schulzeit jedes zweite Wochenende. An der Seite ihres Vaters war ich gesetzt. Und als wir ihre beiden Halbgeschwister bekamen, war sie die große Schwester.

Immer fehlt eine – oder eine ist zu viel

Zwei Begleitpersonen waren bei der Abiturfeier erlaubt. Mehr nicht. Das Kind wünschte sich ihren Vater und ihre Mutter. Eins und zwei. Drei sind eine zu viel. Dieses Mal schloss sich die Corona-Tür vor mir. Ich war draußen. Und so saßen mein Mann, der Vater meines Sohnes, meiner Tochter und meiner Stieftochter, an einem verregneten Tag im Juni paarweise mit seiner Ex auf einem Stuhl im Schulhof, in zwei Meter Abstand von den anderen Zweiergruppen. Der Abstand zu mir war unermesslich.

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Als ich abends die Fotos sah, ging ich auf Distanz. Da saßen Vater, Mutter, Kind. Ohne halb und neu. Eine in sich geschlossene Familie. Während in der Familie, die ich mit ihm habe, immer eine fehlt oder eine zu viel ist. Meine Tür darf ich nur anlehnen.

Ich hasse meine Situation

Meine Gefühle ließ ich raus. Ziemlich laut sogar. Und dann wurde mir klar, dass ich nicht auf den Mann wütend bin, auf seine Ex oder auf deren gemeinsames Kind. „Ich hasse meine Situation.“

Die Abiturfeier meiner Stieftochter war unsere Reifeprüfung. Ehrlichkeit die Zulassung. Ich glaube, zusammen haben wir sie bestanden. Sicher nicht mit einer glatten Eins. Das Ergebnis steht noch aus.

Die beste Stiefmutter der Welt? Aline von Drateln hält sich längst für gescheitert.
Die beste Stiefmutter der Welt? Aline von Drateln hält sich längst für gescheitert.

© Christobal

Aline von Drateln, selbst Scheidungskind, wuchs mit Mutter, Stiefvater und insgesamt vier Schwestern und Halbschwestern auf. Mit 24 wurde sie unerwartet Stiefmutter, als ihr heutiger Ehemann neun Monate nach ihrem Kennenlernen ein Kind von seiner Ex bekam. Mittlerweile haben sie noch zwei gemeinsame Kinder.

Alle 14 Tage erzählt sie im Tagesspiegel von der Zerreißprobe Patchwork: Wie es sich anfühlt, ein Leben lang „die Neue“ zu sein, weshalb sie daran gescheitert ist, die beste Stiefmutter der Welt sein zu wollen und sich wundert, dass es zwar „Familienväter“ gibt, aber keine „Familienmütter“.

Aline von Drateln

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